Ein Kinderwagen ohne Bremsen


„Namjoon, sieh dir doch nur einmal diese kleine, feine Nase an. Aww, hast du jemals solche winzigen Lippen gesehen? Süß! Och nicht doch, bei diesen vollen Wangen könnte ich dahin schmelzen. Wie können so kleine Menschen nur so niedlich sein? Wie? Ach, manchmal wünschte ich, wir wären Menschen und keine Engel, so gerne hätte ich mein eigenes kleines Töchterchen oder meinen eigenen kleinen Sohnemann."
„ Sei nicht traurig, mein Schatz. Ich weiß, du wünschst dir eigene Kinder, doch glaube mir, Jin, ein Mensch zu sein ist nicht so schön, wie du dir manches vorstellst. Du bist auf dich allein gestellt, außer du vertraust deinen Freunden, von denen du nie wissen kannst, was sie in ihrem Inneren bedrückt. Sie sind keine Engel, die von Anfang ihrer Geburt an der Charakter waren, der sie heute sind. Sie haben sich zu diesem entwickelt, indem sie jeden Tag aufs Neue Eindrücke in sich aufgenommen haben - Gutes wie Schlechtes. Nur daher kennen sie Gut und Böse, Moral, Anstand, Gefühle und Motivationen, mit denen sie ihr Leben irgendwie bestreiten müssen. Was für sie jedoch gut und was schlecht ist, das legen sie ganz für sich allein fest, und daher läuft das Leben auf der Erde nun einmal nicht so rund wie bei uns oben im Himmel."
„ Ich weiß, Joonie. Ich habe schon viel Elend mit ansehen müssen, mehr als du dir jemals vorstellen könntest."
Die beiden Engel verstummten, ihre Blicke trübten sich und aus ihren traurigen Augen tropfen salzige Tränen.

Als die beiden sich bei Sonnenaufgang dazu entschieden hatten, ihren kleinen Schützling und seine Mutter beim allmorgendlichen Spaziergang zu begleiten, ahnten sie noch nicht, welch rasanter Tag auf sie warten würde.
Das letzte Mal, dass die beiden die Erde betreten und sich von ihrer gemeinsamen Wolke erhoben hatten, war am Tag der Geburt gewesen. Seit jeher waren drei Monate ins Land gezogen, drei sehr ruhige und entspannte Monate. Die anderen vier Engel hatten, ähnlich wie das verliebte Pärchen, in dieser Zeit hauptsächlich vom Himmel aus Wache gehalten, sie hatten ihren Schützling mit wachsamen Augen durch sein erst kurzes Leben begleitet und ihn Heiligabend mit all ihrer Liebe und der Liebe Gottes gesegnet. Sie freuten sich dem kleinen Jungkook beim Großwerden zu zusehen und genossen die Freiheit, die ihnen der Kleine ließ. Erst am heutigen Tag, den 27. Dezember, überkam sie dieses Gefühl, welches ihnen in den Mägen kribbelte, welches sie reizte und zwickte und welches sie leider nur zu gut kannten. Es war das Gefühl, dass ihnen sagte: Bald würde etwas Schlimmes passieren.

So waren die beiden Engel im Hause der Familie Jeon eingekehrt und hatten sich mit dieser an ihren Frühstückstisch niedergelassen.  Sie konnten in aller Ruhe ihren Schützling beobachten, wie dieser an Mamas Brust saugte, und das morgendliche Geschehen des Familienhaushaltes hautnah miterleben ohne Vater, Mutter und Sohn nur im Geringsten zu stören. Für alle drei Familienmitglieder würden sie, solange die Engel über die Menschen wachen, ein form-, farb- und gestaltloser Nebel bleiben.
Doch irgendetwas schien heute anders zu sein. Seitdem die Mutter ihren kleinen Sohn im Arm haltend die Küche betreten und sich zu Tisch gesetzt hatte, verspürte Namjoon ein Gefühl, als verfolgten ihn Blicke bei jeder seiner Bewegungen, als würde irgendetwas ihn mustern, wie er die Hand seines Liebhabers hielt. Doch jedes Mal, wenn der Engel sich im Raum umsah, fiel ihm weder ein kleines Haustier noch ein anderes Wesen auf, das auf ihnen herab sehen könnte. Hin und wieder war ihm ein ähnliches Gefühl gekommen, wenn seine Schützlinge Hunde hielten. Diese Tiere waren nämlich tatsächlich in der Lage, etwas heraus zu riechen, dem die Menschen zu sehen nie im Stande wären – so auch die Schutzengel, welche sie friedlich umgaben. Jedoch blickte er auf kein weiches Fell, auf schlappe, große Ohren oder eine feucht glänzende Nase, das Einzige, was er sah, war ein Paar großer, fast schwarzer Augen.
Diese Augen gehörten ihrem kleinen Schützling und waren mit Abstand das Faszinierendste, was dem Engel je unter gekommen ist. Sie waren so groß und funkelten so sehr, dass es ihm so vorkam, als würde er den Sternenhimmel sehen. Der Sternenhimmel war das, was der Engel am meisten vermisste, seitdem er im Himmel aufgewacht war. Der junge Astrophysiker vermisste nichts so sehr wie seine Sterne und das elende Weiß, in dem er nun bis in die Ewigkeit gefangen bleiben sollte, langweilte und deprimierte ihn zutiefst.

„Joonie, ist alles in Ordnung?", fragte Seokjin besorgt. Sein Freund war mit einmal so ruhig geworden und wirkte mit seinen Gedanken irgendwo anders nur nicht am Esstisch der Familie Jeon. Er war so abgelenkt und unkonzentriert, dass Jin nicht anders konnte, als sich zu sorgen. Er wusste, dass sein Liebhaber hin und wieder Probleme hatte, bei allem so zwanglos zu handeln wie er, wie Hoseok und Yoongi, wie Jimin und Taehyung, wie alle anderen Engel es taten. Namjoon war nicht als Engel geboren worden und Jin war bewusst, dass, egal wie lang sein Joonie ein Engel sein müsse, er im tiefsten Herzen für immer ein Mensch sein würde. Dass der Engel jedoch mitten eines Erdaufenthaltes so aus der Rolle fiel, war mehr als nur seltsam. Es beunruhigte Jin zutiefst und er wiederholte:
„Geht es dir gut? Wenn es dir zu viel wird, sag es mir, Schatz. Du verhältst dich gerade so komisch, das passt gar nicht zu dir."
„Ja, alles bestens. Ich war gerade nur so überrascht, der Kleine hat ja wirklich einzigartige Augen."
„Das stimmt, der Kleine ist etwas ganz besonderes. Nun komm, seine Mutter möchte mit ihm etwas spazieren gehen. Wir sollten ihnen folgen."

Nun standen sie hier, vor den Kinderwagen, und beäugten Ihren kleinen Schützling, während Jin diesem zärtlich über den noch viel kleineren Bauch strich und Namjoon Jin die Tränen aus dem Gesicht wischte. In der Weile schlief Jungkook friedlich in seinem kleinen Bettchen, er hatte sich in eine große, dicke Decke eingekuschelt und grinste unschuldig vor sich hin. Es ließ fast den Anschein aufkommen, als könnte er die Bewegungen von Jins Hand wirklich spüren und würde sich diesen hingeben, auch wenn das doch gar nicht möglich sein konnte. Stattdessen genoss der Säugling wohl viel eher die Wärme der dicken Decke, die ihn von der kalten, schneeweißen Umgebung schützte. Der Mutter hingegen fröstelte es schon mehr. Gestern hatte sie sich vorgenommen, mit ihrem Sohn die Eltern besuchen zu gehen, hatte sich darauf sogar schon gefreut und dennoch bereute sie jetzt ihre Entscheidung. Der Wohnblock, indem die Großeltern von Jungkook wohnten, war noch einige Straßen entfernt und ihr schmerzten bereits jetzt schon die Füße. Aufgrund der Schwangerschaft hatte sich nicht nur ihr Bauch sondern auch ihre Füße etwas aufgebläht, Wassereinlagerungen hatten es ihr unmöglich gemacht Schuhe zu tragen und waren leider immer noch nicht ganz abgeklungen. Doch sie würde jetzt keine Trübsal blasen. Nur noch drei Straßen, sagte sie sich selbst und ging mit den Kinderwagen auf die nächstbeste Ampel zu. Namjoon und Jin flogen ihr gemächlich hinterher, als es plötzlich passierte.

Mit einmal stürzte die junge Mutter zu Boden. Die hohe Sonne der letzten Tage hatte, trotz des vielen Schnees, Feldwege, Fußwege und Straßen in eine matschige Angelegenheit verwandelt und diese rutschigen, dreckigen Wege würden ihr und dem Kinderwagen zum Verhängnis. Sie rutschte auf den glatten Steinen weg, konnte sich gerade so mit beiden Händen abfangen und war gezwungen zu zusehen, wie der Wagen mitsamt ihrem Sohn ungebremst auf die Straße zu steuerte.
Sofort stürzten Jin und Namjoon dem Wagen nach, sie versuchten den Griff verzweifelt zu packen – leider vergebens. Er schien immer schneller und schneller zu werden wie die Autos, welche noch unbedenklich auf der Straße fuhren und jeden Moment den kleinen Jungkook mit sich reißen würden. Sie konnten den Wagen nicht zum Bremsen bringen, also mussten sie die fahrenden Autos stoppen, das wäre die einzige Möglichkeit ihren kleinen Schützling zu retten. Das ließ Jin sich nicht zweimal sagen: Der Engel breitete seine großen Flügel aus, diese schlugen mit einer Kraft, wie sie nur Bären haben konnten und mit der es ihm möglich war den Wagen ein- und zu überholen. Die Spannweite seiner rötlichen Schwingen verhinderte, dass er sich dem Kinde näherte ohne den Wagen möglicher Weise zu streifen und dessen Insassen zu verletzen. So erhob er sich in die Lüfte und stürzte sich so schnell, wie es im möglich war, auf die Straße. Er musste Energie aufbauen, so viel Energie, dass er sich zum Leuchten bringen und die Autofahrer blenden konnte. In wenigen Sekundenbruchstücken würde er auf den schwarzen Asphalt aufschlagen, die Autos würden auf Grund des grellen Lichtes stehen bleiben, bevor der Kinderwagen auf die Straße rollen würde. Dort könnte Namjoon ihn endlich zum Stehen bringen. Mit diesem ruhigen Gewissen schloss der Engel seine Augen und ließ sich fallen.

Als er das nächste Mal seine Augen öffnete, blickte er bereits in das weite Lächeln seines geliebten Namjoons. Dieser half ihm auf die Beine, bevor er ihn in eine Umarmung zog, die ihm sämtliche Luft aus den Lungen drückte. Ganz sanft fuhr ihm Namjoon mit der Hand über seinen Rücken und Jin hörte das Lachen seines Freundes in seinen Ohren wiederhallen. In diesen Moment fiel dem Engel buchstäblich ein Stein vom Herzen. Erleichtert drückte er sich noch tiefer in Namjoons starke Arme und Tränen der Freude kullerten ihm über die Wangen. In all der Hektik hatte er keine Zeit dafür gehabt, an auch nur irgendetwas anderes zu denken und die ganze Anspannung der letzten Minuten verpuffte mit einmal ins Nichts. Beruhigend gurrte sein Freund:
„Das hast du ganz toll gemacht. Du hast unseren kleinen Jungkook gerettet."
„Jungkook! Geht es ihm gut?"
„Ja er ist gerade bei seiner Mutter. Stell dir vor, der kleine Knirps hat die ganze Aufregung einfach verschlafen."

Nun zog sich auch ein Lächeln über Jins Lippen. Sein riskanter Plan war aufgegangen und das besser denn je. Er hatte ihren Schützling vor der allerersten Gefahr wahren können, doch die sollte nicht die Letzte gewesen sein.

(28.07.2019)

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