Kapitel 7: Geschmackssache
"Aber..." Es schnürte Bert die Kehle zu. Er merkte in dem Moment, dass er nicht nur gedacht hatte, Karola würde die ganze Zeit bei ihm bleiben – er hatte sich bereits darauf verlassen, ihre Anwesenheit als vorläufige Konstante in seinem Leben betrachtet.
"Heute ist mein freier Nachmittag", sagte Karola. "Inklusive Abend. Ich erledige ein paar Dinge und gehe nachher noch zum Training in der Polizeisporthalle. Termine und Verabredungen stehen ja nicht an; der Kollege hält sich hier einfach nur bereit für Unvorhergesehenes. Ich hab ihm gesagt, er kann im Wohnzimmer sitzen; das ist in Ordnung, oder?"
"Klar", sagte Bert, überrumpelt.
"Gut", sagte Karola und sah auf ihr Handy. "Da ist er schon."
Es war der "Handwerker", der bei der ersten Fahrt neben ihm gesessen hatte. Halb in Trance erlebte Bert die Übergabe mit, dann war Karola weg und er stand allein mit dem Mann und einem leeren Kaffeebecher im Flur.
"Okay", sagte der Mann. "Dann pflanz ich mich mal ins Wohnzimmer. Stört es Sie, wenn ich fernsehe? Ich dreh auch ganz leise, schon deswegen, dass ich noch alles andere hören kann."
"Kein Problem", sagte Bert.
Der Mann nickte und ging ins Wohnzimmer. Stimmt, fiel Bert ein, der kannte sich ja aus. Er blieb unschlüssig stehen, dann erinnerte er sich an den Becher in seiner Hand. Kaffee; den brauchte er jetzt auf jeden Fall. Er ging in die Küche.
Er nahm gerade schon einmal einen Schluck für den langen Rückweg zum Arbeitszimmer, als der Mann seinen Kopf hereinstreckte.
"Hamse eigentlich keine Sportsender?", fragte er.
"Ähm, keine Ahnung", antwortete Bert wahrheitsgemäß. "Ich habe auf jeden Fall nichts extra gebucht oder so. Aber es gibt doch noch freie Sender, oder? Ich weiß dann aber nicht, auf welcher Nummer."
"Alles klar, find ich schon, lassense sich nich stören", sagte der Mann und verschwand wieder.
Bert war den ganzen Nachmittag über unkonzentriert. Er konnte nicht genau sagen, warum. Die Fernsehgeräusche aus dem Wohnzimmer waren wirklich nicht so schlimm. Vielleicht lag es an Kaffeemangel; er konnte sich irgendwie nicht aufraffen, sich einen neuen zu holen. Zum Abendbrot ging er schließlich doch in die Küche; der Mann bleib im Wohnzimmer. Schließlich kam der feste Abend-Fernsehtermin. Andererseits, er konnte auch im Internet... Nein. Er stand auf, ging zum Wohnzimmer – und blieb vor der angelehnten Tür stehen. Musste er denn jetzt wirklich... Er drückte die Tür ein Stück auf.
Der Mann sah ihm entgegen. "Ah, is Nachrichtenzeit, oder? Wartense..." Kurz auf der Fernbedienung gedrückt, schon liefen die Nachrichten. Bert brauchte immer eine kleine Ewigkeit, wenn er ausnahmsweise mal den Sender wechselte.
"Danke", sagte Bert und setzte sich aufs Sofa. Er wollte sich ganz natürlich hinsetzen, hatte aber plötzlich keine Ahnung mehr, wie er natürlich saß. Er beschloss, dass Beine übereinander geschlagen und Kinn nachdenklich in die Hand gestützt für einen Fremden natürlich genug wirken musste.
"Das Bundesamt für Verfassungsschutz registriert eine deutliche Zunahme rechtsextremistischer Gewalt", verlas der Nachrichtensprecher. "Die Gewalt richte sich vorwiegend gegen Ausländer und Mitbürger mit ausländischen Wurzeln. Eine neue Entwicklung sei die Kombination mit frauenfeindlichen Tendenzen."
Bert hatte das ungute Gefühl, dass er genau wusste, wovon die Rede war.
Ein schmatzendes Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Er sah zum Personenschützer; der starrte auf sein Handy und bearbeitete währenddessen seine Zähne mit seiner Zunge. Die Meldungen waren wahrscheinlich keine Neuigkeiten für ihn.
Nach den Nachrichten hockte Bert wieder vor seinem Computer. Theoretisch analysierte er gerade volkstümliche Texte; praktisch waren seine Gedanken überall, nur nicht dabei.
Vor seinen geistigen Augen sah er Männer wie Brun zu Tausenden aufmarschieren und das in den Staub treten, was er für eine selbstverständliche und unaufhaltsame Entwicklung zu Gleichheit und Toleranz gehalten hatte, während einige Frauen am Rand standen und ihnen pflichtschuldig zujubelten. Er stand ihnen im Weg, und nur eine kleine Schar aus Karola und ihren Kollegen stand ihm bei...
Bert wischte den Tagalptraum beiseite. Trotzdem kreisten seine Gedanken immer wieder um Brun, die Morde, seine Aussage, Karola... Würde man wirklich versuchen, ihn zu töten? Und wenn ja – würden Karola und ihre Kollegen es verhindern? Zu welchem Preis? Und wäre es das wert?
Irgendwann spät hörte er Geräusche im Flur. Der Personenschützer kam aus dem Wohnzimmer, die Wohnungstür ging auf, Karolas Stimme war aus gedämpftem Übergabekauderwelsch herauszuhören, die Wohnungstür klackte zu.
Irgendwie beruhigte ihn das.
👩💼
Langsam spielte sich Routine ein – wie der Besuch immer neuer Restaurants. Dieses Mal hatte Bert gerade seinen ersten vegetarischen Burger in einem Vollwertrestaurant gegessen, als Karola ihm ausnahmsweise mal ihr Handy hinhielt.
"Um die Ecke gibt es eine Kaffeebar einer Rösterei", sagte sie. "Kennst du die?"
Bert sah eine Website mit einem stimmungsvollen Foto in Sepia-Tönen und einem Logo mit Kaffeetasse. "Hab ich schon mal gehört; ich war aber noch nie in einer Kaffeebar."
"Perfekt", sagte Karola.
Bert war verdutzt.
Zehn Minuten später saß er vor einer schlichten Tasse mit edlem Kaffee. Schon der Geruch war eine ganz andere Hausnummer als das, was er gewohnt war. Er probierte vorsichtig.
"Nicht schlecht, oder?", frage Karola.
"Ja", sagte Bert. Er war zwar persönlich der Meinung, dass man eine verneinte Frage nur zustimmend mit "Nein" oder ablehnend mit "Doch" beantworten konnte, aber als Sprachwissenschaftler musste er sich der Realität beugen, dass so gut wie alle lebenden Sprecher der deutschen Sprache das anders sahen.
"Ja wie in 'er schmeckt schlecht' oder ja wie in 'er schmeckt nicht schlecht'?", fragte Karola.
Auch mit einem "Ja" konnte man es den Menschen nicht recht machen. "Er schmeckt nicht schlecht", sagte Bert und probierte noch einmal. "Er schmeckt... mehr. Also, er ist aromatischer."
"Findest du das auch besser?", fragte Karola.
Berts Zunge hing dem Geschmack nach. "Ich brauche meist eine Zeit, mich an einen neuen Geschmack zu gewöhnen, damit ich ihn gut finden kann", sagte Bert. "Aber ich glaube, der wird mir gefallen."
"Gut", sagte Karola. "Dann hast du sicher nichts dagegen, wenn wir gelegentlich mal neue Kaffeebars ausprobieren?"
Bert zögerte einen Moment. "Ich habe nichts dagegen", sagte er schließlich.
👩💼
Beim nächsten Essen zu Hause hatte Bert ein einfaches Nudelgericht bestellt. Das war vergleichsweise enttäuschend. "Ich könnte vielleicht auch mal selber kochen", sagte er. "Nudeln kann ich auch."
"Mit Soße?", fragte Karola.
"Natürlich."
"Selbstgemacht?", fragte Karola.
"Ähm", sagte Bert.
Karola war das offenbar Antwort genug.
Dabei wollte Bert es nicht bewenden lassen. "Es wäre vielleicht ganz praktisch, sowas zu können. Ist jetzt aber wahrscheinlich nicht der passende Zeitpunkt, einen Kochkurs zu machen, oder?"
"Das wäre ein bisschen problematisch", sagte Karola. "Einerseits wäre das bei dir etwas Neues, Unerwartetes. Andererseits kämst du in eine Gruppe aus unbekannten Menschen, es würde eine neue Vorhersagbarkeit in dein Leben bringen, und wahrscheinlich wäre der Kursleiter über die Anwesenheit von Personenschützern, die ihm ständig aufs Messer schauen, mäßig begeistert."
"Also kurz gesagt: Nein", sagte Bert.
"Aber du musst ja keinen richtigen Kochkurs machen. Lass dir doch einfach ein paar Dinge von jemandem zeigen, den du kennst."
"Okay", sagte Bert. "Auch eine Idee. Ähm – kannst du kochen?"
"Ich kann dir auf jeden Fall nichts zeigen, während ich gleichzeitig aufpasse. Du musst schon jemand anderen fragen. Vorzugsweise jemand aus deinem engeren Freundeskreis, den du bedenkenlos hierher einladen kannst. Ich wüsste eine Person, die du fragen solltest."
Bert runzelte die Stirn. "Wen kennst... Warte... Du meinst...?"
"Genau die."
"Aber..." Bert ruderte mit der Hand. "Aber vielleicht kann sie gar nicht kochen? Können heutzutage viele Leute nicht, habe ich gelesen. Dann wäre das doch eher peinlich."
Karola hob die Augenbraue. "Dann frag sie, ob sie vielleicht ein paar einfache Gerichte kennt, die sie dir beibringen könnte. Das gibt ihr einen breiten Spielraum zum Neinsagen."
"Öhm", sagte Bert. Es sah nicht so aus, als käme er da einfach wieder heraus. "Na gut."
👩💼
"Etwas Einfaches?", fragte Svetlana durchs Telefon. "Lass mich überlegen – wie wär's mit einem Risotto? Das ist ziemlich einfach, und man kann es ganz toll variieren. Magst du Risotto?"
"Äh – das ist so ein italienisches Reisgericht, oder?", fragte Bert.
"Genau, du kennst es! Lass uns das versuchen! Wahrscheinlich kochen wir besser bei dir, oder? Das ist sowieso gut, wenn du in deiner eigenen Küche kochst. Wenn du die Zutaten besorgen kannst, können wir es heute Abend machen, wenn ich dir die Bücher vorbeibringe. Ich schick dir gleich eine Liste. Und an Utensilien brauchen wir auch nicht viel: einen Topf, ein Küchenmesser, ein Schneidebrett, einen Kochlöffel. Das hast du bestimmt alles da."
"Bestimmt", sagte Bert. Zumindest den Topf.
👩💼
Der Supermarkt des Tages war ein Mega-Supermarkt am Stadtrand; einer von denen, die ein halbes Kaufhaus sind. Mit Karolas Hilfe hatte er unter zig Sorten den Risotto-Reis gefunden, eine Zwiebel, die nicht schlecht war, und die restlichen Zutaten. Bei den Utensilien hatte Karola, wahrscheinlich aus Sicherheitsgründen, ein einfaches, kleines Messer empfohlen; das Schneidebrett durfte er sich ganz frei aussuchen.
Während er ein Holzbrett gegen ein Plastikbrett abwog, fiel sein Blick auf eine Aktionsfläche mit großen, würfelförmigen Kartons, deren Inhalt ein Werbeaufsteller als "Profi Kaffeevollautomat – Super Angebot" bezeichnete. Der Preis wäre für eine normale Kaffeemaschine definitiv kein "Super Angebot" gewesen; das unterstrich wahrscheinlich den Teil mit "'Profi".
"Meinst du, die ist gut?", fragte er Karola.
Karola warf einen kurzen Blick auf die Kartons, bevor sie wieder die Umgebung scannte. "Ist 'ne gute Marke für Haushaltsgeräte, soweit ich weiß. Wird nicht schlecht sein."
Ein Profigerät für Amateure; eins der üblichen Oxymora der Werbung. Hatte darüber eigentlich schon einmal jemand geforscht?
"Dann nehm ich die auch mit", sagt er.
Karolas erhobene Augenbraue konnte er sehen, ohne hinzugucken.
👩💼
Bert war mit heilen Fingern aber tränenden Augen aus dem Zwiebelschneiden herausgekommen, hatte gelernt, dass Essen nicht nur durch Wasser, sondern auch durch Öl vor dem direkten Anbrennen bewahrt werden kann (zumindest kurzfristig), und dass Reis mit Erbsen auf Knüttelitalienisch viel lustiger klingt – Risibisi.
Jetzt saß er vor seinem ersten selbst gekochten Risotto, eine Gabel in der rechten und ein Stück von dem Ciabatta, das Svetlana noch auf die Schnelle bekommen hatte, in der linken Hand, und fühlte sich, als wäre er in die Rolle eines ganz anderen Menschen geschlüpft. Ihm gegenüber saß Svetlana, Gabel in der linken und Brot in der rechten Hand, und sah ihn erwartungsvoll an. Langsam nahm er etwas Risotto auf die Gabel, balancierte es zum Mund, steckte es vorsichtig hinein, zog die Gabel zurück...
"Heisch!", nuschelte er.
"Schnell, einen Bissen Brot!", sagte Svetlana.
Bert nahm den Bissen, sog noch etwas Luft dazu und konnte kauen – und schmecken.
"Und?", fragte Svetlana.
Er kaute und schmeckte noch ein bisschen mehr, schluckte. "Gut", sagte er. "Finde ich jedenfalls. Was sagt die Kochlehrerin?"
Svetlana grinste, nahm vorsichtig auch einen Bissen, schmeckte – und nickte. "Bisschen mehr Brühe geht noch, aber so ist schon gut."
Wow, dachte Bert. Das klang aufrichtig gut.
Während sie aßen, beschrieb Svetlana noch ein Dutzend Möglichkeiten für andere Risottovarianten. Bert hatte wenig Hoffnung, dass er sich die alle mit ihren speziellen Vorgehensweisen würde merken können, aber er konnte ja noch einmal nachfragen, wenn es so weit war. Oder gleich eine Nachschulung erbitten.
Schließlich aber kam der große Moment. Er strahlte Svetlana an und deutete auf seine Neuerwerbung. "Und jetzt ein Kaffee! Aus meiner neuen Maschine! Und Milch habe ich auch da – wirklich."
"Du trinkst um diese Zeit noch Kaffee?"
Oh, verdammt. Er vergaß immer wieder, dass nicht alle Menschen zu jeder Tag- und Nachtzeit Kaffee tranken. "Ähm, ja...?"
"Ah", sagte sie und lächelte. "Du musst noch durchhalten; viel zu erledigen im Moment, nicht? Geht mir genauso. Dann nehme ich auch gerne einen; und dann muss ich los, an meinen Schreibtisch."
Eine Viertelstunde später saßen Bert und Karola nur noch zu zweit in der Küche, und bei ihrem zweiten Kaffee.
"Besser, als ich gedacht hätte", sagte Karola.
"Das 'Koch-Date'?"
"Der Kaffee", sagte sie.
"Ah", sagte er und nahm noch einen Schluck. "Und, ähm – das 'Koch-Date'?"
Sie nahm ebenfalls einen Schluck. "Nicht ganz hoffnungslos."
Bert rutschte ein bisschen tiefer in seinem Stuhl. Was hatte er auch erwartet? Er trank seinen Becher leer.
Karola checkte ihr Handy. Sie wischte über das Display und Bert hatte den Eindruck, dass sie ein paar seiner Hoffnungen dabei unter ihrem Finger hatte.
Dann verharrte ihr Finger, ihr Gesichtsausdruck veränderte sich.
Bert gefiel das nicht. Es konnte nicht gut sein, im Gesicht seiner Personenschützerin ein "Oh, verdammt" zu lesen.
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