Kapitel 17

„Jetzt?!"
„Ja, jetzt. Bitte, Kate. Ich weiß, das kommt echt spontan, aber ich überlebe das hier alleine nicht."
„Und was stellst du dir vor, wo ich schlafen soll? Schickst du mich in ein Hotel?" In Kates Stimme lag ein leises Lachen.
„Nein. Hier, natürlich."
„Ah ja", machte sie, wobei sie das ‚Ah' in die Länge zog, „In deinem Bett?"
Mira verdrehte am Telefon die Augen und wurde ungeduldig: „Höchstwahrscheinlich, es sei denn, du willst mit meinen Eltern das Ehebett teilen."
„Klingt verlockend", entgegnete Kate ironisch.
„Und? Kommst du?"
Schweigen.
„Ja, okay", stimmte sie dann mit müder Stimme zu, als müsse sie etwas tun, was sie überhaupt nicht wollte. Mira war natürlich klar, dass Kate eigentlich sehr wohl sofort kommen würde, aber sie kostete gerade jede Sekunde aus, in der sie Mira in ihrer Hoffnungslosigkeit aufziehen konnte.
„Danke, Kate! Dafür liebe ich dich! Das werde ich dir nie vergessen!" Das war ernst gemeint. Mira war weitaus mehr erleichtert, als sie gedacht hatte.
„Du würdest mich selbst dann lieben, wenn ich dich jetzt hängen lassen würde", scherzte Kate am Telefon, dann seufzte sie still und rief sich zur Ernsthaftigkeit, „Okay, ich werde jetzt dann mal meine Sachen packen, sonst komme ich vor Mitternacht nicht mehr an."
„Okay. Wann bist du ungefähr da?"
„Ich denke, gegen halb elf. Wehe du rollst keinen roten Teppich aus, wenn ich eure Treppen nach oben laufe."
„Du bist so lustig", meinte Mira ohne jeden Humor, musste aber doch ein wenig grinsen, „Also, dann bis später."
„Bis dahin, Chérie." Kate legte auf. Sie war immer die Erste, die auflegte. Sie konnte das. Mira hätte sich vermutlich noch fünf Mal verabschiedet, bevor sie wirklich auf den roten Knopf hätte drücken können. Mit seltsamen Freudensprüngen in ihrem Inneren, kam sie aus ihrem alten Kinderzimmer heraus und setzte sich wieder zu ihrem Vater an den Tisch, der stumm an seiner E-Zigarette rauchte und Miras Mutter in der Küche die Spülmaschine ausräumen beobachtete.
„Mit wem hast du telefoniert?", fragte er, sah sie an und steckte die E-Zigarette in seine Hemdtasche.
„Kate."
„Wer ist Kate? Du erzählst uns so wenig von dir."
Als würde dich das auch nur einen Hauch interessieren, dachte sie aggressiv, antwortete aber in gleichgültigem Ton: „Eine Freundin."
„Eine Freundin?", fragte ihre Mutter aus der Küche heraus. Sie spitzte bei solchen Themen immer die Ohren und Mira wusste, dass ihre Mutter, im Gegensatz zu ihrem Vater, echtes Interesse für ihren Freundeskreis hatte.
„Kennen wir sie?"
„Nein", antwortete Mira ihrer Mutter, „Aber ihr werdet sie kennenlernen."
Miras Vater zog überrascht die Brauen in die Höhe und sah sie erstaunt an, wobei seine grauen Augen auf diese eine, unehrliche Art blitzten. Das war das, was Mira an ihm nicht leiden konnte. Die Gleichgültigkeit, die Interesselosigkeit, die hinter dem Vorhang der schauspielerischen Überraschung in seinen Augen lauerte.
„Sie kommt heute und bleibt für ein paar Tage", antwortete Mira auf seinen fragenden, heuchlerisch interessierten Blick und spürte, wie ihre Aggression immer mehr anwuchs und fragte sich, wieso sie das so schrecklich aufregte. Wieso konnte sie nicht einfach darüber hinweg sehen, so, wie bei vielen anderen Dingen auch?
„Ach, Mira", stöhnte ihre Mutter erschöpft und legte sich nachdenklich eine Hand auf die Stirn, „Wo soll sie denn bitte schlafen?"
„In meinem Zimmer?", entgegnete Mira, als sei ihre Mutter völlig blöd.
„Und du auf der Couch, oder was?"
„Nein?!" Jetzt fing auch schon an, ihre Mutter sie zu nerven. Als wäre es nicht glasklar, dass sie mit Kate in einem Bett schlafen könnte, aber natürlich musste ihre Mutter so eine Szene daraus machen, denn ihre Tochter war ja lesbisch und wenn eine Lesbe mit einer Frau in einem Bett schlief, führte es ja unweigerlich zu unvernünftigen Nächten. Wenn sie wüsste, dass Kate auch lesbisch ist, dachte Mira plötzlich viel besser gelaunt und nahm sich vor, es ihrer Mutter ziemlich bald klar zu machen. Rein aus Prinzip.
Julia seufzte, schüttelte über irgendwas den Kopf und öffnete den Kühlschrank.
„Wie auch immer", murmelte sie dabei, „Ist schon Platz für eine Nachspeise?"
„Ja", rief Mira und merkte, wie sich ihre Laune deutlich verbessert hatte. Jetzt hatte eine Nachspeise Platz in ihrem Bauch. Fröhlich setzte sie sich wieder zu ihrem Vater an den Tisch: „Eine große Portion, bitte. Egal, was es ist!"

Es klingelte um kurz vor elf in der Nacht und Mira war die Erste, die von ihrem Platz aufsprang und zur Tür eilte, um in die Sprechanlage zu rufen: „Kate?"
„Wo bleibt mein roter Teppich?", hörte Mira ihre Stimme aus der Sprechanlange und sie war überrascht von dem plötzlichen Dopamin, das über sie herfiel, wie ein Schwarm Bienen über ihr bedrohtes Königreich. Mit einem Grinsen auf dem Gesicht betätigte Mira den Türöffner.
„Ist das diese Kate?", fragte ihre Mutter, die neugierig hinter Mira im Flur aufgetaucht war. Mira drehte sich zu ihr um und nickte. Im selben Moment erkannte sie eine gewisse Skepsis in Julias Augen. Sie hatte das Strahlen auf dem Gesicht ihrer Tochter richtig erkannt.
Was für eine Freundin ist diese Kate, Mira?"
Mira begegnete ihrem Blick und entgegnete im selben, theatralischen Tonfall: „Eine sehr enge Freundin, Mama", was sich wegen dem identischen Tonfall auch wie eine Frage anhörte. Eigentlich hatte ihre Mutter sich noch nie negativ über Miras Homosexualität geäußert, aber es war schon ein paar wenige Male vorgekommen, dass Julia unüberhörbar geseufzt und dann in Selbstmitleid gemurmelt hat: „Ich werde wohl nie Enkelkinder haben..."
Meisten entgegnete Mira demonstrativ und knapp: „Nö", aber manchmal, da nervte sie diese Aussage einfach nur, denn selbst wenn sie nicht auf Frauen stehen würde, wäre sie nie auf die Idee gekommen, ein Kind in diese Welt zu setzen. Dafür war sie nicht geboren. Sie war nicht der Typ Mensch, der eine Familie großziehen konnte. Einmal hatte sie gehört, dass der Wunsch und die Sehnsucht nach ewiger Freiheit und Abenteuern lediglich eine Illusion sei, die spätestens mit dem Älterwerden verflog und man sich, wenn es schon längst zu spät war, dann alleine in dem großen, idyllischen Haus sitzend wünscht, doch eine eigene Familie zu haben. Mira allerdings war der Meinung, dass der Wunsch nach einer eigenen Familie eine genauso große Illusion sein konnte, wie der nach Freiheit, und es am Ende genauso gut auch andersrum enden könnte: Nämlich, dass man mit der Familie beim Abendessen saß und sich wünschte, man wäre damals einfach ausgebrochen und frei geblieben.
Hinter ihr klopfte es an der Tür und Mira drehte sich um, damit sie Kate öffnen konnte. Das makellose Gesicht mit den rosaroten Wangen, der hellroten Nase und einer weinroten Mütze lächelte sie an. Miras Herz machte einen Satz und fing an zu stolpern. War Kate heute noch schöner als sonst, oder lag das bloß an der Kälte auf ihren Wangen und der Nase, die sie in ihrem Aussehen schmückte? Mira trat beiseite, stolz, ihrer Mutter ihre gutaussehende– ganz normale, enge – Freundin präsentieren zu können.
„Mama? Das ist Kate. Kate, das ist meine Mutter."
Miras Vater hatte schon vor einer Stunde aufgegeben und war schlafen gegangen. Kate trat mit ihrem Koffer zur Tür herein, auf dem der geschmolzene Schnee in Wasserperlen glitzerte und nahm ihre Mütze von den seidigen Haaren.
„Guten Abend, Frau..."
„Julia", antwortete Miras Mutter und reichte Kate die Hand, „Nenn' mich doch einfach Julia."
Und Mira erkannte in den Augen ihrer Mutter, dass Kate schon im ersten Augenblick bei ihr gepunktet hatte. Aber das schaffte sie immer. Kate wickelte ausnahmslos jeden um ihren hübschen, kleinen Finger.

Julia lachte. Schon zum wiederholten Male, in dieser Nacht. Es war bereits weit nach Mitternacht und Kate, Julia und Mira saßen immer noch im Wohnzimmer auf der Couch und redeten. Mira konnte in den Augen ihrer Mutter die Müdigkeit erkennen, aber sie kam einfach nicht von Kate los. Sie hing an ihren Lippen, hörte ihr zu, nickte angeregt und ging auf ihre geschickten Themenwechsel ein, wie ein Hofnarr, der sein Volk vergnügen muss. Dabei tat Kate nichts, was sie sonst nicht auch tat. Sie war einfach sie selbst. Sie amüsierte sich über Julias gute Laune, dachte angestrengt über eine Lösung nach, wenn sie ihr besorgt von (eigentlich Nicht-)Problemen in der Arbeit berichtete und lockerte im richtigen Moment die Situation. Mira war sprachlos, dass Julia und Kate sich so gut verstanden. Damit hätte sie wahrlich nicht gerechnet. So saß Mira also nur daneben und hörte zu, starrte gelegentlich auf ihr Handy – Mark hatte sich immer noch nicht gemeldet. Irgendwas in ihr wurde allerdings nun ungeduldig. Es war spät, sie war müde, Kate war hier und eigentlich wollte sie sich mit ihr im Zimmer verziehen und vögeln. Sie wusste ganz genau, dass es sowieso nicht dazu kommen würde. Die Tatsache, dass sie in ihrem Elternhaus waren und ihre Mutter viel zu neugierig war, ließ Mira ungewollt vernünftig sein. Trotzdem wollte sie sich mit Kate verziehen. Sie wollte sie anschmachten können, mit ihr reden können, sie berühren können. Mira war verliebt. Sie hatte sich verliebt, und nichts konnte diese Tatsache leugnen. Sie konnte sich ja nicht einmal mehr selbst belügen. Umso mehr ihr Kopf rief: Nein, du bist nicht in deine beste Freundin verliebt, du willst sie nur vögeln, das ist alles, desto wilder und erboster hämmerte das Herz gegen ihr Brustkorb, als wollte es ausbrechen, als wollte es vor den gemeinen Flüchen des Verstandes flüchten.
„Julia, ich danke dir für diesen netten Abend", hörte Mira Kate sagen und erwachte aus ihrer Gefühlswelt, „Aber ich denke, wir sollten uns langsam schlafen legen, wenn du morgen für 16 Leute kochen möchtest..."
„Ja, Liebes. Das stimmt wohl", seufzte Julia und ein Lächeln lag auf ihren Lippen – der Nachklang eines erfreulichen Kennenlernens. So hatte Mira auch gelächelt, als sie Kate das erste Mal richtig kennen gelernt hatte. Allerdings war das eine andere Situation gewesen und ein kleiner Funken Triumph spielte auch eine Rolle. Immerhin war Kate für ihre Unnahbarkeit überall bekannt und Mira schien die Einzige gewesen zu sein, die durch die harte Schale an den weichen Kern gelangt war – bis heute. Es durfte sie eigentlich nicht großartig wundern, denn Miras Mutter schaffte es immer wieder, mit den seltsamsten und unberechenbarsten Menschen ins Gespräch zu kommen. Sie blieb im Flow, das war ihre Kunst. Sie ließ sich von keinem Thema und keinem Menschen und ihren Eigenarten beirren.
Irgendwie, stellte Mira gerade erstaunt fest, bin ich meiner Mutter unheimlich ähnlich.
„Also, Mädchen. Ich wünsche euch eine gute Nacht. Schlaft schön!"
„Gute Nacht."
„Gute Nacht, Julia."
„Ach! Wollt ihr etwas Besonderes zum Frühstück?"
Kate lachte: „Du musst doch schon genug kochen, morgen. Ich denke, Mira und ich werden uns ein kleines Café suchen, in dem wir frühstücken..."
„Kommt gar nicht in Frage! Ich werde Kate mit Ungarischen Spezialitäten überraschen", sagte Julia zu ihrer Tochter, aber Mira zuckte nur die Schultern und fragte sich, wann ihre Mutter sie jemals in ihrem Leben noch am Vorabend gefragt hatte, was sie frühstücken möchte.
„Also gut", gab Kate nach, da sie merkte, dass es keinen Sinn hatte, zu diskutieren.
Julia strahlte über das ganze Gesicht, rief den beiden noch einmal eine gute Nacht zu und verschwand fröhlich im Schlafzimmer.
Verrückte Welt, dachte Mira.


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