Kapitel 8: Neue Welten
Bert wartete mehrere Tage auf die Erklärung für Karolas Gesichtsausdruck, malte sich aus, wie sie ihm diesmal endgültig die Tasche vor die Füße werfen würde, oder ihm bescheiden würde, er müsse sich in ein schwer bewachtes Haus im Wald zurückziehen und alle Kontakte abbrechen.
Nichts davon geschah.
Das Uni-Leben ging weiter, mit leichten Modifikationen: Herr Melcher reichte seine "Anmerkungen" tatsächlich schriftlich ein, bei Karola. Nach dem Adstrate-Seminar etablierte sich die Karola-Sprechstunde, bei der sich vor allem Herr Kasper sehr interessiert zeigte – woran genau, war etwas unklar. Frau Sauer hatte immer einen extra guten Kaffee für Karola.
Svetlana hatte erst einmal keine Zeit für weitere Kochstunden, also kochte Bert am Heimarbeitstag vorsichtshalber Risibisi genau wie gelernt. Ein paar Zwiebelstückchen hatten schwarze Ränder, aber insgesamt ging es.
Als Bert mitten am Nachmittag noch einmal zum Kaffeenachfüllen in die Küche kam, saß Karola am Tisch, das Handy in der einen Hand, die Finger der anderen auf dem Tisch trommelnd. Dieser Gefühlsausbruch beunruhigte ihn. Er goss ganz langsam seinen Kaffee ein, um eine Entscheidung ringend. Schließlich wagte er es und fragte. "Alles in Ordnung?"
"Ja", sagte Karola ohne aufzuschauen. Es klang eindeutig wie "Nein".
Da fiel es ihm ein. "Müsste deine Ablösung nicht schon hier sein? Das ist doch dein freier Nachmittag, oder?"
"Heute nicht."
"Oh." Er hob den Kaffeebecher, stoppte kurz vor dem Mund. "Warum nicht?"
"Der Kollege kann nicht."
"Krank?"
"Nein, wichtiger Einsatz."
"Ah", sagte Bert und vollendete die Trinkbewegung. Er hing dem Geschmack und einem Gedanken nach. "Kannst du vielleicht trotzdem gehen? Wenigstens noch zum Training?"
Das Trommeln stoppte. Sie sah ihn schief an. "Bert, du solltest es langsam begriffen haben: Ich beschütze dich, also muss ich in deiner Nähe sein."
"Aber die Wohnung ist doch ein sicherer Ort?"
"Was bedeutet, dass du hier nur vor Bedrohungen von außen geschützt werden musst. Von jemandem, der bei dir ist."
"Okay, okay." Er trank einen weiteren Schluck. "Warte mal... Der entscheidende Punkt ist also, dass du bei mir bist."
"Erfasst."
Der Zeigefinger seiner freien Hand wedelte zwischen ihnen hin und her. "Oder ich bei dir."
"Das mag aus wissenschaftlicher Sicht erstaunlich klingen", sagte Karola, "aber das läuft auf dasselbe hinaus."
"Tut es das?" Er nahm zwei kräftige Schlucke und setzte den Becher ab. "Dann ist die Lösung ja einfach. Du gehst zum Training..."
Ihre Augenbraue hob sich.
"... und ich komme mit", sagte er.
👩💼
"Beeilung, wir sind spät dran", sagte Karola.
Hinein ging es in eine für Bert unbekannte Welt – ein Sportgeschäft. Nicht nur, dass es Sportgeräte gab, die er nicht einmal beim Namen kannte; er hatte auch nicht die geringste Idee, warum es so viele Arten gleich unattraktiver Sportbekleidung gab. Es roch sogar anders als in den Geschäften, in denen er alle Jubeljahre Kleidung kaufte.
Karola hatte darauf bestanden, dass er Sportsachen tragen musste; schließlich gingen sie in eine Turnhalle. Er besaß aber nichts Passendes. Gar nichts. Nicht einmal eine Jogginghose fürs Auf-dem-Sofa-Sitzen oder Turnschuhe fürs Durch-die-Gegend-Schlendern. Wahrscheinlich hatte sie gedacht, dass sich sein Vorschlag damit erledigt hatte, aber er hatte darauf hingewiesen, dass sich das Problem ja doch mit ein wenig Geld recht schnell lösen ließe. Vielleicht auch mit ein bisschen mehr Geld.
Bert drehte sich einmal in die Runde und versuchte, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, wo er anfangen sollte. Er fuhr sich durch die Haare. Da hatte er sich etwas Schönes eingebrockt.
"Kann ich Ihnen helfen?", fragte ein sehr sportlich und zugleich völlig overstyled wirkender junger Mann.
"Ja", sagte Bert. "Hoffe ich. Ich brauche... Äh..." Flehend sah er Karola an.
Karola verzog den Mund, schüttelte ganz leicht den Kopf. "Eine Grundausstattung", sagte sie. "Hallenschuhe, Turnhose, Trikot, Trainingsanzug."
Der Verkäufer musterte Bert von oben bis unten. Dann grinste er. "Verstehe. Folgen Sie mir."
Bert schluckte. Er hoffte sehr, dass er sich auf Karolas Schutz verlassen konnte.
👩💼
Er kam sich total albern vor. Sowas hatte er bestimmt seit dem Sportunterricht in der Schule nicht mehr getragen. Sportlich sah er damit bestimmt nicht aus, sondern einfach nur völlig fehl am Platze. Karola dagegen schien in ihren Trainingsklamotten genau da zu sein, wo sie hingehörte.
Bert straffte sich, versuchte, ein entschlossenes Gesicht zu machen. "Okay", sagte er. "Womit fangen wir an?"
"Aufwärmen."
Was Karola "Aufwärmen" nannte, hätte ihm als Fitnessprogramm völlig gereicht. Er hatte gedacht, das tägliche Fahrradfahren hielte ihn schon ganz fit, aber da hatte er sich anscheinend geirrt. Er konnte seine Atmung gerade mal einigermaßen normalisieren, bevor die eigentlichen Übungen begannen. Mit Karola Schritt zu halten, stand völlig außer Frage; er konnte nur mit ihr anfangen, dann abbrechen und zugucken.
Was ihn verwunderte war, wie abstrakt die Übungen waren. Einfach nur... Sport. Er hatte etwas anderes erwartet. "Übst du denn gar keine Kung-Fu-Techniken oder sowas?", fragte er schließlich.
"Kung-Fu ist nicht gerade die bevorzugte Technik im Polizeidienst", beschied sie ihm. "Du hast mehr Kampfsport im Sinn. Wir trainieren Sicherungs- und Vollzugstechniken."
"Okay", sagte er. "Dann das. Kommt das jetzt?"
Sie schüttelte den Kopf. "Dafür bräuchte ich einen Partner, der auch darin geübt ist, sonst ist es zu gefährlich."
"Oh", sagte er, enttäuscht. "Aber – du könntest mir vielleicht einfach ein paar Sachen zeigen? Wie man einen Angriff abwehrt, oder ihm aus dem Weg geht?"
Karolas Augenbraue ging hoch. "Wozu?"
"Na ja." Seine Hand fuchtelte herum. "Irgendwann werde ich wieder auf mich selbst aufpassen müssen; da wär's vielleicht nicht verkehrt, sich mit sowas auszukennen. Ich werde das jetzt nicht auf die Schnelle lernen, das ist mir schon klar. Aber so eine erste Vorstellung, was denn käme, wenn ich das ernsthaft lernen würde..."
Sie sah ihn einfach nur an, mit ihrer erhobenen Augenbraue.
"Und..." Er machte eine hilflose Geste. "Weil es einfach cool ist?"
Da war wieder mal so etwas wie ein Lächeln auf ihren Lippen. "Okay. Weil's cool ist."
👩💼
Bert bekam schnell den Eindruck, dass der Erfolg der meisten Techniken darauf beruht, dass der Gegner einfach will, dass der Schmerz aufhört, und dass es viele Punkte am Körper gibt, die sehr, sehr wehtun können.
Hals, Kopf, Arm, Brust – überall Potenzial für Schmerzen, wie er am eigenen Leib erfahren durfte. Für einen Beobachter sah das eventuell cool aus, wie er auf lauter verschiedene Arten und Weisen von Karola in die Knie gezwungen oder mehr oder weniger sanft auf den Boden geworfen wurde; glücklicherweise mit Matte. Aus seiner Sicht war es eine Serie von "Aua" und "Ich liege schon wieder auf dem Boden".
"Soviel zur coolen Vorführung", sagte er schließlich. "Wenn ich jetzt lernen möchte, mich zu verteidigen, womit würde ich anfangen?"
"Mit dem Fallen", sagte Karola.
"Das habe ich jetzt eigentlich schon genug gemacht", erwiderte er säuerlich.
"Aber nicht gut", erwiderte Karola. "Als Erstes muss man lernen, richtig zu fallen, so dass man sich nicht wehtut und schon gar nicht ernsthaft verletzt. Ich habe dich jetzt immer vorsichtig abgelegt; bei einem Angriff oder einem Unfall kannst du nicht damit rechnen, dass das so läuft."
Vorsichtig abgelegt? Da hatten sie aber deutlich unterschiedliche Vorstellungen. "Na schön, und wie sieht das richtig aus?"
"Ich zeig's dir erstmal", sagte Karola. "Seitwärts." Sie ließ sich in einer fließenden Bewegung zur Seite fallen und klatschte mit dem Arm auf die Matte, stand wieder auf. "Rückwärts." Sie ging aus dem Stand in eine Art Rückwärtswiege und klatschte mit beiden Armen auf die Matte, kam wieder hoch. "Vorwärts." Sie ließ sich nach vorne fallen und landete auf den Unterarmen. Sie stand wieder auf. "Noch besser: abrollen." Sie ließ sich wieder nach hinten fallen, verdrehte sich dabei kunstvoll, machte eine schiefe Rolle rückwärts über die Schulter – und stand wieder. Dann machte sie dasselbe noch einmal, nur vorwärts.
"Und?", fragte sie. "Einfach, oder?"
"Äh", sagte Bert.
"Die wichtigsten Regeln sind: nicht auf Hand, Ellbogen, Knie fallen lassen; rund machen, Kinn auf die Brust, Körperspannung halten, rollen; nicht gerade über Rücken und Kopf, sondern schräg; im richtigen Moment abschlagen; ausatmen."
Bert starrte sie ungläubig an.
"Wir fangen mal ganz einfach an", sagte Karola.
"Klingt gut", sagte Bert. "Mit vorwärts, vielleicht?"
Karola schüttelte den Kopf. "Rückwärts. Aus dem Sitzen."
👩💼
Bert hatte sich gerade aus dem Knoten entwirrt, zu dem die Rolle ihm geraten war, als er jemanden rufen hörte.
"Frau Kunz?", rief ein Mann vom Halleneingang her.
"Ja?", sagte Karola.
"Sie sollten dringend mal kommen."
Bert und Karola sahen sich an. Das verhieß nichts Gutes.
"Bin unterwegs", rief Karola.
👩💼
Der dünne Mann hielt auf der Straße vor dem Klotz. Auf den Parkplatz konnten sie nicht; der war blockiert von den Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr. Blaulichter blinkten, Scheinwerfer warfen Schlaglichter auf Löschfahrzeuge, Drehleitern, Krankenwagen, Feuerwehrleute in voller Montur, uniformierte Polizisten und, weiter oben, Rauch, der aus Fenstern quoll.
Bert bekam einen trockenen Mund. Das sah nach seiner Etage aus.
"Bleib sitzen", sagte Karola zu Bert, stieg aus und schloss die Tür.
Bert kannte die Routine; warum sagte sie das?
Karola trat zu einem der Polizisten, wurde nach kurzem Gespräche in eine Richtung gewiesen, bahnte sich einen Weg durch Material und Einsatzkräfte und verschwand im Gemenge von Dunkelheit und grellem Licht.
Bert starrte auf den Rauch. Sein Kopf war leer.
Karola kam zurück, stieg wieder ein. Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Lippen waren zusammengekniffen.
Bert wusste, was kommen würde.
"Sie können noch nichts Genaues sagen", sagte sie, "aber das Feuer wütet auf jeden Fall auf deinem Flur. Möglicherweise ist da sogar der Brandherd. Sie werden es bald gelöscht haben, aber das macht für deine Wohnung keinen Unterschied mehr. Es tut mir leid."
Bert schluckte mühsam. "Ist schon gut." Er versuchte ein Lächeln. "Nur schade um die neue Kaffeemaschine."
Karola würdigte den Versuch von Galgenhumor mit einem schiefen Lächeln. Dann wurde sie wieder ernst. "Deine Arbeit, deine wissenschaftlichen Bücher – das muss ein großer Verlust sein."
Er schüttelte den Kopf. "Meine Arbeit ist online gesichert. Die wissenschaftlichen Bücher kann ich auch über die Bibliothek kriegen. Es sind mehr..." Er ruderte schlapp mit der Hand. "... die unwissenschaftlichen Bücher. Lieblingsbücher. Erinnerungsstücke." Er atmete tief durch, spürte Feuchtigkeit in den Augen.
Karola nickte. Sie zögerte kurz, dann berührte sie ihn sachte am Arm. "Wir suchen erst einmal ein Hotelzimmer, okay?"
Bert nickte. Sprechen konnte er nicht.
👩💼
Bert saß auf dem Hotelbett und starrte ins Nichts. Nichts, das war ihm auch geblieben, außer dem, was er am Leib trug. Und den neuen Sportsachen.
Portmonee und Handy hatte er, immerhin. Sonst hatte er nichts dabeigehabt. Oder schlummerte etwas Vergessenes in den Taschen? Er befühlte die Hosentaschen, die Jacketttaschen – nichts. Linke Innentasche – ein Einkaufszettel. Da würde er jetzt einen längeren brauchen. Gab es rechts auch eine Innentasche? Ja, und darin war – ein alter Kugelschreiber. Ein Werbegeschenk von irgendeiner Firma, die es vielleicht gar nicht mehr gab. Den hatte er schon ewig. Der hatte ihn mindestens schon durch das Studium begleitet. Er sah hässlich aus, aber er schrieb. Besser als manches edlere Modell, das er in der Zwischenzeit gehabt hatte.
Er drehte den Kugelschreiber versuchsweise durch die Finger. Prompt fiel er runter. Während er auf dem Boden danach fischte, klopfte es.
"Herein", sagte er und rappelte sich auf.
Karola steckte den Kopf durch die Tür. "Alles in Ordnung? Brauchst du noch was?"
Bert schüttelte den Kopf. Seine Finger drehten wieder den Kuli, diesmal sehr viel einfacher.
Karola sah auf den Stift, sagte aber nichts dazu. "Du solltest noch etwas trinken. Das Training war anstrengender, als du denken magst."
"Okay", sagte er.
"Getränke stehen auf dem Tischchen", sagte Karola. "Falls du noch was anderes willst, sag Bescheid. Einer von uns ist vor der Tür."
"Danke", sagte er.
"Ansonsten gute Nacht", sagte Karola.
"Ebenso", sagte Bert.
Karola schloss die Tür.
Bert starrte auf seine Hand; seine Finger hielten inne.
Ein hässlicher, alter Kugelschreiber; das war sein bisheriges Leben.
👩💼
Die nächsten Tage durchlebte Bert im Automatikmodus. Seine Schreibtischarbeit fand jetzt immer in seinem Büro in der Uni statt. Svetlana und Ogün kamen vorbei, um ihm ihre Hilfe anzubieten und zu reden, aber er war noch weniger gesprächig als sonst.
Essen gab es immer in Restaurants oder im Hotel, das alle zwei Tage gewechselt wurde. Nach den Abendnachrichten zappte er wahllos durch das Fernsehprogramm. Er hatte nicht den Eindruck, da in den letzten Jahren viel verpasst zu haben, aber er konnte sich nicht aufraffen, irgendetwas anderes zu tun.
Die Vorlesung spulte er lustlos ab. Herr Melcher beachtete ihn überhaupt nicht mehr, sondern überreichte einfach Karola seine neuesten Anmerkungen mit einem charmanten Lächeln.
Im Adstrate-Seminar war Herr Kaspar dran. Bert spielte mit dem Kugelschreiber und hörte nicht einmal richtig zu.
"So, das war's", sagte Herr Kaspar fröhlich. "Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, und bei Fragen – fragen!"
Das Publikum reagierte betont zurückhaltend.
Bert wollte gerade ein Abschlusswort sprechen, als sich doch noch jemand zu Wort meldete.
"Kann ich auch eine Frage stellen?", fragte Karola.
Bert starrte sie verblüfft an.
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