Kapitel 20

Chris klingelte relativ früh am Morgen. Mira hatte noch nicht einmal ihre Haare gekämmt, als sie ihm die Tür öffnete. Die Katzen hatten sich über Nacht relativ schnell an Miras kleine Wohnung gewohnt. Sie flitzten durch den Gang und spielten miteinander, die verwaisten Seelen längst vergessen.
„Habe ich dich geweckt?", fragte er, drängte sich aber ohne Zögern in ihre Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Überrascht von seiner Promptheit blinzelte Mira ihn kurz matt an, dann fuhr sie sich durch die ungekämmten Haare: „Na ja. Nein. Ich bin schon seit einer halben Stunde wach."
„Die scheinen sich schon ganz wohl zu fühlen", bemerkte er, ohne auf ihre Antwort einzugehen. Mira drehte sich um und beobachtete, wie die Kleinste der Vieren vor dem Größten davon lief. Mira hatte sie Lil genannt. Die Abkürzung von Little aus dem Englischen. Lil war gerade einmal die Hälfte von den anderen drei Katzen, während Filou der Größte war.
„Weißt du schon, ob es Kater oder Katzen sind?"
Mira verdrehte die Augen, als er das erwähnte. Sie war gestern noch bis in die Puppen wach gewesen, hatte ihnen laktosefreie Milch gegeben, sie durchgebürstet und sich damit beschäftigt, sie auseinander zu halten. Schließlich war sie auf die Idee gekommen, nach dem Geschlecht zu sehen.
„Leila und Lil sind Weibchen", sie deutet auf die zwei Katzen, „Yoda und Filou sind Kater."
„Shit."
„Yup."
„Du hast ihnen schon Namen gegeben? Yoda? Ist das nicht der Hauself aus Star Wars?"
„Yoda ist doch kein Hauself! Aber schau ihn dir doch mal an!" Mira deutete vorwurfsvoll auf den Kater mit den rötlichen Ohren, dessen Bauch weiß und sein Rücken grau gestreift war, „Der ist ja wohl aus fünf verschiedenen Katerspermien entsprungen. Ich habe noch nie so nen Kater gesehen. Und die Ohren!" Yodas Ohren waren so groß, dass Mira in der Versuchung war, ihn Dumbo zu nennen. Allerdings mochte sie dieses Klischee nicht, Haustieren Disney-Namen zu geben und da sie, als sie den Kater das erste Mal richtig gesehen hatte, sofort das Gesicht von Yoda im Kopf hatte, stand eigentlich fest, wie er heißen würde.
„Der sieht echt heiß aus", entgegnete Chris amüsiert, dann sah er Mira an und kratzte sich am Hinterkopf, „Ähm. Also, denkst du, wir können sie alleine lassen?"
„Was sollen sie schon anrichten?"
Chris zuckte die Schultern.
„Dann gehe ich mich jetzt schnell fertig machen. Du kannst die Kleinen ja solange beschäftigen."
Chris hob seine Hand an die Stirn, wie ein Marinesoldat. Mira musste lachen und sie fragte sich, wieso sie noch nie vorher etwas mit ihm unternommen hatte. Er war ein sympathischer und angenehmer Kerl.

Mira hatte gleich drei Dosen von diesem Muttermilch Ersatz gekauft. Als Chris zwei Katzenklos ausgesucht hatte, musste Mira ihm instinktiv den Vogel zeigen: „Pink? Sehe ich so aus, als hätte ich irgendetwas Pinkes in der Wohnung?"
Er zuckte unbekümmert die Schultern: „Du siehst auf jeden Fall aus wie ein Mädchen. Haben nicht alle Mädchen irgendetwas Pinkes oder Lilanes in der Wohnung?"
„Du solltest dir dringend eine Freundin suchen", grinste Mira und bedeutete ihm, die Katzenklos wieder zurück zu stellen. Sie deutete auf zwei Katzenklos. Beide mit schwarzem Boden.
„Wie lebensbejahend", murmelte Chris sarkastisch und Mira musste unwillkürlich lachen. Nachdem sie ihrem Einkaufsrausch verfallen waren und mehr nützliches Zeug für die Vierbeiner gekauft hatten, als sie eigentlich wollten, fuhren sie wieder zurück in Miras Wohnung. Chris half ihr, die zwei Katzenklos mit Streu zu füllen und das Milchpulver anzurühren, wobei er das Wasser viel zu heiß werden ließ und Mira eine komplette Portion zum Fenster rausschmeißen musste.
„Lauwarm, Chris", tadelte sie ihn, er sah sie bloß nichtswissend an.
„Woher soll ich denn wissen, was lauwarm ist?"
Darauf hatte Mira nur die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und die Milch selber zubereitet. Die Kleinen waren schier darüber hergefallen.
„Nächste Woche werde ich mal zum Tierarzt gehen, um wegen der Kastration zu fragen. Und der Impfung und... ach", Mira seufzte, „Wo soll ich bloß das ganze Geld herholen?"
„Ich habe doch gesagt, dass ich dich unterstützen werde."
„Selbst wenn", meinte Mira mit hängenden Schultern, „Wie sollen wir beide das Geld für vier Kastrationen auftreiben? Das werden doch locker um die 300 Euro sein..."
„Dann sparen wir eben. So schnell darf man sie ja sowieso noch nicht kastrieren."
Mira beobachtete die kleinen Würmer beim Trinken und amüsierte sich über ihr lautes Schmatzen.
„Also fürs Erste hätten wir ja jetzt alles. Katzenklo, Futter, Spielzeug. Ich muss jetzt leider weg, aber du kannst dich ja bei mir melden, wenn etwas ist. Hast du dein Handy bei dir?"
Mira reichte es ihm und er gab seine Nummer ein. Dann reichte er es ihr wieder.
„Danke für deine Hilfe", sagte sie.
„Alles cool. Am Ende wären sie noch an mir hängen geblieben. Ich muss dir danken."

Als Chris gegangen war, hatte sie Angst, sie würde wieder mit ihren Gedanken und Gefühlen alleine sein, aber die Kätzchen ließen ihr keine Ruhe. Sie füllten ihren Tag mit Heiterkeit, Ärgernis bis hin zur vollkommenen Erschöpfung. Während Filou bereits mit Leichtigkeit auf den Wohnzimmertisch sprang und dort demonstrativ seinen Schwanz jagte, schafften es die anderen drei noch nicht einmal alleine auf die Couch zu springen. Sie hüpften immer hilflos in die Höhe, rutschten aber wieder ab und plumpsten auf ihren kleinen Po. Mira war also entweder damit beschäftigt, ihnen auf die Couch rauf zu helfen, hinter ihnen aufzuräumen, sie zu schimpfen oder hinterher zu laufen, wenn sie sah, dass sich einer von ihnen zum Pinkeln auf den Teppich bereit setzte. Dann sprang sie wütend von der Couch auf, packte sie und setzte sie so schnell sie konnte in das Katzenklo. Nicht selten kam es an diesem einen Tag schon vor, dass dadurch eine Urinspur durch die halbe Wohnung entstand und Mira vor Verzweiflung die Katzen am liebsten wieder hätte aussetzen wollen, aber das hätte sie sowieso nicht machen können. Sie fühlte sich bereits jetzt schon wie die Ersatzmama und außerdem beschwichtigte sie sich immer mit dem Gedanken, dass sie ja wirklich noch richtige Babys waren und dass keine einzige Katze auf dieser Welt aus dem Mutterleib gekrochen und ins Katzenklo gesprungen war, um ihr Geschäft zu erledigen. Erst ziemlich spät am Abend kamen die kleinen Fellbündel endlich zur Ruhe und schliefen seelenruhig eng an Mira gekuschelt. Lil bevorzugte den Platz auf ihrer Schulter, eng an ihrem warmen Nacken, wo sie sich so klein kugeln konnte, wie eine Ratte. Filou und Yoda hatten es sich auf ihrem Schoß gemütlich gemacht und Leila kuschelte sich in eine kleine Höhle zwischen Miras Rücken und der Sofalehne, weshalb Mira nun ziemlich unbequem dalag. Sie hätte allerdings den Teufel getan und sich bewegt, um die Kleinen zu wecken. Sie war so ausgelaugt, als hätte sie einen ganzen Tag in einem Kindergarten verbracht. Während sie in dieser Ruhe den Fernseher einschaltete, um durch die Kanäle zu zappen, merkte sie, wie wohl sie sich fühlte. Diese komische, bleierne Leere war weg. Die Zwerge, die durch ihre winzigen Näschen um sie herum atmeten, gaben ihr das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Es war absurd, aber es fühlte sich sogar so an, als könnten diese Findelkinder ihren ganzen Kummer ausfüllen mit einer Liebe, von der Mira nicht einmal wusste, dass sie sie besaß. Lil gab ein seltsames Geräusch von sich und streckte sich in Miras Nacken und in dem Moment wurde Mira klar: Egal wie k.o. sie von diesem Tag war, sie hätte die Kleinen für nichts auf der Welt jemals wieder hergegeben.
Danke Chris, dachte sie im Stillen, du bist mein Lebensretter. Schließlich, als sie sich sicher war, dass die Wollknäuel tief und fest eingeschlafen waren, nahm sie vorsichtig ihr Handy. Sie hatte es den ganzen Tag nicht in die Hand genommen, weshalb sie jetzt von SMS und Benachrichtigungen regelrecht überschwemmt wurde.
Ein entgangener Anruf von ihrer Mutter.
Eine Nachricht von Melly.
Eine Nachricht von Mark.
Vier Nachrichten von Kate.
Sie spürte etwas in ihrem Bauch rumoren. Sie fing mit dem Durchlesen an.

Melly: Hi Honigpony. Du musst dir mal meine Fotos bei Facebook anschauen. Die Fohlen hier sind Hammer! Wenn ich wieder zurück bin, nehme ich dich mit in den Stall.

Mellys Tante in Frankfurt hatte eine eigene Reitpony-Zucht und Melly war Hobby-Fotografin. Melly kannte sich gut mit Pferden aus, das wusste Mira. Immerhin hatte sie ein eigenes Pferd und ihre Mutter ging schon mit 16 Jahren auf Turniere. Melly hatte eine unglaubliche Gabe, mit Pferden umzugehen. Melly versuchte sie schon lange zu überreden, sie mit in den Stall zu nehmen. Aus irgendeinem Grund hatte Mira sich aber noch nie getraut zuzusagen.

Mira: Hi. Ich schau demnächst mal rein. In den Stall komme ich mit, wenn du mich vorher besuchen kommst. Ich muss dir jemanden vorstellen.

Dann öffnete sie die Nachricht von Mark.

Hi Mira.
Ich hoffe, du hattest einen schönen Tag. Geht es dir denn mittlerweile wieder besser, seit deinem Kreislauf Problem?

Hi Mark,
mir geht es wieder super. Meine Hand hat einen kleinen blauen Fleck von der Infusion davon getragen, aber der ist schon fast ganz verschwunden. Mein Tag war... anstrengend. Gestern Abend kam ein Nachbar, den ich eigentlich sonst nur flüchtig grüße. Er hat irgendeiner Betrunkenen Babykatzen abgenommen und wusste nicht, was er mit ihnen tun soll. Sie wären sonst im Müll gelandet. Er meinte, ich sei die Erste, die ihm spontan eingefallen sei und nun habe ich die 16 Pfoten an der Backe. Demnach war mein Tag super anstrengend. Sorry, dass ich gestern nicht mehr geantwortet habe.
LG Mira

Sie ließ sich viel Zeit mit dem Absenden dieser Nachricht. Sie las sie ungefähr drei Mal durch, löschte einen Satz, um ihn dann genauso wieder einzutippen und starrte manchmal einfach nur leer in ihr Handy. Sie wusste, warum sie sich davor scheute, sie abzuschicken. Die nächsten Nachrichten waren von Kate. Und obwohl sie unglaublich neugierig war, was sie ihr geschrieben hatte, spürte sie ein schmerzhaftes Ziehen in ihrem Bauch, dann sah sie ihre neuen Mitbewohner an, wie sie friedlich um sie herum schlummerten. Ihr Herz machte einen kleinen Freudensprung und schließlich öffnete sie Kates Nachrichten.

Nachricht Eins:
Ich war überrascht von deinem Geständnis.
14:22

Nachricht Zwei:
Nicht jedoch von deinen Gefühlen...
14:22

Hä?, dachte Mira.

Nachricht Drei:
Ich wusste schon länger, dass du so empfindest.
14:36

Und schließlich Nachricht Vier:
Ich hätte nicht gedacht, dass du sie mir jemals gestehen würdest. Viel eher habe ich damit gerechnet, du würdest sie solange schlucken und verdrängen und leugnen, bis du es selber glaubst - dass da nichts ist. Und ich muss zugeben, ich wusste nicht, was ich sagen soll. Ich bin immer noch überfordert mit dieser Information, denn obwohl ich es zwar schon länger weiß, ist es doch etwas anderes, nun, wo es ausgesprochen ist. Ich werde mich nicht zurückziehen. Die Entscheidung liegt allein bei dir, ob wir uns demnächst treffen können oder nicht. Du sollst wissen, dass ich immer noch dieselbe bin wie vorher. Ob du damit umgehen kannst, mich in dieser Situation zu sehen, das musst du wissen. Du hast für dich selbst die Verantwortung und ich werde nicht mit diesem Kindergartenspielchen anfangen: „Ich ziehe mich zurück, das ist das Beste für dich, so musst du nicht Leiden-Blabla". Ich bin gegangen, weil ich für mich selbst einen freien Kopf und Zeit gebraucht habe, um nachzudenken. Und bevor du fragst: Ich bin zu keinem Entschluss gekommen. Wir sollten persönlich darüber reden. Ich hasse SMS.
Also melde dich, wenn du möchtest.
K.
15:05

Mira starrte mit einem dumpfen Pochen in der Magengrube auf Kates SMS. Bildete sie sich das bloß ein, oder wirkte diese Nachricht wirklich ziemlich distanziert? Es dauerte mehrere, tiefe Atemzüge, bis sie es endlich schaffte, die paar Wörter in das Handy zu tippen:

Ich bin zu Hause. Komm vorbei.

Sie drückte schnell auf die Senden-Taste, denn sie wusste, wenn sie nur eine Sekunde gezögert hätte, hätte sie die zwei Sätze wieder gelöscht. Aber war das wirklich so eine gute Idee? Das war natürlich total Kates Style: Sie würde Mira nicht in Watte packen, aber sie wusste ja auch, dass Mira das am allerwenigstens leiden konnte. Tatsächlich hatte Mira aber doch mit genau dem Gegenteil gerechnet, mit einem Rückzug. Mira wusste noch nicht genau, womit sie besser umgehen konnte. Sie hätte nicht sagen können, was schlimmer war. Weiterhin Kates abenteuerreichen Geschichten über gutaussehende Affären anzuhören oder nicht zu wissen, ob sie die letzten Tage wieder eine Frau im Bett hatte. Im Moment empfand Mira beides unerträglich.

Seit wann bist du zu Hause?
K.

Seit gestern. Ich habe meine Familie nicht ertragen.

Ich komme vorbei. Setzen wir uns ins Dressolé?

Geht nicht.

Okay. Dann bis gleich.

Mira biss sich auf die Unterlippe, schmiss das Handy ans andere Fußende von der Couch und kraulte heftig in Filous Fell herum. Sie spürte, wie schon wieder die Tränen anbahnten, hätte sich aber dafür gehasst, hätte sie wieder losgeheult. Liebeskummer war doch die dümmste Erfindung dieser Welt. Ausgenommen von diesem unnötigen, bunten Löschpapier in Schulheften, dachte Mira absurderweise. Filou öffnete die Augen und blinzelte sie beinahe vorwurfsvoll an, da ihre Kraulbewegungen zu heftig waren. Mit einem Gähnen stand er auf, streckt seinen Rücken durch und legte sich in eine neue Position auf ihren Bauch. Lil schlief immer noch in der Hennenstellung auf ihrer Schulter. Mira dachte angestrengt darüber nach, was sie Kate sagen sollte oder wie sie ihr gegenüber treten sollte. Das beste Freundinnen Schauspiel konnte sie gänzlich abhaken. Das kaufte ihr nicht einmal mehr ein Blinder mit Krückstock ab. Mira hatte das Gefühl, dass jeder Vollidiot ihr angesehen hätte, wie sehr sie in Kate verknallt war. Vielleicht sollte ich einfach so tun, als hätte ich nie etwas gesagt. Vielleicht lache ich einfach, wenn sie jetzt dann kommt und sage: Heeey, du bist doch nicht wirklich auf meinen Witz reingefallen, oder? Während Mira diesen Gedanken tatsächlich in Erwägung zog, klingelte es an der Tür. Die Katzen zuckten erschrocken zusammen, auch Mira schlug das Herz plötzlich bis zum Hals. Das musste Kate sein. Aber so schnell? Behutsam setzte sie die vier Katzen, die ihren traurigen Körper für sich beansprucht hatten, auf die Couch, entschuldigte sich dafür, dass sie aufstehen musste und ging mit rasendem Herzen zur Tür.
Ich werde einfach so tun, als wäre nichts gewesen, dachte sie entschlossen, als sie dann mit viel Überwindung die Eingangstür für Kate öffnete.


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