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Kiara
19:46 Uhr

Zitternd sitze ich in seinem Auto und schaue zu, wie er schnell um das Auto herum joggt. Er lässt sich neben mich auf den Fahrersitz fallen und reicht mir anschließend seine Waffe.
"Hier. Wie ich es versprochen hatte."

Still nehme ich ihm die Waffe aus der Hand.

Dann startet er den Wagen und macht direkt meine Sitzheizung und die Heizung an.
"Ich mache dir gleich einen Tee. Du musst dich aufwärmen, sonst wirst du krank."

"Manuel-", schüttel ich vergeblich den Kopf.

Er hört nicht auf mich.

"Lass mich dir wenigstens heute helfen. Danach bist du mich los, wenn du das wirklich willst. Aber heute lasse ich dich nicht alleine.", lässt er keine Widerrede zu.

Ich versuche meine Augen offen zu halten, damit ich sehe, ob er mich auch wirklich zum Club bringt, aber ich schaffe es nicht. Die Lichter der anderen Autos auf den Straßen, die durch den Regen gebrochen werden, blenden mich viel zu stark, sodass ich die Augen schließen muss.

Ich kriege kaum Luft. Meine Nase ist zu und meine Lunge fühlt sich an, als hätte sie sich zusammen gezogen wie ein Luftballon, in den man eine Nadel gestochen hat.
Traurig presse ich meine Lippen aufeinander, um den nächsten Heulkrampf zu unterdrücken.

Er hat mir das Herz gebrochen.

"Ich versuche alles, um das zwischen uns wieder gut zu machen.", flüstert er ebenfalls erschöpft.

"Dann verschwinde aus meinem Leben.", hauche ich ihm als Antwort zu und drehe meinen Kopf weg.
Hass.
Ich spüre in diesen Stunden nichts weiter als Hass. Nicht nur auf ihn, sondern auf mein ganzes Leben.

Hätte mein Vater nicht gesoffen, sondern gearbeitet, dann hätten wir niemals in diese Favela ziehen müssen. Dann hätten sie meine Mutter nicht auf der Straßen erschossen. Dann hätte ich niemals in diesem Club arbeiten müssen und dann hätte ich Manuel auch niemals kennengelernt.

Dann wäre ich niemals in dieser Situation.

Immer wieder schrecke ich hoch, weil ich das Gefühl habe zu fallen. Erst als sich eine Hand auf mein Knie legt, schlafe ich ein. Ich träume von meiner Mutter, die auf mich wartet, aber ich ihr trotzdem nicht näher komme. Etwas hält mich auf - ich schaffe es nicht zu ihr zu kommen. Ich rufe nach ihr, doch sie lächelt nur.

Sie sagt nichts.

Zufrieden schaut sie mir zu.

Immer weiter werde ich von ihr gerissen, sodass sie am Ende des Tunnels immer kleiner wird. Ich schreie, rufe nach ihr. Doch niemand hilft mir.

Bis ich endgültig in ein Loch falle.

Bis ich sie nicht mehr sehe.

Ich schrecke hoch und knalle mit meinem Kopf gegen etwas hartes.

"Fuck, aua.", flucht jemand zischend und entfernt sich von mir.

Erst jetzt kann ich wieder klar sehen. Manuel hält sich seine Schläfe und auch ich greife schmerzerfüllt nach meiner Stirn.
"Lass mich los, Finger weg!", rufe ich panisch und drücke ihn von mir.

"Okay, okay.", hebt er seine Hände und zieht sich zurück.
"Ich wollte dich nur abschnallen."

"Wo sind wir? Wir sind nicht beim Club. Wo sind wir?!", frage ich nervös und schnalle mich ab. Die Waffe halte ich in meiner Hand und richte sie auf ihn, während ich aussteige. Ich halte mich am Wagen fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

"Wieso sind wir nicht am Club, warum sind wir bei dir? Du hast mich angelogen, du-", schreie ich und richte die Waffe auf ihn. Er geht einige Meter zurück, weshalb ich ihm folge.

"Das Wasser im Club ist kalt, deshalb-", beginnt er, bevor ich ihn unterbreche.

"Bullshit. Du willst mich im Keller umlegen, wie den anderen Kerl.", kombiniere ich schnell. Die Haustür öffnet sich und Julio tritt mit einer Waffe in der Hand aus der Tür.
Auch hinter mir höre ich, wie eine Waffe entsichert wird.

"Spinnt ihr?!", brüllt Manuel plötzlich.
"Nehmt die Waffen runter, ihr Idioten!"

Panisch schaue ich umher und erkenne, wie ein älterer Mann rund 20 Meter hinter mir mit einer geladenen Waffe steht.

"Wirds bald!", herrscht Manuel den Mann und Julio an.
"Niemand richtet eine Waffe auf sie, habt ihr das Verstanden?", fügt er wütend an und nimmt mir dann ruckartig die Waffe aus der Hand.

"Komm rein, bitte. Du sollst dich nur kurz aufwärmen, dann bringe ich dich in den Club. Versprochen."

"Du-"

"Kiara, bitte!", wird er energischer.
"Bitte komm mit."

Wütend laufe ich an ihm vorbei zur Haustür, in der Julio steht. Mit gesenktem Kopf steht er dort, während ich an ihm vorbei gehe.
"Ihr beiden habt alles gewusst. Ihr habt alles gewusst und es mir nicht gesagt.", flüstere ich weinend, als ich Silvia hinter der Tür entdecke.

"Kiara, Kleines. Es tut mir Leid, ich-"

"Ihr habt mich ins offene Messer laufen lassen. Ihr hättet mich warnen können, aber-"

"Die beiden können nichts dafür. Das alles ist meine Schuld, ich gebe hier die Anweisungen und jeder hier muss sich dran halten. Selbst wenn sie wollten, sie hätten es dir nicht sagen dürfen.", mischt sich Manuel ein und schließt die Tür hinter sich.
Schluckend schaue ich zu, wie er den Lauf der Waffe im Hosenbund verschwinden lässt.

"Silvia hat dir ein Bad einlaufen lassen. Kommst du mit? Ich lasse dich danach in Ruhe.", spricht er leise zu mir und nimmt mir seine Jacke ab. Er reicht sie Silvia, die mit den Tränen in den Augen im Flur steht und mich beobachtet.

Auch Julio scheint ein schlechtes Gewissen zu haben.

"Das meintest du mit Blut, oder?", fauche ich ihm entgegen, woraufhin er seine Lippen aufeinander presst.

"Das Blut, von dem Kerl da unten. Und das Blut des Polizisten, den er ermordet hat!", werde ich lauter und gehe auf ihn zu.

"Kiara.", hält Manuel mich auf und zieht mich an der Schulter zurück.

"Und du - lass deine dreckigen Finger von mir!", zische ich und schlage seine Hand kraftvoll weg, sodass es klatscht, als meine Finger seine treffen. Ruckartig zieht er sie zurück und versucht schmerzerfüllt das Brennen wegzuschütteln.

Ohne noch etwas zu sagen, stapfe ich die breite Treppe nach oben und schlage die Tür zu seinem Schlafzimmer auf. Meine Sachen stehen noch genauso hier, wie ich sie vor einigen Stunden abgestellt habe.
Als ich mich im Spiegel ansehe, erschrecke ich.

Meine Augen sind geschwollen und rot unterlaufen. Meine Pupillen sind riesig und meine Haare zerzaust. Das Blut des toten Mannes klebt trotz des starken Regens noch an meinen Fingern. Meine Kleidung ist durchnässt und dreckig.

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