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Kiara
00:39 Uhr

Manuel hat vor 5 Minuten an einem kleinen Restaurant am Stadtrand gehalten und holt uns etwas zu essen und zu trinken.
Währenddessen sitze ich in seinem Auto und vertreibe mir die Zeit mit Gedanken. Gedanken, die kommen und gehen.

Aber ein Gedanke verschwindet seit letzter Woche kein einziges Mal aus meinem Kopf. Er soll mir alles erklären.
Ich will alles wissen.

Alles.

Er soll mir alles erzählen - keine Geheimnisse mehr.

In den letzten Tagen habe ich viel nachgedacht. Über mein Leben. Über seins. Über uns. Und je öfter ich ihn gesehen habe, desto stärker ist mir klar geworden, dass er auch leidet. Fast ununterbrochen habe ich seine Augen auf mir gespürt, wenn ich selben Raum war wie er. Mir ist klar geworden, dass auch er unter seinem Beruf leidet.

Ich bin bereit zu erfahren, was in seinem Leben abgeht. Die letzte Woche war einfach nur schrecklich und auch wenn er mich verletzt und enttäuscht hat, auch wenn ich Angst vor ihm hatte, habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht als seine Nähe.

Er hat nicht einmal zu Hause geschlafen.
Er ist immer im Club geblieben, wenn ich dort war. Manchmal habe ich Nachts mitbekommen, wie er in mein Zimmer gekommen ist und kurz geschaut hat, ob ich da bin. Dann ist er wieder gegangen.

Es war schwer, ihm aus dem Weg zu gehen. Mein Herz wollte zu ihm, aber mein Kopf hat mich davon abgehalten.

"Hier."
Manuel reicht mir die große Tüte, während er sich auf seinen Sitz setzt und kurz darauf den Wagen startet.
Aus der Tüte duftet es fantastisch.

"Ich habe dir Fanta und Wasser geholt. Ich wusste nicht, was du trinken möchtest. Und Avocado Tacos mit Hähnchen. Ist das in Ordnung?", fragt er, nachdem er das Radio leiser gestellt hat und wir vom Hof des Imbisses fahren.

"Danke.", flüstere ich ehrlich und schaue in die braune Papiertüte.
"Wo fahren wir denn hin?"

"Wo möchtest du hin? Ich würde vorschlagen, dass wir zum Strand fahren. Es ist wärmer, als die letzten Wochen. Ich glaube, dass du es mit dieser Jacke gut aushalten kannst.", erklärt er mir.

Tatsächlich sind die Temperaturen gestiegen und das Wetter ist mild. Der Sommer kommt zurück.

"Ich war noch nie am Strand.", gestehe ich ihm.

"Dann müssen wir dort unbedingt hin.", schlussfolgert er lachend und tritt aufs Gas. Kurz denke ich an die anderen, ob sie sich vielleicht sorgen machen, wenn ich nicht mehr komme. Aber vermutlich sind sie viel zu betrunken, um das zu bemerken.

Wir fahren nicht lange, bis wir am Strand ankommen. Als ich meine Beifahrertür öffne, höre ich bereits das Rauschen der Wellen. Warmer Wind weht durch meine offenen Haare - Wind, den ich noch nie so intensiv gespürt habe.

Er riecht frischer und sauberer, als der in der Stadt.

Er stinkt nicht.

Er ist rein und lässt mich frei fühlen.

"Da unten ist es windgeschützt, komm.", reißt mich Manuel aus meinen Gedanken und nimmt mir die Tüte mit dem Essen ab. Während wir die steile Treppe herunter laufen, stoßen seine Finger immer wieder an meine.
Solange, bis er seinen Mut zusammen nimmt und seine Finger endlich meine Finger umschließen.

Auch, wenn ich es vermeiden wollte, kribbelt es zum x-ten Mal heute in meinem Bauch. Im Mondschein erkenne ich das Zucken seiner Mundwinkel, als er bemerkt, dass ich vor seiner Berührung nicht fliehe.

Ich wollte es verdrängen; mir nicht eingestehen.
Aber ich habe ihn vermisst.

Komisch, oder?

"Setz dich dahin.", deutet er auf eine kleine Stelle im Sand unter einem Felsvorsprung. Hier ist es warm, weil der Wind nicht mehr weht, und wir können direkt auf das rauschende Meer schauen. Bevor ich mich setzen kann, schließt er seine Winterjacke, die ich trage, und drückt mich dann auf den Sand.

"Du kannst auch was von meinen Tacos haben.", informiert er mich und packt das Essen aus. Er reicht mir beiläufig meine Fanta, die er vorher geöffnet hat. Durstig nehme ich einen großen Schluck.

"Danke.", lächel ich ehrlich und nehme ihm meinen Taco ab.
"Guten Appetit.", wünsche ich ihm, bevor wir beide beginnen zu Essen.

Es ist schön hier.

Viel schöner, als in diesem Club - da bin ich mir sicher. Es ist ruhig; wir sind für uns. Niemand kreischt mir ins Ohr und niemand stört uns. Niemand will mich zwingen irgendwelche Sachen zu machen.
Niemand sagt mir, was ich an meinem Geburtstag tun soll oder tun muss.

Fanta ist viel besser als Sekt.

Es ist ruhig, während wir essen. Niemand sagt etwas. Ich merke, dass er nachdenkt und ich würde zu gerne wissen, was ihm durch den Kopf geht.
Aber zwischen uns steht ein so großes Problem, das ich zuerst lösen will.

"Manuel.", beginne ich, nachdem ich aufgegessen habe.

"Kiara?"

"Erzähl mir alles. Bitte. Ich will alles wissen.", bitte ich ihn.

In seinen Augen erkenne ich die Überraschung. Er ist überrascht, dass ich seine Geschichte hören will.
Dann erkenne ich Freude, aber auch Skepsis.

"Du bist betrunken.", murmelt er.

Ich schüttel den Kopf.
"Wenn dann angetrunken.", korrigiere ich ihn erneut.
"Und schau. Ich bin vollkommen nüchtern."

Mit meinem Zeigefinger treffe ich meine Nasenspitze, um ihm zu zeigen, dass ich stocknüchtern bin.
Und das nicht mal gelogen. Tatsächlich bin ich Herr meiner Sinne.
"Das heißt nicht trotzdem nicht, dass ich dir eine Chance gebe. Aber ich will wissen, was hier abgeht.", will ich ihm keine falschen Hoffnungen machen.

"In Ordnung.", gibt er nach.
"Ich wurde in Culiacan geboren. Als Sohn von Xavier Hernandez und Sofia Jimenez. Sofia, meine Mutter, ist die Schwester von Miguel.", beginnt er schließlich.

"Meine Mutter hat den Namen von meinem Vater nicht angenommen, weil sie sonst einige Vorteile im Land verloren hätte. In Mexiko ist es wichtig, einen bekannten Namen zu haben. Besonders als Frau. Mein Onkel, Miguel, hat das Geschäft der Familie in Mexiko übernommen und weitergeführt, mein Vater hat ihm geholfen. Sie waren unzertrennlich, deshalb war Miguel auch der Trauzeuge bei der Hochzeit meiner Eltern."

Gespannt höre ich zu.

"Wir haben viele Feinde. Hier, in Mexiko, in Kolumbien, in Amerika. Überall. Es war ein schöner Nachmittag, als sie mich bei meinem Onkel und seiner Frau, Amara, abgesetzt haben. Wir haben in Hermosillo gewohnt, mehrere Kilometer von Culiacan entfernt."
An seiner Stimme merke ich, wie sehr es ihn schmerzt, darüber zu reden.

"Ich kenne Culiacan nicht. Wo liegt es?", wechsel ich das Thema, um ihn abzulenken.

"Warte."
Er steht auf und sucht nach zwei kleinen Steinen, die zwischen den Sandkörnern liegen. Dann setzt er sich wieder zu mir.
"Also.", beginnt er und zeichnet mit seinem Mittelfinger federleicht die Landesgrenze von Mexiko in den Sand.

Niemand zeichnet mit dem Mittelfinger.

Und vermutlich würde ich es komisch finden.

Aber bei Manuel sieht es heiß aus. Er zeichnet so federleicht und trotzdem so dominant. Überhaupt - Sein ganzes Erscheinungsbild lässt mein Herz schmelzen. Er sitzt hier mit mir im Sand mit seinen teuren Lackschuhen, seiner feinen dunkelblauen Anzughose und dem schneeweißen Hemd, während er im Sand nach Steinen sucht und mir Erdkundeunterricht gibt.

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