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Kiara
15:23 Uhr

Ich sitze im Auto, während Manuel noch draußen auf und ab läuft, telefoniert und raucht. Er hatte mir vorhin gesagt, dass er vor unsere Reise nach Mexiko noch einiges zu erledigen hätte und wahrscheinlich morgen und übermorgen nicht hier im Club sein wird.

Julio würde aber kommen und die Stellung bewahren.

Ich habe ihn nicht gefragt, was er vorhat. Zum einen, weil ich denke, dass er es mir sagen würde, wenn er könnte und dürfte und zum anderen, weil ich es eigentlich auch gar nicht so genau wissen will.
Das, was ich in den letzten Wochen erfahren habe, reicht mir fürs Erste. Ich verstehe ihn und ich akzeptiere das, aber trotzdem ist es komisch. Es ist eine andere Welt; eine Welt, die ich eigentlich nie kennenlernen wollte.

Ich wollte die Favelas verlassen, um genau diesem Leben zu entfliehen und irgendwie bin ich jetzt mittendrin.

Nachdenklich schaue ich ihm zu, wie er wild diskutiert und das ein oder andere Machtwort spricht, bevor er den letzten Rauch auspustet und die Zigarette auf den Boden schnipst. Er tritt im Vorbeigehen kurz drauf, dann setzt er sich zu mir ins Auto, nachdem er das Handy elegant in der Anzughose verschwinden lassen hat.

"Sorry. Jetzt wo meine Leute wissen, dass ich von Donnerstag bis Sonntag in Mexiko bin, kommt plötzlich jeder an und will was von mir.", beschwert er sich genervt und startet dann den Wagen.

"Bist du denn in Mexiko nicht erreichbar?", frage ich ihn, während wir vom Hof fahren.

"Doch. Doch bin ich. Aber ich arbeite nicht in dem Umfang, wie ich es sonst tue. Wir werden viel mit der Familie machen, deshalb wird mir kaum Zeit bleiben, um richtig zu arbeiten.", erklärt er mir.

"Ich denke, dass es gut ist, wenn du für diese Zeit die Arbeit hinten anstellst.", stimme ich ihm zu.

Er lacht leise.
"Du kennst mich gerade ein paar Wochen und sagst mir jetzt schon indirekt, dass ich zu viel arbeite? Baby, das ist noch gar nichts. Das schwöre ich dir."

Das ist noch gar nichts?
Ich habe eher das Gefühl gehabt, als sei es im Moment eine extrem stressige Phase, die nach zwei, drei Wochen wieder abklingt. Aber anscheinend ist es im Moment eher ruhig?

"Das soll ruhig sein?", murmel ich fragend und schaue zu ihm herüber.

"Ja. Es ist etwas ruhiger als sonst. Trotzdem habe ich viel zu tun. In den letzten Wochen habe ich nur nicht ganz so hart gearbeitet und es etwas ruhiger angehen lassen.", seufzst er.

Dann ist es ruhig im Auto.

Keine Musik.

Nur das leise Summen des Motors.

"Hör zu.", beginnt er schweren Herzens.

Sein raue und niedergeschlagene Stimme, lassen mein Herz panisch schneller schlagen. Was will er mir jetzt sagen?

"Ich muss morgen nach Kolumbien. Nicht lange, wirklich nicht. Es geht um die Sache mit dem Polizisten. Leider muss ich das geregelt haben, bevor wir nach Mexiko fliegen."

Mein Hals zieht sich zusammen, während ich helle Punkte vor den Augen sehe.
"Okay.", hauche ich mit unwohlem Gefühl und versuche meinen Puls zu beruhigen.

"Tut mir Leid.", entschuldigt er sich.

"Es ist dein Job, also alles gut.", versuche ich mich selber zu beruhigen.

"Ich bin Mittwoch Morgen wieder da. Dann habe ich noch was zu erledigen und Abends hole ich dich ab.", teilt er mir seine Pläne mit.

"Was hast du denn noch zu erledigen?", bringe ich resigniert über die Lippen.

"Was Geschäftliches.", wimmelt er mich fast schon ab.

Was Geschäftliches. Also etwas, was er mir nicht sagen kann.

"Kiara, sei nicht so. Ich suche mir das nicht aus. Es gibt bestimmte Dinge, die ich regeln muss.", versucht er eine Antwort von mir zu kriegen.

"Ich weiß. Aber du musst verstehen, dass das neu für mich ist und ich das nicht einfach so hinnehmen kann. Also ich nehme das schon hin, aber ich das ist für mich keine Gewohnheit. Ich- Ich kann mir nichts unter deinen geschäftlichen Terminen vorstellen, das macht es schwer.", seufze ich und fühle mich auf der Stelle schlecht, weil ich wieder mit dem Thema anfange, obwohl wir es gestern erst besprochen haben.

"Das verstehe ich. Wirklich. Aber ihm Gegenzug musst du verstehen, dass ich niemals in Gefahr bringen werde. Und dazu gehört nun mal, dass ich dir einige Sachen nicht sagen kann."

Seine Worte ergeben Sinn - das tun sie wirklich.
Aber trotzdem ist es schwer.

"Gib mir Zeit, okay?", verlange ich abschließend von ihm.

"So viel, wie du benötigst.", akzeptiert er meine Aussage.

Ich lege meinen Kopf erschöpft an den Sitz und schaue aus dem Seitenfenster. Über den Wolkenkratzern von Sao Paulo steht die Sonne hoch und lässt sie so glitzernd scheinen, dass es aussieht, als würden sie unter der Hitze schmelzen.

Wie dunkle Schokolade in der Sonne.

Ich bin ihm dankbar, dass er mir die Kontrolle in dieser schwierigen Situation gibt. Und ich bin ihm dankbar, dass er mich auf den Boden der Tatsachen zurückholt und mir den Freiraum gibt, den ich benötige, um klare Entscheidungen zu treffen.

Manuel ist ein Mann, für den jede Frau ihre Prinzipien über Bord werfen würde. Und ich bin mir sicher, dass es viele Frauen gibt, die dies bereits getan haben.

Und gestern wäre ich auch fast eine von ihnen geworden.

Aber Manuel hat einen klaren Kopf behalten und mich herunter gebracht.

Seine Lippen schmecken köstlich.
Leicht nach Marlboro und etwas stärker nach Mentholbonbons.

Und hin und wieder nach einem Hauch Rum.

Zu gerne hätte ich gewusst, nach was sie gestern geschmeckt haben.

Vermutlich hätte der scharfe Vodka, den er einige Stunden zuvor getrunken hat, auf meinen rissigen Lippen gebrannt, aber vermutlich hätte mich auch genau dieser Schmerz in einen Rausch versetzt.

Ein bittersüßer Schmerz, der durch meinen Körper fließt, wie eine Symphonie durch unsere Ohren.

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