Kapitel 4: Gerüchteküche

Karola öffnete die Tür.

Draußen standen Licht und Schatten: eine Frau mit blondierten langen Haaren und weißem Kleid, ein Mann mit kurzen schwarzen Haaren, dunkelgrauem Anzug, schwarzem Hemd.

Beide waren sichtlich überrascht.

"Oh, hallo", sagte die Frau.

"Hallo", sagte Karola und checkte dann an den beiden vorbei den Flur, was die beiden noch mehr irritierte.

Ein knappes Handzeichen von Karola und Bert trat dazu.

"Hallo, ihr beiden. Das ist Karola, meine Kusine. Dritten Grades. Karola, das sind meine Kollegen Svetlana und Ogün."

"Oh, wie nett", sagte Svetlana und reichte Karola die Hand.

"Kommt rein", sagte Karola. Es klang schon ein bisschen wie ein Befehl. Die beiden gehorchten prompt.

"Kaffee?", fragte Bert. Es wurde langsam etwas eng am Küchentisch, aber vier Becher hatten auf dem Tisch locker Platz.

"Ja, gerne", sagte Svetlana.

Ogün nickte einfach, während er im Augenwinkel zu Karola schielte.

"Milch, Zucker?"

"Für mich etwas Milch, bitte", sagte Svetlana.

"Zucker", sagte Ogün.

Bert öffnete den Kühlschrank und starrte den Inhalt nieder. Das änderte nichts an peinlichen Tatsachen. "Ähm, tut mir leid, ich habe doch keine Milch da."

"Ach, das macht nichts", sagte Svetlana. "Ich trinke eigentlich ohne; ich habe nur kürzlich gelesen, dass Kaffee mit Milch gesünder ist, und versuche, es mir anzugewöhnen."

Bert wusste nicht recht, was er darauf sagen sollte, und reichte Svetlana einfach den Becher mit einem entschuldigenden Lächeln. Dann öffnete er einen Schrank, ließ kurz die Hand kreisen, griff dann ein Päckchen Puderzucker und stellte es samt Löffel und Becher vor Ogün ab. Der nahm die Sachen kommentarlos an und begann, Puderzucker in den Kaffee zu schaufeln.

"Wir... wir haben gehört, was mit Markus passiert ist", sagte Svetlana. "Und mit noch irgendjemand anderem. Und dass du dabei warst, und auch beinahe..."

"Woher wisst ihr das?", fragte Karola.

"Die Polizei kam vorbei", sagte Ogün. "Haben's uns grob erzählt und gefragt, ob wir was mitgekriegt haben. Haben wir aber nicht."

"Ich habe was gehört, glaube ich", sagte Svetlana. "Ich habe mich gefragt, wo ihr bleibt, und mal aus dem Fenster gesehen. Ich habe was knallen hören, aber es war nichts zu sehen. Ich konnte ja nicht ahnen... Wie geht es dir, Bert? Alles... heil?"

"Den Umständen entsprechend", sagte Bert. "Bei mir ist alles heil, ja. Nur, dass ich mich jetzt kaum noch alleine irgendwohin traue. Deshalb ist Karola da."

"Ah, das ist schön, wenn man Familie hat, die einem beisteht", sagte Svetlana und strahlte Karola an. "Du bist, wie war das, seine Kusine?"

Karola nickte.

"Ihr seid euch bestimmt sehr nah?", fragte Svetlana.

"Gerade schon", sagte Bert.

"Du hast nie etwas von einer Kusine erzählt", sagte Ogün.

"Nein", sagte Bert. "Wir haben uns auch ewig nicht mehr gesehen."

Zwei fragende Gesichter sahen ihn an.

"Wir sind nur entfernt verwandt, und irgendwo zwischen uns hat sich die Familie ziemlich auseinandergelebt. Es war Zufall, dass wir uns jetzt begegnet sind."

"Und wie kam es zu dem Zufall?", fragte Ogün.

"Na ja... Ich habe der Polizei gesagt, dass ich... Angst habe. Erst haben sie mir erzählt, dass sie da nicht viel machen können. Aber dann fiel ihnen ein, dass ein Modellversuch geplant ist, den Schutz von Universitätsmitarbeitern zu erproben. Da hatte gerade die vorgesehene Testperson im letzten Moment abgesagt, und da haben sie mir angeboten, einzuspringen. Und dann stellte sich heraus, dass die Polizistin, die den Schutz simulieren soll, ausgerechnet Karola ist."

"Is nich wahr", sagte Ogün.

"Bin ich der Typ, der sich sowas ausdenkt?", fragte Bert.

"Du bist'n Bodyguard von der Polizei?", fragte Ogün Karola.

"Personenschützer", sagte Karola.

"Toll", sagte Svetlana. "Ich meine, das ist bestimmt ein aufregender Beruf."

"Du beschützt Bundeskanzler und Wirtschaftsbosse?", fragte Ogün.

Karola schüttelte den Kopf. "Für die Bundesregierung sind andere zuständig. Wir kümmern uns um Leute, die von Kriminellen und Extremisten bedroht werden."

"Und wer bedroht Bert?", fragte Ogün. "Kriminelle oder Extremisten?"

"In dem Modellversuch gehen wir von Extremisten aus", sagte Karola. "Aber das ist zweitrangig. Ich kümmere mich um Schutz vor egal wem."

"Du beschützt deinen Cousin, das finde ich großartig", sagte Svetlana. "Das ist so traditionell und modern zugleich."

"Und wie soll das aussehen?", fragte Ogün. "Kommst du jeden Tag vorbei und bewachst die Wohnungstür?"

"Ich wohne für eine Weile bei Bert und begleite ihn überall hin", sagte Karola.

"Du wohnst hier?", fragte Ogün. "In Berts Butze? Du lässt sie doch nicht auf deinem durchgelegenen Sofa im Arbeitszimmer schlafen, Bert, oder? Nach einer Nacht darauf kann sie keinen mehr beschützen."

"Nein", sagte Bert. "Sei beruhigt, sie schläft in meinem Bett."

Zwei ziemlich entsetzte Gesichter starrten ihn an.

"Und ich schlafe auf dem Sofa", ergänzte Bert schnell. "Was übrigens gar nicht durchgelegen ist. Wenn man sich vorher nicht total abschießt, kann man sehr erholsam darauf schlafen."

"Wer's glaubt", sagte Ogün.

"Er hat seiner Kusine und Beschützerin sein Schlafzimmer überlassen", sagte Svetlana mit schiefem Blick zu Ogün. "Er ist ein Gentleman."

Ogün verschanzte sich hinter seinem Kaffeebecher.

"Bert", sagte Svetlana, "es tut mir leid wegen Markus. Ihr wart Freunde, und dass du mit ansehen musstest, wie er..."

"Ja", sagte Bert. "Schlimm." Das klang in seinen Ohren ein bisschen wenig, aber er wusste nicht, was er besseres sagen sollte. War Markus ein Freund gewesen? Doch, für seine Verhältnisse schon. So ungefähr wie Ogün.

"Und diese andere Person, eine Frau, glaube ich – auch so schrecklich", sagte Svetlana.

"Schrecklich" – das wäre ein besseres Wort gewesen als "schlimm".

"Und das alles bei mir im Hinterhof. Und ihr wart nur da, weil ich euch eingeladen habe. Und dann war die Lampe kaputt; ich hab mich schon beschwert... Das ist alles so verrückt. Aber dir geht es gut, das erleichtert mich so. Und deine Kusine passt auf dich auf, da bin ich so froh!"

Sie strahlte Karola an; Karola lächelte zurück. 

Dann trank Svetlana ihren Becher leer. "Wir sollten jetzt gehen. Ogün, bringst du mich nach Hause? Allein möchte ich im Moment nicht unterwegs sein."

"Solange ich nicht noch auf irgendwelchen Sofas schlafen soll...", sagte Ogün.

"Keine Sorge. Zu Hause passt meine Mitbewohnerin auf mich auf. Die kann Karate."

Fünf Minuten später saßen Bert und Karola wieder zu zweit in der Küche.

"Bemerkenswert", sagte Karola und nippte an einem frischen Kaffee.

"Was? Meine Kollegen?"

"Die Mischung aus guten und haarsträubenden Elementen, mit denen du die Deckgeschichte verkauft hast."

"Hey! Ich musste halt improvisieren."

"Dafür war's gar nicht mal so schlecht, das stimmt schon. Auf jeden Fall sind jetzt zwei Dinge klar."

"Nämlich?"

"Der Buschfunk wird die Geschichte jetzt schnell verbreiten und dafür sorgen, dass der Schutzauftrag jetzt mehr auf einer persönlichen Ebene gesehen wird und die Stimmung an der Universität nicht aufheizt, ganz wie gewünscht."

"Aha", sagte Bert. "Und was ist das Zweite?"

"Du solltest Svetlana bald auf ein Date einladen."

👩‍💼

Dass Fahrradfahren gesünder und umweltfreundlicher ist, interessierte Karola und ihre Kollegen nicht. Sie bestanden darauf, ihn am nächsten Morgen mit dem Auto zur Uni zu fahren. Mit dem gepanzerten, verstand sich. Der dünne Mann saß wieder am Steuer, Karola auf dem Beifahrersitz; der Platz neben Bert blieb diesmal leer.

Karola drehte sich zu ihm um. "Denk daran, wie beim letzten Mal: Du bleibst sitzen, bis dir jemand die Tür öffnet. Dann zügig rein. Okay?"

"Okay", sagte Bert. Er war fast so nervös wie auf dem Weg zu seiner Disputatio, dabei sollte das ein normaler Tag sein; er musste nicht einmal eine Prüfung abnehmen.

Sie fuhren nicht vorne vor, wie er es erwartet hatte. Sie fuhren hinten herum, auf den Mitarbeiter-Parkplatz. Der Fahrer hatte eine Karte für die Schranke.

"Habt ihr überall einfach so Zugang?", fragte Bert.

"Nein", sagte Karola. "Hier benutzen wir deinen Mitarbeiter-Parkausweis."

"Ich habe keinen Mitarbeiter-Parkausweis."

"Jetzt schon. Herzlichen Glückwunsch."

Bert verkniff sich das "Danke". Der Wagen hielt, der dünne Mann und Karola stiegen aus, scannten die Umgebung. Schließlich öffnete Karola die Tür und er kletterte hinaus. Er sah am Gebäude hoch. Dutzende von Fenstern. Woher nahmen sie die Sicherheit, dass nicht hinter einem jemand mit einem Gewehr auf ihn zielte?

"Los, Bewegung", sagte Karola.

Der dünne Mann war schon ein paar Schritte Richtung Hintereingang voraus. Hastig eilte Bert hinterher, Karola dicht hinter sich. Es ging durch Gänge und über Treppen. Sie begegneten nur einigen wenigen Studenten; sie waren extra früh dran. Der dünne Mann schloss einen Durchgang auf. Bert hatte seine Schlüssel immer noch nicht wieder; jetzt wusste er, wo sie gerade waren. Im Flur dahinter war nur Frau Sauer, eine der Sekretärinnen.

Sie grüßte kurz, starrte seine Begleiter unverhohlen an, bis sie sie fast erreicht hatten, dann verschwand sie in ihrem Büro.

Vor Berts Büro sah der dünne Mann noch einmal nach links und rechts, schloss auf und ging hinein. Er sah sich um, dann gab er Bert ein Handzeichen, hereinzukommen. Als alle drei drin waren, drückte der dünne Mann Karola die Schlüssel in die Hand, nickte ihr zu und verschwand. Karola schloss ab.

"Gut", sagte sie zu Bert. "Dieser Raum ist ein weiterer sicherer Ort. Außer uns kommt hier keiner rein."

Bert sah unwillkürlich zum zweiten Schreibtisch in dem kleinen, höflicherweise "zweckmäßig eingerichtet" zu nennenden Büro. "Aber...", fing er an. Dann setzte sein Gehirn gerade noch rechtzeitig ein.

Markus würde nicht mehr kommen.

"Ähm", sagte Bert. "Ich habe eigentlich regelmäßig Sprechstunde hier."

"Die stellst du um auf 'nach Vereinbarung', und wenn jemand etwas vereinbart, kümmern wir uns um einen anderen Raum dafür. Es sei denn, du kennst die Person und vertraust ihr."

"Ähm, gut", sagte Bert. Da entdeckte er etwas, was nicht dorthin gehörte. "Was ist das für ein Gerät?"

"Die Kollegen haben im Gang eine kleine Kamera installiert. Das ist ein Monitor, auf dem du das Kamerabild sehen kannst. Das soll dich nicht die ganze Zeit ablenken, deshalb musst du erst drauftippen."

Bert tippte. Das Gerät zeigt den leeren Flur, nicht direkt von der Tür aus, sondern aus einem anderen Winkel. "Wäre es nicht gut, das im Auge zu behalten, falls sich... etwas zusammenbraut?

"Werd ich", sagte Karola und deutete auf ihr Handy. "Du siehst nur auf das Gerät, wenn jemand klopft, und sagst mir, ob du die Person kennst."

"Okay", sagte Bert. "Sonst noch Agentengadgets?"

"Nein. Du kannst dich jetzt an deinen Schreibtisch setzen und deinen Job machen. Ist es in Ordnung, wenn ich mich da hinsetze?" Sie zeigte auf Markus Stuhl. Der hätte bestimmt nichts dagegen gehabt.

"Bitte."

Karola setzte sich und wandte sich ihrem Handy zu.

Bert setzte sich an seinen Schreibtisch. Er atmete tief durch. Es roch immer noch nach dem Teppichboden, der vor Monaten gelegt worden war. Er öffnete eine Schublade, sah hinein, ohne etwas zu sehen, machte sie wieder zu. Sein Blick wanderte über den Tisch, einige Bücher in seinem Regal, wieder zurück.

Nichts war richtig. Er konnte nicht einfach so mit normalen Dingen weitermachen. Nichts war wichtig genug. Er ließ die Schultern hängen, widerstand der Versuchung, den Kopf auf die Tischplatte sinken zu lassen.

"Du hast in einer Stunde eine Veranstaltung", sagte Karola plötzlich. "Musst du dafür etwas vorbereiten? Etwas mitnehmen?"

Er richtete sich auf, öffnete die Schublade wieder und zog ein geheftetes Bündel Papier heraus. "Nur mein Skript. Ist 'ne Vorlesung."

"Ein Vortrag? Mit Powerpoint?"

"So eine Art Serienvortrag, ja. Eine Bildschirmpräsentation lohnt sich gerade nicht; mach ich nur, wenn es wirklich einfacher ist, etwas zu zeigen. Andere machen es anders."

"Du liest also nur einen fertigen Text vor?"

"Nein, ich habe nur Stichpunkte. Wir predigen den Studenten, sie sollen frei vortragen, da sollte ich das auch selbst tun. Außerdem ist die Forschungslage noch im Fluss; Stichpunkte lassen sich leichter anpassen. So bekommen die Studenten immer den neuesten Stand, den sie so zusammengefasst noch nirgendwo nachlesen können."

"Okay", sagte Karola.

Interessierte sie das wirklich? 

"Musst du für heute dein Skript noch auf den neuesten Stand bringen?", fragte sie.

"Ähm. Nein, ich glaube nicht. Ich... Ich könnte mir den Teil für heute aber trotzdem noch einmal ansehen, damit es gleich flüssiger läuft. Vielleicht bin ich heute etwas abgelenkt."

"Gute Idee", sagte Karola.

Er zögerte.

Sie hob die Augenbraue.

Vielleicht waren ihre Fragen auch einfach nur ein Tritt in den Hintern, damit er aus dem Quark kam. Er wandte sich seinem Skript zu.

👩‍💼

Wieder ging es durch die Flure, durch Türen, Treppen runter und rauf, diesmal nur mit Karola. Wieso wurden es eigentlich immer weniger Personenschützer, je mehr Leuten er begegnete? Auf dem Weg sahen sie fast niemanden; sie waren absichtlich spät dran. Aber gleich würden sie einer ganzen Gruppe gegenübertreten: den Teilnehmern der Vorlesung.

Nun ja, es war seine Vorlesung; nicht gerade ein Publikumsmagnet. "Verba fabularum – Der Wortschatz volkstümlicher Erzählungen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert." Es gab eine gewisse Fluktuation unter den Zuhörern; meist hin zu weniger. Manchmal tauchten aber auch neue Gesichter auf. Nicht ideal, um unbekannte Bedroher zu erkennen. Bert war kein bisschen klar, warum die Personenschützer das als Kleinigkeit ansahen.

Sie betraten den Hörsaal. Bert marschierte direkt zum Pult, nahm die Zuhörer nur aus dem Augenwinkel war. Es waren ungefähr so viele wie beim vorherigen Mal – also ziemlich wenige, gut verteilt. Er stellte sich hinter das Pult, legte sein Skript ab, um seine Hände trocken zu wischen. Karola postierte sich etwas abseits, mit ein paar Zetteln in der Hand, als hätte sie noch irgendwelche Unterlagen, die er später brauchen würde. Wahrscheinlich durchleuchteten ihre Blicke gerade jeden im Saal bis in die Seele.

Das Skript, er musste sich auf das Skript konzentrieren. Eigentlich hatte er die richtige Seite aufgeschlagen, aber beim Hinlegen war es wieder zugeklappt. Er blätterte vor, blätterte zurück, da war die richtige Seite. Er blickte auf, sah jetzt doch ins Publikum. Ein paar bekannte Gesichter. Und da, ganz hinten – da saß der dünne Mann, mit Block und Stift. Vielleicht hatten sich noch mehr Personenschützer unter die "Menge" gemischt? Den Handwerker konnte er jedenfalls nicht entdecken.

Dann fiel sein Blick auf eine Person in der dritten Reihe, die sich anscheinend gerade nach etwas gebückt hatte.

"Oh, nein", flüsterte Bert.

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