Kapitel 8


Der nächste Tag in der Arbeit fing mit großen Turbulenzen an. Die Ablage musste gemacht werden und sie durfte viele E-Mails bearbeiten, da ihre Kollegen es beim besten Willen nicht geschissen bekamen, auf eine Anfrage ein Angebot zu schreiben. Das machte die Tatsache nicht besser, dass Mira sowieso schon schlecht gelaunt war. Sie war kein Mensch, der seine schlechten Launen offen zeigte. Meistens schaffte sie es dann einfach zu schlucken und sich selbst in den Verstand zu rufen, dass es nichts gab, worüber sie sich aufregen musste. Heute allerdings fiel ihr das verdammt schwer. Sie war mit dem falschen Fuß aufgestanden. Mit einem völlig falschen. Sie ärgerte sich so sehr über die liegengebliebene Arbeit ihrer Kollegen, dass sie ihren Kiefer anspannte und er ihr anfing wehzutun. Manchmal fragte sie sich, was die Leute hier ohne sie überhaupt machen würden. Sie würden vermutlich kaum noch Aufträge empfangen. Und das Schlimmste war, dass ihre Ausbilderin das nicht einmal juckte. Als sie dann auf der Ablage dann auch noch eine ausgedruckte Anfrage von vor über einem Monat fand und sich wunderte, warum diese nicht als E-Mail angekommen war, donnerte sie den Stapel Papiere auf ihren Schreibtisch, die Anfrage in der Hand und stampfte in das Nachbarsbüro.
Ohne zu klopfen öffnete sie die Tür und schmiss Leon das Papier vor die Nase auf seinen Schreibtisch.
 "Hast du nicht in meinem Urlaub an meinem Platz gearbeitet?", schnauzte sie ihn genervt an und versuchte sich im selben Moment auf die Bremse zu treten. Er konnte nichts für ihre schlechte Laune. Ben, der Typ, der mit ihm ein Büro teilte, sah Mira aus den Augenwinkeln an, wie sie die Hände in die Hüfte stemmte. Ben war in dieser Firma der Frauenschwarm schlechthin. Es gab kaum eine Frau, die ihn nicht binnen weniger Sekunden gedanklich nackt ausgezogen hatte, wenn er einen Raum betrat. Sie hätten vermutlich nach dem kleinsten Goldkorn gegraben, um mit ihm ins Bett zu springen. Mira konnte das beim besten Willen nicht nachvollziehen. Klar, hatte sie Augen im Kopf und konnte sehen, dass Ben durchaus ein attraktiver Mann war, aber bitte! So einen Aufstand und das wegen einem Mann?
"Ähm...", Leon sah auf das Blatt vor ihm und dann verunsichert in Miras Gesicht, "Ja?!"
"Okay. Und könntest du mir dann erklären, wie es sein kann, dass die Anfragen von vor Wochen nicht bearbeitet sind? Liest du überhaupt, was hier einkommt oder legst du einfach alles gleich auf einen Stapel und hoffst, dass es der nächste Idiot liest?" In diesem Fall war der nächste Idiot Mira. Schon wieder biss sie die Zähne zusammen weil sie ihre schlechte Laune nicht im Zaum halten konnte. Sie fluchte im Stillen über sich selbst und entschuldigte sich in Gedanken bei ihm. Andererseits hatte sie guten Grund – er hatte wirklich Mist gebaut. Leon war durchaus überrascht. Mira hatte noch nie jemanden so blöd von der Seite angekackt, aber gerade war sie einfach genervt. Genervt wegen der Situation mit Kate und weil sie nicht wusste, wie sie ihr gegenüber treten sollte, genervt wegen der vielen Arbeit, die heute anstand und genervt, weil sie schlecht geschlafen hatte. Er war jetzt halt der Pechvogel, der ihre Laune abbekam.
Schmunzelnd beobachtete Ben Miras wütendes Gesicht und stellte fest, dass es ihn amüsierte. Sie sah hübsch aus, mit den vor Zorn geröteten Wangen den zwei kleinen Zornesfalten zwischen ihren Augenbrauen.
"Schon gut", hörte Mira Ben hinter ihr auf einmal sagen. Sie drehte mich um, die Hände immer noch in die Hüften gestemmt und sah ihn, eine Augenbraue in die Höhe gezogen, an. Er kam auf Mira zu, stellte sich neben sie und nahm das Blatt in die Hand, um es durchzulesen. Mira nahm das Männerparfüm wahr, das seine warme Haut ausstrahlte. Er roch gut. Nicht zu stark, als wäre er in einen Parfümeiner gefallen. Gerade genug, dass sie die Note in der Nase kitzelte.
"Ich bin mir sicher, Leon kann eine kurze Pause machen und das hier übernehmen." Er sah ihn dabei nicht einmal an, drückte ihm einfach das Blatt in die Hand und sah dann in Miras Augen.
"Ähm", machte sie überrascht, "Danke?!"
 Leon würde sowieso nicht widersprechen. Ben war zwar nicht sein Vorgesetzter, hierarchisch gesehen aber über ihm und er strahlte etwas aus, dem man sich nicht zu widersprechen traute. Seufzend nahm er das Blatt und las es sich tatsächlich durch. Mira runzelte die Stirn, weil sie nicht gedacht hätte, dass Ben sich einmischen würde. Er war eigentlich eher so ein Typ, der sich im Hintergrund hielt und beobachtete. Er redete nur das Nötigste und auch nur mit bestimmten Leuten. Anderen nickte er zum Gruß vielleicht einmal kurz knapp zu, aber mehr war da nicht. Als sie schließlich ihre Arme wieder hängen ließ und Ben kurz ansah, zwinkerte er ihr zu und setzte sich zurück auf seinen Platz. Verwirrt drehte sich Mira um und verließ das Büro, um wieder zurück auf ihren Platz zu gehen und sich auf ihre eigene Arbeit zu konzentrieren.

In der Mittagspause erzählte Mira Melly von der Aktion und ihr klappte Wort wörtlich die Kinnlade bis zum Boden. Kate hatte sie heute noch kein einziges Mal gesehen. Darüber, ob das nun gut war oder nicht, versuchte sie erst einmal nicht zu urteilen. Jetzt stand erst einmal das Ben-Thema im Vordergrund. Allein schon Mellys Blick war es wert, ihr davon zu erzählen.
"Sag mal", sagte Melly dann, "Mir ist schon im Pub oft aufgefallen, dass er dich anstarrt."
"Mich starren alle Männer an", erwiderte Mira scherzhaft, "Weil sie wissen, dass ich lesbisch bin."
"Denkst du, er weiß es auch?"
"Ich bitte dich. Mich würde es eher wundern, wenn es in den 1,5 Jahren immer noch jemand nicht weiß."
 Melly hatte wieder etwas zum Mittagessen bestellt und Mira setzte sich zu ihr an den Tisch. Der Hunger blieb wie so oft aus.
 "Na gut. Aber ich versteh's nicht. Vor Laura oder Marie gibt er sich total arrogant und dich flirtet er eiskalt an."
 "Er flirtet nicht", seufzte Mira, "Und natürlich ignoriert er sie gekonnt. Er ignoriert vermutlich alle Frauen gekonnt, weil er weiß, dass sie auf ihn stehen. Und Marie schmachtet ihm ja geradezu hinterher. Aber ich stehe nicht auf ihn. Ich stehe auf keine Männer. Er meint, er könnte mich sicher rumkriegen."
"Dann liegt er aber arg daneben", stellte Melly mit vollem Mund fest und Mira grinste.
 "Ganz recht."
"Was ist jetzt eigentlich mit deiner Bettgeschichte?", fiel ihr zu Miras Bedauern wieder ein und wedelte mit der Gabel vor ihrem Gesicht herum. Mira schob ihre Hand wieder weg.
"Nichts. Wie gesagt. Es war nur Sex."
Melly hielt im Kauen inne und sah sie unbeeindruckt an. Dann seufzte sie und aß weiter.
"Na gut. Wenn du's dir nicht eingestehen willst, dass das mehr als nur Sex war - dein Unterbewusstsein wird's dir danken."
"Tu nicht so, als wüsstest du etwas über mein Unterbewusstsein." Mira zog eine Braue in die Höhe und sah sie amüsiert an. Sie grinste. In dem Moment sah sie aus dem Fenster und erblickte Kate, wie sie gerade aus dem Auto ausstieg. Ihrem Impuls nachgehend entschuldigte sich Mira bei Melly und stand auf. Sie sprintete aus dem Gebäude und rannte Kate entgegen, lief ihr beinahe in die Arme. Ganz knapp vor ihr blieb sie stehen und holte tief Luft.
"Alles klar. Dass mir Frauen hinterherlaufen ist eine Sache, entgegenrennen ist mir allerdings neu." Sie sah Mira amüsiert von oben bis unten an und ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie feststellte, dass sie sich ihr gegenüber ganz normal verhielt.
 "Ja. Ich laufe auch niemandem hinterher", sagte Mira. Kate lächelte.
"Und was bringt dich dazu, mir entgegen zu laufen?"
 "Ich wollte mit dir reden. Eigentlich."
"Eigentlich aber auch nicht?", schlussfolgerte sie. Mira schloss kurz die Augen, genoss das Gefühl, in dem die Angst von ihr herab fiel und sie merkte, dass das warme Gefühl im Bauch ausblieb und lächelte in sich hinein. Dann sah sie Kate an, schüttelte den Kopf und umarmte sie. Kate stand einige Sekunden einfach nur da, weil sie verwirrt war von Miras Reaktion, dann erwiderte sie die Umarmung.
"Ich habe dir doch gesagt, für mich hat sich absolut nichts geändert. Oder?", flüsterte sie in Miras Haare.
"Vielleicht solltest du mir einfach mal glauben."
 Mira löste sich von ihr und lächelte sie dankbar an. Dann runzelte sie die Stirn, weil ihr auffiel, wie unüblich sie gekleidet war.
"Ähm?! Blazer? Schlaghose? Muss ich mir Sorgen machen? Du siehst furchtbar aus!"
Kate sah an sich herab und lachte dann. Ihre kurzen blonden Haare waren sehr ordentlich und seriös gemacht. Nicht zu streng aber auch nicht so spielerisch wie sonst. Irgendwie stimmte das nicht, dass sie furchtbar aussah. Im Gegenteil. Mira schluckte allerdings schnell diese Bemerkung.
"Ich hatte einen Termin beim Landratsamt."
"Ach so", machte Mira, "Einschleimen, um sich in öffentliche Gebäude einzudrängen." Sie zwinkerte mehrfach übertrieben.
"Wer keine Ahnung hat, sollte lieber schweigen und zuhören - das erweitert den Horizont."
Auch Kate zwinkerte und Mira schüttelte halblachend den Kopf, während sie beide auf das Gebäude zusteuerten.
"Ach, ich hatte vorher einen interessanten Zwischenfall mit Ben."
"Mit Benjamin Rhode?" Kate sah sie an und hob eine Augenbraue, als sie Mira die Tür aufhielt und sie im leeren Foyer zum Stehen kamen.
 "Ja. Ben."
"Tja", seufzte sie, "Was soll man dazu noch sagen? Hat er dich endlich mal angesprochen?"
"Wieso endlich mal?" Mira sah sie stirnrunzelnd an.
"Na, als ob das keinem aufgefallen wäre, wie er dich schon seit einer Ewigkeit versucht in einen Augenflirt einzubeziehen. Du ignorierst das gekonnt. Oder du bist so minimal auf der Höhe, dass du es gar nicht merkst."
"Natürlich merke ich das", gab Mira ein wenig beleidigt zurück, "Und, ja klar, ignoriere ich das. Warum auch nicht? Was würde mir das bringen, auf seine dummen Flirtereien einzugehen?"
Um Kates Mundwinkel spielte ein Lächeln. "Nun ja. Du bist eine interessante Nummer für ihn. Außerdem solltest du dir fast was darauf einbilden. Rhode weiß, wie er auf Frauen wirkt. Und diese Sorte von Männern sucht sich meistens die Bestaussehendste von allen heraus, weil er alle haben kann." Sie kniff Mira sanft in den Arm.
"Ach ja", Mira lachte, "Wieso hat er dich nicht angeflirtet? Blond, groß, schlank. Wenn er bei Gedanken an dich nicht das Sabbern anfängt..."
Kates Augen lächelten amüsiert, und kurz sah Mira wieder etwas von jener Nacht aufflackern, was ihr den Magen zusammen zog. Ein Hauch eines Flirt-Blicks.
"Weil er dich nicht kennt und nicht weiß, dass du nicht naiv bist."
 "Ach so. Aber er weiß, dass ich lesbisch bin."
"Und auch das ist ein Faktor. Außerdem siehst du bildschön aus."
Mira lachte emotionslos auf: "Ja klar! Mit meinen 1,65 m und bin ich ja im Gegensatz zu dir ein pummeliger Gnom. Dieser wundervolle, fette Muttermal an meiner Stirn, den ich mit den Haaren zu verdecken versuche, ist auch für nichts weiter nützlich, als vielleicht mal irgendwann meine Leiche zu identifizieren." Mira hätte noch hundert Dinge aufzählen können. Mira mochte es nicht, so etwas zu hören. Derartige Komplimente, die völlig übertrieben waren. Bildschön war Aubrey Hepburn, die ja so viele Menschen als die schönste Frau der Welt bezeichneten. Auch Marylin Monroe fand Mira ausgesprochen schön. Oder Kate. Mira sah ihre Freundin an und hasste sich für diesen Gedanken.
"Erstens: Du bist schlank. Wenn ich noch einmal das Gegenteil höre, muss ich dich, glaube ich, über's Knie legen. Zweitens: Ich habe mit dir geschlafen. Ich schlafe nur mit schönen Frauen." Wieder dieser Blick, als sie vorsichtig ihre Finger um Miras Kinn legte, um es anzuheben. Mira sah weg und ignorierte das wabernde Gefühl in ihrem Bauch.
"Okay. Aber Zweitens stimmt nicht so ganz." Sie ließ Miras Kinn los und hob eine Augenbraue. Sie sah sehr amüsiert aus, weil sie wusste, was Mira sagen würde. Natürlich wusste sie es.
"Diese eine Blonde, die du mal mit nach Hause genommen hast. Die sah ja atemberaubend scheiße aus."
"Mit der habe ich nicht geschlafen." Kate klopfte Mira auf die Schulter und lachte. Dann zwinkerte sie ihr zu und verließ das Foyer, um auf ihren Arbeitsplatz zu gehen. In diesem Moment kam Melly um die Ecke. "Wem schaust denn du so sabbernd hinterher?", bemerkte sie grinsend und Mira streckte ihr mit einem stillen Lachen die Zunge raus und ging, um sich ebenfalls an ihre Arbeit zu machen.

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