Kapitel 15: Rein
"Dr. Hinz", fragte die Richterin, "mit welcher Hand hat der Angeklagte die Pistole gehalten, als er auf Dr. Colshorn geschossen hat?"
Bert zögerte kurz. Doch, er erinnerte sich genau. "Mit der linken."
"Hah!", machte Brunowski laut.
"Ich muss Sie zur Ordnung rufen, Herr Brunowski", sagte die Richterin streng. "Keine Zwischenrufe!"
Brunowski zeigte sich betont unbeeindruckt, nahm mit der linken Hand einen Stift auf, gab ihn in seine rechte und begann damit zu spielen. Das hätte Bert jetzt auch gerne getan.
Die Richterin wandte sich wieder an Bert. "Und mit welcher Hand hat er das Messer geführt, als er Frau Möller damit am Hals verletzte?"
Bert zögerte wieder. Er hatte das Bild vor Augen, aber – es passte nicht zusammen. "Mit... der rechten."
"Sie sagen also, dass dieselbe Person kurz nacheinander zwei Angriffshandlungen einmal mit rechts und einmal mit links ausgeführt hat, ist das richtig?"
"Ja", sagte Bert und schluckte. Die Richterin zweifelte an seiner Aussage. Würde der Boss doch noch ernten, was er gesät hatte?
"Sind Sie sich sicher?"
"Ja", sagte er, so überzeugend er konnte.
"Haben Sie irgendetwas beobachtet, was der Grund dafür sein könnte, dass der Angeklagte mal die eine und mal die andere Hand benutzt hat?"
Bert dachte fieberhaft nach. Ihm war klar, worauf die Richterin hinauswollte: dass jemand Brunowskis 'gute' Hand blockiert hatte, ihn festgehalten oder im Weg gestanden hatte, so dass er auf die andere ausweichen musste. Aber er konnte sich an so etwas nicht erinnern. Als er hinter der Frau stand, hatte er alle Bewegungsfreiheit; als er auf Markus schoss, stand er allein da und hatte freies Schussfeld. Er sah zu Brunowski hinüber.
Der zeigte ein verächtliches, siegesgewisses Grinsen und schwenkte triumphierend seinen Stift in der Rechten.
Den Stift. In der Rechten.
"Als Herr Brunowski Frau Möller angriff, war er vorbereitet", sagte Bert. "Ich habe gesehen, wie er das Messer aus der linken Jackentasche holte und dann in die rechte steckte, als er noch allein war. Als er hinter Frau Möller stand, nahm er es mit rechts heraus und führte es mit rechts. Als Herr Brunowski auf Dr. Colshorn schoss, kam das überraschend. Er hat instinktiv nach seiner Pistole gegriffen und geschossen. Mit links. Vielleicht passt es nicht in sein eigenes Weltbild, nicht zur 'rechten Ordnung', deshalb versucht er, es zu verbergen, wenn er kann, aber Herr Brunowski ist Linkshänder."
"Lüge!", schrie Brunowski.
"Frau Vorsitzende...", fing der Verteidiger an.
"Verleumdung!", brüllte Brunowski.
"Ich muss Sie zur Ordnung rufen!", fuhr die Richterin Brunowski an.
Der sprang auf und zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf Bert. "Du willst mich nur in den Schmutz ziehen, du Ausländerfreund!"
"Herr Brunowski!", schimpfte die Richterin und gab den Justizbeamten ein Zeichen.
Der Verteidiger fasste mit beiden Händen beschwichtigend nach seinem Mandanten. "Herr Brunowski..."
"Fass mich nicht an!", brüllte Brunowski, schlug die Hände weg – und dann dem Verteidiger mitten auf die Nase. Mit links.
Der Verteidiger schrie auf, bedeckte sein Gesicht.
"Und nenn mich nicht bei diesem Namen!", brüllte Brunowski, dann wurde er unsanft ergriffen.
"Du Vollidiot", brüllte der Verteidiger dumpf. Er gab sein Gesicht wieder frei, starrte auf seine Hände; Blut aus der übel lädierten Nase war darauf. "Du blödes Arschloch!"
Bert hoffte, dass diese Feststellungen ins Protokoll aufgenommen wurden.
👩💼
Bert stand in seinem neusten, dunkelblauen Anzug vor dem Seminarraum und zögerte. Es war geradezu seltsam, wieder hier zu sein.
Brunowski war für schuldig befunden und verurteilt. Damit war die allerhöchste Bedrohung für beendet erklärt worden. Allerdings war er immer noch als hochgradig gefährdet eingestuft, solange der Fall gegen den Boss und seine Komplizen nicht abgeschlossen war. Deshalb standen zwei Herren im Anzug neben Bert im Gang und schauten gerade woanders hin, als Svetlana ihm einen Kuss auf die Wange drückte.
Die Universität hatte ihre Haltung zu Personenschutzeinsätzen geändert, nachdem Karolas Auftritt auf ein sehr positives Echo unter den Studenten gestoßen war. Die beiden Männer mussten keine Verwandten von Bert spielen. Es reichte, dass sie sich mit Vornamen anreden ließen und mal die eine oder andere interessierte Frage freundlich beantworteten.
"Du hast es bestimmt nicht verlernt, vor Studenten zu sitzen", sagte Svetlana lächelnd. "Du machst das schon. Ach, heute Abend bringe ich noch einen weiteren Gast mit."
"Oh", sagte Bert verwundert. "Na, wenn das genehmigt ist..." Er warf einen Blick zu seinen Begleitern. Die grinsten nur und gaben einen Daumen hoch.
"Und wer ist es?", fragte Bert.
"Das wirst du bis dahin noch rauskriegen", sagte Svetlana und grinste ebenfalls.
Bert hob eine Augenbraue. Na ja, so halbwegs. Ganz ohne die andere wollte keine bei ihm.
"Und jetzt hopp", sagte Svetlana und klatschte ihm auf den Po. "Die Studenten warten!"
Bert hob tadelnd den Finger, atmete noch einmal tief durch, gab den Personenschützern ein Zeichen und betrat zwischen ihnen den Seminarraum.
Ungefähr vierzig gespannte Augenpaare sahen ihn an. Seine Veranstaltungen waren offenbar deutlich beliebter geworden. Vielleicht lag es am neuen Thema, "Sprachwerbung und Werbesprache – Reklame für oder gegen Sprache?". Vielleicht war es auch einfach "in" geworden, Veranstaltungen mit Personenschutz zu besuchen.
"Guten Tag zusammen", sagte er und setzte sich.
Ein begrüßendes Gemurmel antworte ihm.
Er blickte in die Runde. Ein paar bekannte Gesichter waren dabei, aber die meisten waren natürlich neu; schließlich brauchten die Studenten nur eine begrenzte Anzahl Scheine in jedem Bereich. Herr Kasper war natürlich da; Bert hatte ihm die Hilfskraftstelle gegeben, die ihm neuerdings zugeteilt worden war. Babsi und Conny, hier im Seminarraum natürlich Frau Bohn und Frau Koch, waren auch gekommen, wie sie ihm schon angekündigt hatten.
Und zwischen ihnen saß Karola.
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