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Kiara
"Es war ein ganz normaler Anruf. Der Klingelton war derselbe, aber trotzdem habe ich gesehen, dass Miguels Herz für eine Sekunde ausgesetzt hat. Obwohl er den Anruf noch nichtmal angenommen hat, wusste er anscheinend, dass es kein positiver Anruf ist. Während Manuel noch rannte und kicherte und gleichzeitig seinen Onkel aufforderte weiter zu laufen, nahm Miguel wie in Trance das Telefonat an."
Ihre Augen werden feucht, während sie an den Moment zurückdenkt.
Und meine auch.
"Er sagte nichts. Er hörte nur zu. Und dann folgte ein verzweifeltes 'nein, das ist nicht wahr'. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Als die erste Träne über seine Wange lief und Manuel verstanden hatte, dass es nichts mehr zu lachen gibt, hat er sein Handy gegen die Wand geworfen. Das war mein Zeichen, dass ich den kleinen Jungen in sein Zimmer bringen musste. Ich wusste auf Anhieb, was der Grund für Miguels Ausraster war. Und ich musste weinen. Ich musste weinen, aber ich durfte nicht, weil ich unseren kleinen nicht verschrecken wollte. Wie in Trance habe ich ihn gepackt und ihn hochgetragen in sein Zimmer. 'Es ist alles gut, dein Onkel hat nur Stress auf der Arbeit' hatte ich ihm gesagt. Ich wusste, dass ich ihn anlüge, weil ich mir sicher war, dass es nichts mit seiner Arbeit zu tun hatte. Ich wusste es, obwohl ich eigentlich nichts wusste. Manuels flehenden Blick werde ich nie vergessen. Er war noch so klein, aber man konnte ihm noch nie was vor machen. Ich setzte ihn aufs Bett und musste ihn alleine lassen, weil ich nach meinem Mann sehen musste. So viel Schmerz hatte ich in seinem Gesicht noch nie gesehen."
Sie atmet tief durch und ich versuche, den Kloß in meinem Hals herunter zu schlucken.
Vergeblich.
"Das hört sich alles so schrecklich an, Amara."
Sie nickt.
"Als ich wieder herunter kam, lehnte er am Tisch. Er hatte seine Arme weit ausgestreckt, den Kopf gesenkt. Augen geschlossen. Zum ersten Mal versuchte er sich zu beruhigen, so wie ich es ihm immer gesagt hatte. Ich wollte zu ihm, aber ich konnte nicht. Meine Beine bewegten sich nicht mehr, sobald ich das Wohnzimmer betreten hatte. 'Sie sind tot' flüsterte er plötzlich. Obwohl ich mir ausmalen konnte, was passiert war und obwohl ich mich nach seiner Reaktion auf diesen Satz vorbereitet hatte, traf es mich wie ein Schlag. Als Miguel anfing zu weinen, und zwar richtig, musste ich zu ihm. Er hat sich nicht aufgeregt. Er war nicht mal wütend. Er war zum ersten Mal am Ende. Völlig fertig. Zum ersten Mal lief er nicht weg, sondern drehte sich zu mir und umarmte mich. Er wollte einfach nur umarmt werden. Ich weiß nicht, wie lange wir da vor dem Tisch standen."
Amara deutet auf den langen Esstisch.
"Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Weil der Schmerz nicht vergehen wollte. Weil Miguel sich nicht wie normalerweise nach einigen Minuten wieder berappelt hatte. Weil er selbst nach einer halben Stunden in meinen Armen lag und mich nicht loslassen wollte. Sie hatten sie erschossen. Am Straßenrand. Und aus dem Auto in den Straßengraben gezerrt. Von da an musste Manuel erwachsen werden. Miguel hatte keine andere Wahl, er musste den Kleinen anlernen und ausbilden. Es stand außer Frage, dass wir ihn aufnehmen. Miguel hat ihn adoptiert, von da an gab es kein zurück mehr."
"Er hatte mir erzählt, dass Miguel sich um seine Ausbildung gekümmert hat und du dich um seine Schulbildung."
Ich möchte auch endlich etwas sagen. Ich will nicht, dass sie sich alleine fühlt.
"Ja. Ich glaube, dass wir das ganz gut hinbekommen haben. Oder? Es scheint mir, als wäre er wirklich ein Gentleman."
"Ja. Ja das ist er.", nicke ich.
"Wenigstens etwas.", lacht sie leise.
"Miguel hat ihn nach Mexiko-Stadt zum studieren geschickt. Eigentlich wollte er, dass Manuel in meine Fußstapfen tritt - Jura - aber das wollte er nicht. Er hat einen ganz schönen Dickkopf.", witzelt sie.
Ich lache.
"Ja, das stimmt. Das habe ich auch schon zu spüren bekommen."
"Denkst du, dass er in Brasilien zufrieden ist? Manuel war sauer, als wir ihn weggeschickt haben. Aber das Geschäft muss weiter gehen.", fragt sie mich seufzend, während die Haushälterin uns zwei Tees auf den Couchtisch stellt.
"Ich glaube er findet es gar nicht so übel, wie er tut.", gluckse ich leise.
"Ja. Ja, das habe ich Miguel auch gesagt. Überraschenderweise ist er nämlich derjenige, der Manuel wieder zurückholen wollte. Ich hätte nie gedacht, dass Miguel sich mal vor mir weichklopfen lässt.", lacht sie.
"Er macht auch ehrlich gesagt nicht den Anschein, als würde er sich überhaupt weichklopfen lassen.", steige ich mit ein.
"Da täuscht du dich. Amara klopft mich stündlich weich, meine Tochter täglich. Ich kann mich überhaupt nicht mehr wehren.", mischt sich Miguel urplötzlich ein, weshalb ich erschrecke.
Mit Händen in den Hosentaschen kommt er auf das Sofa zu, Manuel läuft grinsend hinter ihm.
"Miguel. Hallo. Ich wollte nicht-"
"Mach dir keine Sorgen, Kiara. Schön, dass du da bist.", begrüßt er mich mit einem warmen Händedruck, nachdem ich vom Sofa aufgestanden bin.
"Wie war der Flug hier hin? Manuel hat mir erzählt, dass du zum ersten Mal geflogen bist?"
"Ja, das stimmt. Es war besser, als ich gedacht habe.", nicke ich und putze meine schwitzigen Handflächen an meinem Kleid ab.
Manuel befeuchtet provokant seine Unterlippe und versucht erst gar nicht sich das breite Grinsen zu verkneifen.
"In meiner Anwesenheit fliegt es sich immer noch am Besten."
Mistkerl.
Während ich erröte, kassiert Manuel einen Schlag gegen den Hinterkopf, der ihm allerdings das dreckige Grinsen nicht aus dem Gesicht treibt.
"Sei nicht so arrogant, Manuel.", ermahnt Miguel ihn und geht in die Küche.
"Von wem hat er das bloß.", murmelt Amara belustigt und reicht mir meinen Tee.
"Todo bien, Kleines? Du bist so rot."
"Alles gut.", nicke ich und trinke schnell einen Schluck Tee.
"Bien. Ich helfe Miguel eben. Manuel, zeig ihr das Haus.", fordert sie ihren Neffen auf und lässt mich mit ihm alleine.
"Todo bien, Kleines? Du bist so rot.", zitiert er seine Tante und nimmt mir den Tee aus der Hand, um selber einen Schluck zu nehmen.
"Halt die Klappe.", fauche ich.
"Cuidado.", murmelt er, dass ich mit meinen Worten vorsichtig sein soll.
Dann nickt er in Richtung Flur und signalisiert mir, dass ich ihm folgen soll.
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