Kapitel 14: Raus

Bert lag auf dem kalten, harten Boden. Irgendetwas hatte ihm das Bein weggezogen. Mit schön Abrollen war es nichts gewesen, aber er lag immerhin auf der Seite, im Nebengang.

Vom Hauptgang ertönten eilige Schritte.

Bert versuchte, schnell aufzustehen, doch sein Bein tat zu sehr weh. Er warf einen kurzen Blick darauf: da war Blut. Panisch begann er halb zu kriechen, halb zu robben. Die erste Tür, er musste die erste Tür erreichen.

Die Schritte waren jetzt ganz nah, wurden etwas langsamer.

Berts Hände erreichten bereits die angelehnte Tür, drückten sie ein wenig auf, aber er würde es nicht schaffen, rechtzeitig hindurchzukriechen und sich im Dunkel des Raums zu verstecken.

Die Schritte stoppten.

Zwei Hände kamen aus der Dunkelheit und packten seine. Schemenhaft erkannte er die Gesichter von Babsi und Conny. Sie zogen.

Er warf einen Blick zurück. Der Handwerker streckte Pistole und Oberkörper um die Ecke.

Ein Knall hallte schmerzhaft durch den Gang, dann noch einer.

Der Handwerker ging zu Boden und schrie.

"Waffe weg!", brüllte jemand.

Das ist Karolas Stimme!, dachte Bert, als er in die Dunkelheit gezogen wurde.

👩‍💼

"Ich hätte dich beinahe umgebracht", sagte Bert mit zitternder Stimme.

"Dein Plan war riskant", sagte Karola. "Aber mir fiel auch nichts Besseres ein."

"Um Himmels willen, was ist passiert?", fragte Babsi aus dem Dunkeln.

Bert zögerte. Wie sollte er das erklären?

"Die wollten Bert zwingen, mich zu töten. Bert hat mir mit einem Hinweis auf Rumpelstilzchen zu verstehen gegeben, dass wir uns durch den Boden durchtreten können, um zu entkommen", sagte Karola an seiner Stelle.

"Verrückt", sagte Conny.

"Das ist cool!", sagte Babsi. "Du warst voll im Thema und hast das sofort verstanden, während die Bösen nichts kapiert haben, richtig?"

"Richtig", sagte Karola. "Wobei du völlig übertrieben hast, Bert. Ich dachte, die töten dich auf der Stelle."

"Hey", sagte Bert, "ich musste improvisieren. Ich hatte auch keine Ahnung, wie viel du hören konntest."

Es gab ein Knacken und eine kryptische Ansage ertönte leise. Der Polizist an der Tür sprach eine ebenso kryptische Antwort in sein Funkgerät, senkte seine Maschinenpistole und öffnete die Tür des Raums ganz. Mehr Licht kam herein, Bert konnte jetzt auch die anderen zwei Polizisten, Karola, Babsi und Conny wieder erkennen.

Von draußen kamen schnelle Schritte und ein Rumpeln, dann betraten eine Notärztin und zwei Sanitäter mit einer Trage den Raum.

"Können wir etwas mehr Licht haben?", fragte die Notärztin.

Ein Sanitäter holte eine Handlampe hervor und hielt sie hoch. Die Notärztin orientierte sich kurz, dann kniete sie sich neben Bert. "Vorbildlich erstversorgt", sagte sie mit Blick auf das Bein. Sie sah kurz zu Karola, die auf der anderen Seite hockte. "Ihre Arbeit?"

Karola schüttelte den Kopf. "Das waren die beiden." Sie deutete auf Babsi und Conny, die am Rand des Lichtkegels saßen und gespannt zusahen.

Die Notärztin gab den beiden einen Daumen hoch. "Sehr gut. Ich wünschte, mehr Leute würden sich auskennen."

Babsi strahlte, und sogar Conny lächelte.

Die Notärztin begutachtete und betastete Berts restlichen Körper.  "Was haben Sie denn noch alles gemacht, außer auf sich schießen zu lassen?"

"Treppe runtergefallen", murmelte Bert.

"Aha", sagte die Notärztin und wandte sich an einen der Polizisten. "Wir müssen diesen Mann so bald wie möglich ins Krankenhaus bringen. Können wir hier raus?"

Der Polizist gab die Anfrage weiter an sein Funkgerät. Das Funkgerät knackste und gab eine kryptische Antwort. "Ist okay", sagte der Polizist. "Wir haben die Freigabe für die Evakuierung."

"Schön", sagte die Notärztin, während der zweite Sanitäter die Trage klarmachte.

Die Helligkeit draußen war erst einmal sehr ungewohnt nach dem Dunkel der alten Fabrik. Mit zusammengekniffenen Augen erkannte Bert jede Menge Polizisten, die einzeln und in Gruppen herumstanden, wachsam aussahen oder in Funkgeräte sprachen. Weiter hinten, Richtung Straße, waren Blaulichter zu sehen, auf die sie jetzt zusteuerten. 

Auf halbem Weg wurden sie bereits erwartet – von Svetlana, Ogün und Kettler.

"Was macht ihr denn hier?", fragte Bert. Babsi und Conny hatten bisher nur verraten, dass sie Bert und Karola gefolgt waren.

"Bert!", rief Svetlana, stürzte auf die Trage zu, ergriff seine Hand – dann beugte sie sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. "Was ist mit dir passiert?"

Bert war total überrumpelt. Zum Glück kam sein Lächeln von allein.

"Der wird schon wieder", sagte die Notärztin.

Svetlana setzte ein tapferes Lächeln auf, drückte noch einmal Berts Hand. Dann ließ sie los, drehte sich zu Karola um – und umarmte sie. Wenigstens war Karola mindestens genauso verblüfft wie Bert. 

Svetlana ließ Karola los und sah sie an. "Ich hatte Angst um euch beide", sagte sie.

Karola lächelte leicht.

"Es war doch jemand aus deinem Team, oder?", fragte Svetlana.

Karolas Lächeln erlosch. Sie nickte.

"Das tut mir so leid", sagte Svetlana.

"Hier muss es aber weitergehen", sagte die Notärztin. Die Sanitäter schoben die Trage vorsichtig weiter über den Trampelpfad, die anderen liefen nebenher.

"Mir tut es auch sehr leid", ließ sich Kettler vernehmen. "Frau Kollegin, und vor allem Dr. Hinz – ich kann Ihnen nur mein aufrichtiges Bedauern aussprechen. Ich hätte nie gedacht, dass es zu so etwas kommen würde."

"Nun, Sie sind jetzt ja hier, und Sie haben noch ein paar Leute mitgebracht", sagte Bert.

"Das haben Sie Frau Vostokov zu verdanken", sagte Kettler. "Oder muss ich Dr. Vostokov sagen?"

Svetlana winkte ab.

"Frau Vostokov hat mir, um ihre eigenen Worte zu verwenden, 'die Hölle heiß gemacht', dass ich die selbige und den Himmel dazu in Bewegung setze. Zum Glück traf es sich, dass ich gerade die Bestätigung vom Labor hatte, dass der Kaffee wirklich vergiftet war, und das Ergebnis von den Kollegen, dass der Überbringer keiner von uns gewesen sein kann."

"Na, so ein Glück", sagte Ogün trocken.

"Dr. Hinz", sagte Kettler. "Ich kann Sie nur inständig bitten, trotz allem das Ihrige dazu zu tun, dass wir das alles stoppen können."

"Schon gut", sagte Bert. "Jetzt will ich aber erst einmal von meinen Kollegen und Studenten wissen, wie sie überhaupt hierhergekommen sind!"

"Tja", sagte Ogün. "Die jungen Damen haben darauf bestanden, dass wir euch nicht aus den Augen lassen dürfen. Svetlana hat sich sofort auf deren Seite geschlagen. Also habe ich schnell ein zweites Taxi gerufen, wir haben uns alle reingequetscht, und dann habe ich's wie im Film gemacht. Ich habe dem Fahrer gesagt: 'Folgen Sie dem Taxi!'"

"Aber...", sagte Bert. "Wir hätten euch doch gesehen, als wir ausstiegen."

"Tja, wir sind halt gut", sagte Ogün.

"Der Taxifahrer war gut", sagte Svetlana. "Der wollte sowas auch schon immer mal machen. Er hat Abstand gehalten und ist nicht in die Straße reingefahren. Er hat einfach auf euren Taxifahrer gewartet und ihn gefragt. Dann haben wir ins Navi geguckt, und Ogün hat die alte Fabrik wiedererkannt, bei der du schon mal mit ihm warst. Conny und Babsi meinten, das könnte doch kein Zufall sein."

"Wir sind zu dieser Seite gefahren", sagte Ogün, "und haben uns angeschlichen. Als wir Schüsse gehört haben, haben Svetlana und ich die Polizei gerufen. Dafür mussten wir bis zum Taxi zurück; ist ja das totale Funkloch hier. Die jungen Damen sollten eigentlich nur draußen vor der Fabrik bleiben und weiter beobachten."

"Von draußen konnte man ja gar nix sehen", sagte Babsi. "Und da Herr Boratav uns den geheimen Eingang gut beschrieben hat..."

"Klar", sagte Ogün. "Alles meine Schuld."

"So", sagte die Ärztin. "Genug." Sie waren bei den Blaulichtern angekommen; eines gehörte zum Rettungswagen. "Jetzt geht's in Krankenhaus – mit Eskorte, habe ich gerade erfahren. Das wollten Sie doch auch bestimmt immer schon mal."

"Geht so", meinte Bert.

👩‍💼

"Sehr schön, Frau Bohn", sagte Bert in das Tablet auf seinem Schoß. 

Vom Bildschirm her strahlte Babsi in an. Ihr Referat über "Adstrate in Rapunzel" war wirklich sehr gelungen, und sehr gut vorgetragen. Mit Sicherheit der lebhafteste Vortrag des Seminars.

"Ich habe dem nichts hinzuzufügen", sagte Bert. "Aus meiner Sicht war alles drin. Gibt es von den anderen Teilnehmern noch Fragen?"

Das Bild schwenkte einmal in die Runde über alle Teilnehmer. Alle schüttelten nur den Kopf oder gaben einen Daumen hoch. Dazwischen sah Bert sich selbst an die Wand projiziert. Automatisch prüfte er den Hintergrund – nein, alles in Ordnung, nichts zu sehen, was da nicht sein sollte.

"Gut", sagte er. "Herr Kasper, was ist mit Ihnen?"

Ein erhobener Daumen erschien groß im Bild.

"Prima", sagte Bert. "Dann danke ich Ihnen allen, dass Sie an diesem Seminar teilgenommen habe, und besonders Herrn Kasper für die technische Unterstützung bei den letzten Sitzungen. Bitte reichen Sie Ihre Ausarbeitungen zeitnah ein, wenn Sie das noch nicht getan haben. Für Fragen stehe ich weiterhin jederzeit per E-Mail zur Verfügung. Dann wünsche ich Ihnen eine schöne vorlesungsfreie Zeit."

Ein allgemeines Verabschiedungsgemurmel und Einpackgelärme begann. Herr Kasper hatte noch ein paar Dinge mit Bert abzustimmen, dann beendeten sie die Verbindung; das Seminar war vorbei.

Bert ließ das Tablet sinken. Ein Kontakt weniger zur Welt da draußen. Es war nett hier, in seinem geheimen Unterschlupf, der ihm gleichzeitig als Reha-Klinik diente, bewacht von einem neuen Team. Allerdings durfte ihn niemand persönlich besuchen; niemand durfte wissen, wo er war. Es hatte einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, die Online-Sitzungen für das Seminar genehmigt zu bekommen. Die Lösung mit der Kamera war etwas krude, aber angeblich hochsicher. Zum Glück hatte sich mit Herrn Kasper sofort jemand gefunden, der sich auf der anderen Seite darum kümmern konnte. Das hatte Kasper offenbar auch Bonuspunkte bei Babsi und Conny eingebracht – was vielleicht der Hauptzweck der Übung gewesen war.

Mit Svetlana konnte er auch Videoanrufe machen; das war schon schön. Sonst war er auf reine Audioanrufe über ein sicheres Handy und E-Mails über einen ebenfalls gesicherten Account beschränkt.

Er vermisste Karola. Sie hatte nicht nur nicht Teil des neuen Teams sein können, er durfte nicht einmal Kontakt zu ihr aufnehmen. Laufende Ermittlungen. Das war bitter. Sicher, es war ihr Team gewesen, aus dem der Verrat kam, aber nicht von ihr! Sie war beinahe selbst zum Opfer geworden! Hoffentlich hatte sie jetzt wenigstens eine Erholungspause.

Ein Pling kündigte eine E-Mail an und riss ihn aus seinen Gedanken. Er rief die Nachricht auf. Von seiner Mutter: Du rufst nie an.

Er seufzte und griff zum Telefon.

👩‍💼

"... Und wann kommst du endlich mal da raus, Hubert?", fragte seine Mutter.

"Wie ich schon sagte, Mutti, erst zum Prozess."

"Mutti?", fragte seine Mutter in sehr misstrauischem Tonfall. "Soll das eine Anspielung auf Merkel sein?"

"Nein, soll es nicht", sagte er und seufzte. Egal wie er es machte... "Karola fand es seltsam, dass ich dich mit 'Mutter' anrede, da dachte ich, vielleicht wäre es tatsächlich netter, wenn ich 'Mutti' sage. Aber wenn es dir nicht gefällt..."

Es blieb für einen Moment still in der Leitung. "Doch, das hat schon was. 'Mutter' fand ich immer ein bisschen sehr distanziert. Was ist eigentlich mit Karola? Wann siehst du die denn wieder... Bert?"

"Ich weiß es nicht", sagte Bert. Er musste einmal durchatmen, bevor er das nächste aussprechen konnte. "Vielleicht nie."

👩‍💼

Der Gerichtssaal wirkte sehr amtlich mit der erhöhten Richterbank, dem Block für Staatsanwaltschaft rechts und der Anklagebank links, dem Armesünderplätzchen für Zeugen in der Mitte. Es war voll, trotz der Sicherheitsvorkehrungen. Oder vielleicht war es durch sie sogar extra voll.

"Zum Aufruf kommt die Sache Harald Brunowski", verkündete die Richterin.

Bert stutzte. Brunowski?

"Ich stelle fest, dass der Herr Staatsanwalt zugegen ist, der Angeklagte, Herr Harald Brunowski, Herr Meier als Strafverteidiger, und dann die Zeugen, Herr Bauer ist..."

Bauer? Wer war das denn? Ein älterer Mann, den Bert noch nie gesehen hatte, hob die Hand. 

"... da, gut, und Dr. Hinz..."

Bert hob die Hand. 

"... auch, sehr gut. Weitere Zeugen gibt es nicht."

Gut, dann dauerte es vielleicht nicht so lange.

"Als Sachverständige sind benannt Prof. Dr. Volkmann, ist anwesend, und Dr. Hauff, ebenfalls."

Sachverständige – dann gab es hoffentlich doch noch ein paar Beweise.

"Dann belehre ich hiermit die Zeugen", fuhr die Richterin fort, "dass Sie vor Gericht die Wahrheit sagen müssen. Wenn Sie falsche Angaben machen, ist das eine strafbare Handlung. Wenn Sie etwas nicht mehr genau wissen, dann sagen Sie lieber, dass Sie es nicht mehr genau wissen, bevor Sie eine Falschaussage machen. Sie dürfen auch nicht verschweigen, was Sie wissen; auch das ist eine strafbare Handlung. Haben Sie das verstanden?"

Bert nickte. Herr Bauer bekundete anscheinend ebenfalls Zustimmung.

"Vielen Dank. Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihr Kommen und muss Sie jetzt bitten, draußen Platz zu nehmen, da Sie den weiteren Verlauf der Verhandlung bis zu Ihrer Aussage nicht mitverfolgen dürfen."

Bert seufzte. Das war ja noch schlimmer, als zuzusehen. Ächzend erhob er sich.

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