Kapitel 1: Am falschen Ort
"Ich sollte nicht hier sein", sagte Bert und spähte missmutig durch die Scheiben des Autos nach draußen in Dunkelheit und Nieselregen.
"Jetzt fang nicht schon wieder an", sagte Markus. "Raus mit dir!" Er selbst ging mit gutem Beispiel voran, riss die Fahrertür auf und wuchtete seine massige Gestalt auf die Straße.
Bert seufzte, öffnete die Beifahrertür und kletterte langsam aus dem Auto. Warum war Markus abends immer so munter? Er selbst war nach einem langen Tag am Schreibtisch immer nur müde.
"Tür zu!", rief Markus.
Mit gerade genug Schwung ließ Bert die Tür ins Schloss fallen. Die Zentralverriegelung griff sofort und das Auto zeigt mit hektischem Blinken, dass es sich sicher verschlossen hatte. Typisch, Markus hatte den Knopf schon gedrückt, bevor die Türen zu waren.
"Komm endlich", rief Markus und rannte über die Straße.
Bert sah erst nach links, dann nach rechts. Kein Auto, kein Fahrrad, nichts. Das Wetter war mies und das kombinierte Wohn- und Gewerbegebiet hatte abends sowieso nichts zu bieten. Er schlurfte über die Straße.
"Hier ist es", sagte Markus und deutete auf ein Gründerzeithaus.
Bert trottete auf den Eingang zu.
"Nicht vorne", sagte Markus und ging voraus in einen schmalen Gang zwischen dem Haus und seinem linken Nachbarn.
Bert folgte zögernd. Der Gang war eine schwarze Schlucht; das Licht von den Straßenlaternen reichte gerade einmal, um schemenhaft ein paar Mülltonnen und eine Reihe von Fahrrädern zu erahnen. "Warst du schon mal hier?"
"Nein, war ich nicht", sagte Markus. "Svetlana hat mir den Weg beschrieben."
"Dir, aber nicht mir", sagte Bert. "Ich bin überhaupt nicht wirklich eingeladen."
Markus fuhr herum. Bert konnte gerade noch bremsen, bevor er in Markus ausgestreckten Finger lief.
"Zum letzten Mal!", sagte Markus. "Sie hat dir gesagt, dass sie die Party feiert. Das ist eine Einladung! Sie hat ein bisschen herumgedruckst, weil sie Interesse an dir hat. So benehmen sich normale Menschen! Und wenn du nicht so stieselig gewesen wärst, zu deiner Vorlesung zu eilen, hätte sie dir auch noch die Wegbeschreibung sagen können. Kapiert?"
"Klar. Schrei es noch durch die ganze Straße."
"Ich schreie überhaupt nicht! Du bist nur überempfindlich. Und jetzt folg mir, aber sei vorsichtig. Das Licht ist kaputt."
Sei vorsichtig, das musste ausgerechnet Markus sagen. Bert hatte schon erwartet, die Fahrräder wie Dominosteine umfallen zu sehen. Oder zumindest zu hören. Weiter hinten war der Gang wirklich finster.
"Kommt der Eingang bald?", fragte Bert.
"Wir müssen praktisch da sein", antwortete Markus. "Noch ein paar Schritt..."
Ein dumpfer Schlag ertönte. Markus fluchte. "Na bitte", sagte er etwas gepresst, "schon da."
Bert hörte schabende Geräusche. "Was machst du da?"
"Die Klingel suchen, natürlich!"
Bert griff in seine Hosentasche, holte sein Handy heraus und aktivierte die Taschenlampe.
"Da hättest du auch eher drauf kommen können", sagte Markus. "Na schön, leuchte mal dahin... Nee... Probier mal da. Auch nicht... Irgendwo muss doch... Verdammt!" Er schlug gegen die Tür – und sie schwang auf. "Na bitte", sagte Markus.
Hinter der Tür kam ein Flur zum Vorschein, der von hoch gestapelten Kartons gesäumt war. Wenn es einen Lichtschalter gab, war er zugestellt.
"Zieht wohl jemand aus", meinte Markus. "Komm." Er stürmte hinein, obwohl Bert die Lampe hatte.
Bert hatte gerade sagen wollen, dass ihm das alles nicht sehr einladend vorkam, aber jetzt drückte er schnell die zufallende Tür wieder auf und beeilte sich, Markus mit dem Licht hinterherzukommen.
Nach einem kurzen Stück knickte der Flur nach rechts – und Markus blieb dort plötzlich stehen und drehte sich um. "Lass die Tür lieber nicht..."
Es gab ein leises Klicken hinter Bert.
"...zufallen", sagte Markus. "Na toll!" Er drängte sich an Bert vorbei, dass die Kartons bedrohlich schwankten, und stürzte zu Tür. "Leuchte mal hierher!"
Bert tat, wie ihm geheißen. Es gab keine Klinke, keinen Griff, keinen Knauf, nur ein Schlüsselloch.
"Wie sollen wir die denn wieder aufkriegen?", fragte Markus. Er krallte seine Finger in den Rand, aber das funktionierte nicht.
"Willst du schon wieder gehen?", frage Bert.
"Komm mal mit", sagte Markus, drängte sich wieder an Bert vorbei, ging zum Knick und wies dramatisch um die Ecke. Der Flur war dahinter schon wieder zu Ende und führte auf einen Innenhof.
"Ich glaube, wir haben die richtige Tür verpasst", sagte Markus.
Hohe Mauern und finstere Fenster vermittelten in der Tat den Eindruck, dass sie hier völlig falsch waren.
"Nützt nix", sagte Markus. "Wir müssen weiter, es gibt kein Zurück."
Na wunderbar, dachte Bert und folgte Markus, der einfach drauflos stapfte. Es gab nur einen Weg, über den Hof in einen weiteren Gang. Zwei Türen im Gang erwiesen sich als verschlossen. Zweimal um die Ecke kamen sie zu einem weiteren Innenhof, zu dem ihnen Holzkisten fast völlig den Weg versperrten. Sie waren jetzt offenbar auf einem Firmengelände, eingezwängt zwischen den Wohnhäusern des Blocks. Eine einsame Lampe erleuchtete den Hof und die umliegenden flachen Gebäude äußerst spärlich.
Markus schickte sich an, sich zwischen den Kisten durchzuzwängen.
"Wart doch mal", sagte Bert. "Die haben vielleicht eine Alarmanlage hier. Oder Hunde. Lass uns lieber zurückgehen. Irgendwie kriegen wir die Tür schon auf."
"Sei kein Hasenfuß", sagte Markus. "Die Firma muss eine Zufahrt haben, da kommen wir bestimmt zur Straße. Dann gehen wir außen rum und alles ist gut." Er schob eine Kiste etwas zur Seite, gegen deren leisen Protest, aber da waren noch andere Geräusche.
"Pst, ich hör was", zischte Bert.
"Prima, wenn jemand da ist, kann er uns doch gleich den Weg zeigen."
"Oder die Polizei rufen – oder die Hunde auf uns hetzen", sagte Bert. "Komm, wir gehen erst einmal in Deckung."
"Hasenfuß", sagte Markus, hockte sich aber doch zu Bert hinter die Kisten.
Die Geräusche wurden eindeutig zu Schritten. Ein Mann trat auf den Hof, lief bis zur Mitte und blieb dort stehen. Gegen die Lampe war er nur als Silhouette zu sehen; er hatte eine Glatze und trug offenbar einen Anzug. Vielleicht der Chef der Firma? Er griff in die linke Tasche seines Jacketts, holte etwas hervor. Einen Schlüssel? Nein, es war etwas längliches, dünnes. Er wog es in der Hand, griff es mit der anderen Hand und steckte es in die rechte Tasche. Dann verharrte er regungslos, den Blick auf eine Tür gerichtet.
Die Tür öffnete sich. Heraus trat eine Frau im Kostüm sowie zwei Männer in Anzügen, zu denen die Sturmhauben über ihren Köpfen gar nicht passen wollten. Auch die Handschuhe wirkten ungewöhnlich.
Die Frau bewegte sich langsam, in kleinen Schritten, zuckte gelegentlich.
"Harald", sagte sie, als sie bei dem unmaskierten Mann ankam. Sonst nichts.
"Else, Else, Else", antwortete der. "Ich bin sehr enttäuscht. Du hast unsere Sache verraten."
"Nein!", sagte die Frau. "Ich stehe voll und ganz zur rechten Ordnung. Ich habe alles nur dafür getan! Ich will meine naturgegebene Rolle einnehmen, wenn es so weit ist, aber bis dahin braucht unsere Sache doch jeden Streiter!"
"Streiter, ganz genau, nicht Streiterin", sagte Harald. "Eine Frau 'streitet' nicht, sie kämpft nicht, sie drängt sich nicht nach vorn. Sie unterstützt, sie hilft, sie erfüllt ihre Pflichten, damit Männer die ihren erfüllen können. Das sind doch auch deine Ideale! Du trittst nicht für sie ein, indem du sie missachtest, sondern indem du sie erfüllst und ein Beispiel bist. Taten sprechen die deutlichsten Worte! Hast du mich verstanden?"
"Was faselt der?", knurrte Markus in Berts Ohr.
Bert schrak zusammen. "Pst!" Markus konnte einfach nicht leise reden. Oder still halten. Zum Glück schienen Harald und die anderen nichts gemerkt zu haben.
Bert kam das "Gefasel" nicht unbekannt vor. Rechte Ordnung, das war das Schlüsselwort für eine reaktionäre Bewegung, die erschreckend viel Zulauf bekam. Wollten die nicht sogar als Partei antreten?
Else hatte noch nicht geantwortet.
"Muss ich diese beiden Herren bitten", fragte Harald, "dir die rechte Ordnung noch einmal deutlich zu machen?"
Else schluchzte. "Ich habe verstanden", sagte sie. "Ich habe schon online den Rückzug von meiner Kandidatur angekündigt. Ich trete zurück ins Glied, wie es sich gehört."
"So ist es recht", sagte Harald. "Wir müssen zeigen, was gut und richtig ist – und was nicht. Eine angestammte Bürgerin, die weiß, wo ihr Platz ist – das ist gut. Das hier um uns herum, diese Firma – das ist schlecht. Die Firma war gut, gegründet und geführt von einer angestammten Familie. Doch dann wurde sie verdrängt, von Ausländern, von Leuten aus einem Land, wo die einzige Ordnung die des besseren Messerschwingers ist."
"Den Schwachsinn höre ich mir doch nicht an!", zischte Markus.
"Sei still!", zischte Bert und hielt ihn am Arm fest. Er hatte zwar auch keine Lust, sich das anzuhören, aber die beiden Maskierten gaben ihm ein sehr ungutes Gefühl.
"Ich werde tun, was ich kann", sagte Else, "um das richtigzustellen."
"Nein, nein, nein", sagte Harald. "Wieder falsch. Du begreifst es einfach nicht. Das ist nicht deine Aufgabe. Taten müssen sprechen, aber Taten, solche Taten, werden nicht von Frauen getan. So erreichen wir die rechte Ordnung nicht."
"Es tut mir leid." Else bebte. "Ich werde unterstützen, wo ich kann."
"Das klingt schon viel besser", sagte Harald und stellte sich hinter Else. Jetzt war sein Gesicht deutlich im Licht. Brun, das war Harald Brun. Bert erkannte ihn aus den Nachrichten. Else wollte sich zu ihm drehen, doch ein Maskierter hielt sie mit der Hand an der Schulter zurück.
"Das klingt kacke", sagte Markus, "und das sag ich dem Typen jetzt ins Gesicht."
"Bleib in Deckung!", zischte Bert und hielt Markus Arm noch fester.
"Taten müssen sprechen", sagte Brun und zog das längliche Ding aus der Tasche. Bert sah jetzt, dass Brun auch Handschuhe trug. Gehörte Handschuhtragen zur rechten Ordnung?
"Gute für uns", sagte Brun. "Schlechte für die anderen – wie zum Beispiel von Ausländern begangene Verbrechen." Etwas blitzte auf, dann schoss seine Hand hoch und machte eine ruckartige Bewegung unter Elses Kinn.
Ein erstickter Schreck verzerrte ihr Gesicht, ihre Hände hoben sich ein Stück, dann sackte sie in die Knie. Blut strömte aus ihrem Hals.
"Nein!", schrie Markus und sprang auf. Gelähmt vor Schreck konnte Bert ihn nicht mehr halten. Mit einem Urschrei durchbrach Markus die Kistenbarriere und stürzte auf Brun zu. Der ließ das Messer fallen, griff hektisch nach hinten. Die Maskierten gingen in Kung-Fu-Positionen. Markus holte noch im Rennen zu einem gewaltigen Faustschlag aus. Bruns Linke schoss nach vorn. Ein Knall stach in Berts Ohren. Ein zweiter. Markus sackte einfach zu Boden.
Ein Maskierter griff Brun von hinten, drückte ihn runter und schob ihn zugleich von Markus weg. Der andere zielte mit einer Pistole nach links, nach rechts – dann genau auf die Lücke, durch die Bert spähte. Bevor Bert reagieren konnte, zeigte die Pistole schon woanders hin.
Brun schimpfte auf den einen Maskierten ein, er solle ihn loslassen, der schimpfte zurück, er solle unten bleiben.
Bert hockte erstarrt hinter den Kisten. Er hatte Angst, Angst, dass sie ihn dort finden würden, wenn er da blieb, Angst, dass sie ihn erschießen würden, wenn er weglief. Weglief? Wohin? Zur Tür, die nicht aufging? Er saß in der Falle. Er war bereits so gut wie tot. Es war nur eine Frage der Zeit. Hilfe, er brauchte Hilfe. Aber woher sollte die kommen?
Notruf. Er konnte den Notruf wählen. Er blickte auf sein Handy, wischte. Auf dem Entsperrbildschirm war der Button, den er immer sorgsam vermieden hatte. Er drückte drauf. Verbindung wird aufgebaut...
Ein schneller Blick zu den Männern. Der eine Maskierte kam näher! Verdammt! Er musste weg! Er ging auf alle Viere, krabbelte rückwärts, Stückchen für Stückchen. Wo lang? Schneller Blick zurück. Zur Ecke.
Blick nach vorn. Er konnte den Mann nicht mehr sehen; wie nah war er? Schneller krabbeln? Sein Fuß knallte gegen etwas Hartes. Die Mauer, er hatte die Ecke knapp verfehlt.
Schnell, rum!
Die Ecke ging nicht weit genug herum, er konnte die Kisten noch sehen. Wenn er sich aufrecht an die Wand drückte? Wirklich aufstehen? Bauch sagt nein, Kopf sagt ja. Er schob sich an der Wand hoch, presste sich dagegen. Besser, aber noch nicht perfekt. Weiter, weg von der Ecke.
Da, eine Bewegung! Einer der Maskierten – er checkte die Stelle hinter den Kisten, wo er gerade noch gewesen war! Bert hielt die Luft an. Wenn jetzt nur das Handy nicht losquatschte. Er schielte darauf: Kein Empfang. Fluch und Segen. Der Maskierte drehte sich weg, verschwand aus dem Sichtfeld.
Gut. Langsam weiter. Noch ein Stück. Noch ein Stück. Wie weit bis zur nächsten Ecke? Er drehte den Kopf. Ein paar Schritte. Eine Ewigkeit im An-der-Wand-lang-Schieben. Kurz entschlossen drehte er sich um und rannte, schlitterte um die Ecke.
Ein Knall, Nadelstiche trafen ihn von hinten. Er rannte weiter. Es hatte keinen Zweck, aber er rannte. Da, der Eingang zu dem Flur, ein finsteres Loch ohne Ausweg. Gab es keinen anderen Weg?
Ein weiterer Knall. Bert stürzte sich ins Dunkle, taumelte nach ein paar Schritten in die Kartons, fiel. Kartons stürzten auf ihn, begruben ihn. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Absolute Dunkelheit umgab ihn. Nein, da war ein Licht: sein Handy.
"Notrufzentrale", sagte eine Stimme. "Um was für einen Notfall handelt es sich?"
"Hilfe", krächzte Bert. "Ich werde umgebracht!"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top