Kapitel 3


Die ganze Fahrt im Bus dachte sie über gestern Abend nach. Sie dachte an die Menschen, die ihr geholfen hatten, aber vor allem dachte sie an den Mann. Sie spürte immer noch den Druck seiner Hände an ihren Schultern, erinnerte sich noch haargenau an seine warme, freundliche Stimme. Sie klang fest und überdacht. Als wüsste er ganz genau, was er fragen und sagen sollte. Dann versuchte sie sich an das Gesicht der Frau zu erinnern, aber es fiel ihr verdammt schwer. Sie könnten beide einfach an ihr vorbeilaufen und sie würde die beiden nicht wiedererkennen. Schon gar nicht den Mann, den sie ja nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte.
Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte sie rote Haare. Oder orange... vielleicht auch blond? Auf jeden Fall kurz. Glaubte sie. Und sie trug eine Brille, wenn sie nicht alles täuschte. Vielleicht aber auch nicht. Sie hatte auf jeden Fall große Augen. Daran erinnerte sie sich ganz sicher. Und blau müssen sie gewesen sein. Mira glaubte auch, dass sie ganz hübsch war. Und jung. Vielleicht Anfang 30. Genau konnte sie es bei bestem Willen nicht sagen. Ob sie sich diesen Kinderwagen in ihren Augenwinkeln nur eingebildet hatte oder nicht, das wusste sie auch nicht mehr. Das alles kam ihr vor wie ein schwacher, verschwommener Traum, der ihr immer mehr zu entgleisen drohte. Gleichzeitig hatte Mira ein schlechtes Gewissen. Sie hätte sich so gerne bei den beiden bedankt. Für ihre Hilfe, für diese Fürsorge. Für ihre Freundlichkeit und ... seufzend lehnte sie ihren Kopf an die Fensterscheibe.
Ob die beiden sie erkennen würden? Und würden sie dann auf Mira zugehen? Würden sie sie ansprechen? Der Bus hielt und Mira stieg aus. Sie atmete die frische Luft tief ein, als sie aus dem stickigen, warmen Bus trat, der jeden Morgen so überfüllt war, dass Körperkontakt nicht zu vermeiden war.
Ihre Arbeit lag nur zwei Minuten von der Bushaltestelle entfernt. Das war praktisch, vor allem jetzt im Winter. Mira war schon immer ein verfrorener Mensch. Sie mochte es nicht, sich in der Kälte draußen aufzuhalten. Sie war mehr der Typ, der sich zu dieser Jahreszeit auf der Couch in einer Decke verkroch und las oder heißen Kaffee trank. Kakao wäre natürlich das Optimum an solchen Wintertagen, aber trotzdem nicht ihr Fall.
"Chéri!" Ein Arm flog um Miras Schultern und zog sie näher heran. Sie nahm den vertrauten Duft ihrer besten Freundin wahr und umarmte sie mit einem Lächeln.
"Seit wann bist du so früh in der Arbeit?", fragte Mira neckend.
Kate grinste ihr Julia Roberts-Lächeln und schlang einen Arm um Miras Taille.
"Ich bin noch nicht in der Arbeit."
Sie hielt Mira auf, bevor sie durch die Tür trat und zog eine Zigarette aus ihrer Jackentasche. Mira lachte leise und steckte ihre Hände in die Jackentasche. Kate war eine sehr schöne Frau. Wie gesagt, ein Julia Roberts-Lächeln mit perlweißen Zähnen. Ihre kurzen, wasserstoffblonden Haare kämmte sie vielleicht einmal kurz durch und trotzdem schmeichelten sie jeden Tag ihrem schmalen Gesicht mit dem markanten Kinn und den weichen Gesichtszügen. Sie hatte grün-braune Augen. Das Braun war hell und sah aus, wie flüssiges Gold.
Das Grün war blühend warm. Es waren keine kalten Katzenaugen, sondern warme, die an den schönsten Sommer erinnerten. Mira beneidete Kate für viele Dinge. Alles an ihr schien so perfekt. Das Gesicht, der Körper, selbst das kleine Muttermal an ihrem Ohrläppchen und mir ihrem Leben wollte Mira gar nicht erst anfangen! Kate war eine Frau, bei der man niemals auf die Idee käme, dass sie im Leben scheitern könnte.
"Und?", fragte Kate, während sie den Rauch in die Luft blies, "Gut geschlafen? Du siehst müde aus."
Mira strich sich eine Strähne hinter das Ohr und senkte den Blick. Müde war ein passendes Wort. Sie hätte sich jetzt gleich auf den Boden legen und in dieser Kälte einschlafen können. Da sie allerdings nichts Sinnvolles erwidern konnte, hob sie ihre kunterbunte Hand. Kate hob eine perfekt geschwungene Augenbraue, blies den Rauch in den Himmel empor und nahm Miras Hand, um sie sich genauer anzusehen. Ihre Finger waren, im Vergleich zu Miras, eiskalt.
"Hingst du an einem Schlauch, oder was?" Kate ließ vorsichtig Miras Hand wieder los und musterte ihr Gesicht eingehend, als suche sie nach anderen bunten Flecken.
"Ja. Gestern. Blut abgenommen und Infusion."
"Und warum, in Gottes Namen?" Sie zog ihre Augenbrauen zusammen, drückte die Zigarette aus und warf sie in den Mülleimer. Ein Kollege lief an ihnen vorbei und die Beiden nickten ihm lächelnd zu. Das Lächeln verschwand aus ihren Gesichtern so schnell, wie eine Seifenblase zerplatzte. Nicht, weil es ein falsches Lächeln war, sondern lediglich weil weder Kate noch Mira eines übrig hatten. Mira war müde und gerädert und Kate war prinzipiell nicht der berüchtigte Lächler.

"Ich hatte 'nen Kreislaufkollaps", murmelte Mira in ihren Schal hinein und spürte, wie ihre Wangen wegen der Kälte langsam rot anliefen.
"Oh Himmel", rief Kate, griff nach Miras Arm und zog sie mit ins Gebäude. Wie immer zog sie Mira erst ins Pub, um einen Kaffee zu holen.
"Wie hast du das schon wieder hinbekommen?", fragte sie, während sie eine Tasse unter den Automaten stellte.
"Ich habe keine Ahnung. Ernsthaft. Ich war joggen und auf einmal hat sich mein Kreislauf verabschiedet."
"Ja, und dann? Bist du ins Krankenhaus gekrochen, oder wie?"
"Nein", lachte Mira leise, schüttelte den Kopf und erinnerte sich wieder an die Stimme des Mannes, "Zwei Leute haben mich gefunden... sie haben den Notarzt gerufen."
Kates Augenbrauen flogen in die Höhe. Sie nahm ihren Kaffee und lehnte sich an die Küchentheke. Im Pub, das eigentlich einfach nur eine kleine Cafeteria in der Firma sein sollte, war es in der Früh meistens leer. Ein guter Ort, um persönliche Gespräche zu führen.
"Mensch, da hast du aber wirklich Glück gehabt! Wer dich alles hätte finden können! Oder was alles hätte passieren können!" Es klang beinahe so, als sei sie wütend auf Mira, aber in Wirklichkeit war viel eher die Sorge, die da gerade aus ihr sprach. Kate war 28, und sie kannten sich erst, seit Mira ihre Ausbildung hier angefangen hatte. Also ungefähr seit zwei Jahren. Die beiden hatten sich von Anfang an wortlos verstanden. Als könnten sie Gedanken lesen. Wenn sie Mittwochs beim Brezenfrühstück an einem Tisch saßen, das ihr Chef jede Woche anbot, und den anderen Leuten beim Reden zuhörten, dann warfen sie sich immer zur selben Zeit einen Blick zu, der meistens dasselbe bedeutete: "Wie blöd ist der denn? " oder "Oh mein Gott, wir sind im Irrenhaus gelandet". Dann grinsten sie sich durch die Augen vielsagend an, wobei sie stark darauf achteten, dass sie ihre schmunzelnden Lippen in der Kaffeetasse versteckten oder mit einem Räuspern verschwinden ließen. Irgendwann war Mira Kate dann einfach nach draußen gefolgt, als sie eine kleine Rauchersünde einlegen wollte. Seitdem lachten sie über dieselben Sachen, dachten immer an die gleichen Dinge und warfen sich einen einzigen Blick zu, um zu wissen, was gerade in einem vorging.
"Ja. Ich weiß", sagte Mira und öffnete ihre Jacke, "Aber diese zwei Leute waren unheimlich freundlich. Sie haben mich... ich weiß es nicht. Sie haben sich richtig um mich gekümmert."
"Warum siehst du so traurig aus?" Kate kniff Mira sanft in die Wange und fing ihren Blick auf.
"Ich bin einfach mit den Notärzten mitgegangen. Ich hätte mich so gerne bei ihnen bedankt, aber ich war so... neben der Spur... ich meine, die beiden könnten an mir vorbei laufen und ich würde sie beim besten Willen nicht wiedererkennen."
Kate runzelte nachdenklich die Stirn und trank einen Schluck von ihrem Kaffee. Selbst dabei sah sie unschlagbar gut aus. Wie sie die Lippen an den Tassenrand legte und mit ihren feingliedrigen, langen Fingern die Tasse hielt. Mira senkte den Blick und betrachtete einen Fleck auf dem Boden, der schon seit einer Ewigkeit dort klebte.
"Ich glaube, ehrlich gesagt, dass du dir darüber gar keine Gedanken machen musst. Du lernst manchmal Menschen kennen und machst Begegnungen, bei denen wir alle meistens nur mit dem Kopf schütteln können. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass du ihnen über den Weg läufst und dann werden sie dich bestimmt darauf ansprechen. Sie wollen ja sicher auch wissen, wie es dir geht."
Mira sah ihr prüfend in die Augen und beobachtete sie dabei, wie sie an ihrem Kaffee schlürfte.
"Theoretisch hast du ja gar nicht so Unrecht, aber..."
"Und Theopraktisch habe ich Recht. Punkt."
Mira schmunzelte und irgendwie nahm Kate ihr eine Last von den Schultern. Sie fühlte sich etwas beruhigter. Außerdem musste sie Kate Recht geben, sie lernte Menschen immer auf sehr besondere Art und Weisen kennen und meistens entstanden dann entweder flüchtige, aber wichtige Momente oder eben sogar so etwas wie Freundschaft.
"Also, Schätzchen. Ich muss jetzt arbeiten. Machst du Pause?"
"Klar. Ich hole dich zu Mittag ab. Gehen wir dann essen?"
"Dann gehen wir essen."
Kate zwinkerte Mira zu, gab ihr einen Kuss auf die Wange und ließ sie im Pub stehen. Mira sah ihr noch lange hinterher und musste in sich hineinlächeln. Sie wusste nicht genau warum, aber Kate brachte sie oft zum Lächeln. Ohne Grund. Kate war einfach ein wundervoller Mensch. Ehrlich, direkt, offen, fröhlich, dynamisch, authentisch, empathisch. Mira hätte sie gegen niemanden auf der Welt eingetauscht.

Mira kam die Zeit vor wie Kaugummi. Nein, wirklich. Man zieht und zieht und zieht und es scheint einfach kein Ende zu haben. Das war der Grund, weshalb sie die letzten Minuten nur noch auf die Uhr starrte und ihren Kugelschreiber um Punkt 12 Uhr fallenließ und vom Bürostuhl aufsprang. Sie schnappte sich ihre Jacke, den Geldbeutel und rannte zu Kate in die Abteilung.
Sie wusste nicht genau, wieso sie es so eilig hatte. Vielleicht war es die Flucht vor dem allgegenwärtigen Bösen... Mira grinste über diesen ironischen Gedanken, schüttelte den Kopf und machte einen Schritt langsamer. Als sie um die Ecke bog, lief sie versehentlich in jemanden hinein. Ihr wurde schwindelig. So besonders gut war sie dann wohl doch nicht beieinander, wie sie heute früh noch geglaubt hatte.
"Wow. Tut mir leid, ich..."
Als Mira die Frau sah, in die sie hinein gelaufen war, blieb ihr beinahe die Luft weg. Sie war so umwerfend schön, dass sie dachte in irgendeinem billigen Hollywood-Film zu sein. Mira kannte sie nicht. Was tat sie hier? Wen hatte sie besucht? Die Frau lächelte Mira herzlich an, sagte: "Alles okay", und ging an ihr vorbei ihren Weg weiter. Mira sah in dem Moment Kate in der Tür ihres Büros stehen und sie angrinsen. Mira sah Kate an, hob eine Braue und ging auf sie zu.
"War die gerade bei dir?", fragte Mira leise, während Kate weiter nur blöd grinste und sich ihre Jacke anzog und die Tasche um die Schulter hing.
"Ganz nett, nicht wahr?", stellte sie eine Gegenfrage, aber der Unterton klang mehr als nur lüstern. Mira ignorierte das komische Ziehen der Eifersucht in ihrem Bauch. Kate sperrte die Bürotür ab, hakte sich bei Mira unter und sie verließen das Gebäude. Als sie aus der Tür in die Kälte traten, sagte Mira noch: "Du weißt schon, dass nett die kleine Schwester von Scheiße ist?"

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