Kapitel 15
Am Vormittag dieses langweiligen Tages tauchte Melly an Miras Arbeitsplatz auf und setzte sich auf ihren Schreibtisch.
"Hast du nichts zu tun?"
"Ach. Natürlich habe ich das", winkte Melly ab, "Ich denke tagein, tagaus über die Schrecklichkeiten dieser Welt nach."
"Ach so. Muss sehr anstrengend sein", murmelte Mira ironisch vor sich hin, während sie weiter arbeitete.
"Nein. Anstrengend nicht. Aber zutiefst deprimierend. Was machst du?" Sie schaute in Miras Bildschirm.
"Fehlzeiten eintragen."
"Und? Ich war doch fleißig, dieses Jahr, oder?"
"Dieses Ausbildungsjahr läuft erst seit vier Monaten. Aber ja, seitdem warst du tüchtig anwesend." Mira grinste sie an und Melly runzelte die Stirn. Dann legte sie ihre Finger auf Miras Namen.
"13 Fehltage. Ohhh, da müssen wir aber dran arbeiten, Miss Workaholic."
"Ach, seit du hier in unserem Betrieb bist, gibt es nichts, was mich noch Zuhause halten könnte", witzelte Mira, speicherte die Datei und sperrte den Bildschirm. Es machte sie nervös, wenn ihr andere beim Arbeiten zusahen. Außerdem war sie dann mit dem Kopf nicht ganz bei der Sache.
"Der letzte Tag für dieses Jahr. Irgendwie ist einfach nichts los heute."
"Wundert mich nicht", sagte Mira und rieb sanft über den blauen Fleck auf ihrem Handrücken. Mark hatte Mira immer noch nicht geantwortet, "Wer will denn einen Tag vor Weihnachten noch etwas von uns? Büroleute sind uninteressant, weißt du? Vor allem am 23. Dezember. Jetzt ist Endspurt angesagt. Die letzten Weihnachtsgeschenke kaufen, die letzten Plätzchen backen. Wer hat da noch Kopf für Papiere?"
"Also, wer heute noch nicht alle Weihnachtsgeschenke hat, sollte sich schämen", antwortete Melly entsetzt
Auf einmal überkam Mira eine heftige Traurigkeit, die sie nicht in Worte fassen konnte. Es war die Erinnerung, dass sie selbst absolut an niemanden gedacht hatte, dieses Jahr. Weder an ihre Freunde, noch an ihre Familie. Ihr Kopf war voll mit Nichts. So voll, mit diesem schweren Nichts, dass sie nicht einmal daran gedacht hatte, dass ein Geschenk - symbolisch, wenigstens – Anstand zeigte. Diese seltsame Traurigkeit kam von innen heraus. Das war sicherlich dieser Luftballon voll mit Dreck, der schon wieder ohne jegliche Vorwarnung platzte. Aber warum? Warum, zum Teufel? Müde, von diesem plötzlichen Gefühl ließ, Mira den Kopf hängen und seufzte. Um ihre Augen legte sich ein trüber Schleier und sie ließ die Schultern hängen.
"Alles okay?" Melly blieb Miras Stimmung nicht verborgen. Wie auch? Jeder Trottel hätte bemerkt, dass auf einmal ein Schatten über ihr lag.
"Ja...", log Mira und hob wieder den Kopf, um ihr in die Augen zu sehen, "Ist nur komisch, dass das Jahr so schnell vergangen ist. Da werde ich immer sehr sentimental." Wenigstens eine kleine Erklärung, die sie ihr geben konnte. Ganz gelogen war das ja nicht. Mira war ein sentimentaler Mensch. Viele Dinge machten sie nachdenklich und stimmten sie wehmütig. Das war jetzt natürlich nicht der ausschlaggebende Grund für ihre plötzliche Traurigkeit, aber immerhin musste sie Melly nicht im Dunkeln stehen lassen. Wenn sie eines von Melly wusste, dann das, dass sie es zutiefst nicht leiden konnte, wenn sie sah, dass einen etwas beschäftigte, aber sie nicht aufgeklärt oder abgewinkt wurde.
!Ja. Das ist krass", bestätigte sie und sah aus dem Fenster. Der Himmel war grau, keine Sonne zu sehen. Die Bäume kahl und insgesamt wirkte alles irgendwie trostlos. Der Schnee war auch nur noch braune Seife, die langsam aber sicher verschwand. Alles war eklig und nass. Nur die Dächer waren noch gepudert. Miras Stimmung wurde nicht besser, so, wie sie gerade nachdachte. Alle Gedanken zogen sich durch eine schwarze Kleie, bevor sie ihre Gefühlswelt erreichten. Der Optimismus verflogen, die Arbeitsmotivation am Ende. Der Tag im Arsch. Mira im Arsch. Wie auch immer. Wie schnell das geht, dachte sie betrübt, die gute Stimmung weggeblasen wie eine Seifenblase.
Wenn sie doch wenigstens wüsste, woher diese komische Betrübtheit immer wieder kam. Aus ihr heraus, ist klar. Aber weshalb? Gab es einen unauffällig Trigger? Ein unsichtbarer Gedanke, der sich nur als Gefühl äußerte? Was auch immer es war, es war scheiße. Es machte Mira wütend. Wütend, weil es ihr die freudigen Minuten wegnahm. Melly musterte eingehend Miras Gesicht, dann nahm sie Miras Hand in ihre und hielt sie in die Höhe. Irritiert legte Mira die Stirn in Falten.
"Was machst du da?"
"Ach, ich wollte nur sehen, ob du auch kurze Fingernägel hast."
"Hä, was?!"
"Hast du", sie ließ Miras Hand wieder los, "Dann ist das wohl doch kein Klischee."
Jetzt leuchtete ihr, was sie meinte.
"Doch. Voll das Klischee. Hast du mal Kates Hände angesehen?"
"Oh ja. Sie hat schöne Hände. Aber ihre Nägel sind auch nicht besonders lang."
"Definiere lang", forderte Mira, verschränkte die Arme und sah sie mit hochgezogenen Brauen an. Sie schaffte es immer wieder, Mira abzulenken. Selbst mit so dämlichen Themen. Irre. Aber das macht gute Freunde aus. Freunde ohne gewissen Vorzügen.
"Es gibt keine Definition von lang in meinem Duden."
Mira grinste in sich hinein, bedankte sich im Stillen über Mellys Anwesenheit und sah auf die Uhr. Sie hatte noch drei unerbittliche Stunden bis zur Mittagspause, deren Minuten aber langsamer vergingen, als ein ganzes Jahr. Mit anbahnenden Kopfschmerzen erhob sich Mira von ihrem Tisch und kramte nach Kleingeld in ihrem Geldbeutel.
"Cappuccino?"
"Exakt." Mira klaubte ein paar Cent Stücke zusammen und forderte Melly mit einem stummen Blick auf, mitzukommen. Melly stieß sich vom Tisch ab und hüpfte an Miras Seite. Sie passte sich bewusst ihren Schritten an, begutachtete ihre Freundin von oben bis unten und fragte sich, warum sie Mira eigentlich so gut kannte, ohne irgendwas über sie zu wissen. Und... hat sie abgenommen?
Im Pub hielt Mira hoffnungsvoll Ausschau nach Kate, aber sie war nirgendwo zu sehen. Vermutlich versank sie wieder in Arbeit, denn im Gegensatz zu Miras Abteilung, häufte sich bei Kate meistens die Arbeit gegen die Feiertage hin. Sie unterdrückte sich ein Seufzen, nahm eine Tasse aus dem Schrank und stellte es unter den Kaffeeautomaten. Das Kopfweh wurde immer schlimmer. Dieses biestige Stechen im Kopf!
"Du bist irgendwie blass. Ist wirklich alles okay bei dir?", fragte Melly, als sie sah, dass Mira die Farbe aus dem Gesicht wich. Mira war aufgefallen, dass ihr ein wenig schummrig wurde, als sie die Treppen herunterlief, aber es war ein seltsam tröstendes Gefühl.
"Mira, ich will dir ja nicht auf'n Geist gehen, aber vielleicht solltest du dich setzen."
"Ja, vielleicht sollte ich das", bestätigte sie, als sich ihr plötzlich graue Wolken vor das Sichtfeld schoben und sie für den Bruchteil einer Sekunde heftige Kopfschmerzen überfielen, wie eine große Welle, die abklingt. Der Unterschied war, dass die abklingende Welle ein angenehmes Kribbeln und Schaum am Ufer hinterließ. Miras Kopf aber pochte unangenehm weiter.
Sie ließ ihren Cappuccino links liegen und schleppte sich an einen Tisch im Pub. Melly, fürsorglich, wie sie war, eilte hinter die Bar und schenkte ihr am Waschbecken frisches, kaltes Wasser in ein Glas.
"Hier. Trink das."
Mira trank.
"Kreislauf?"
Mira und Melly drehten ihre Köpfe zur Tür, in der Ben aufgetaucht war. Innerlich stöhnte Mira und sah wieder in ihr leeres Wasserglas. Sie hatte gerade keine Lust auf Ben und seine Flirtversuche. Jeder seiner Wörter hörte sich anzüglich an. Selbst dieses lächerliche "Kreislauf?"
"Keine Ahnung, die sah plötzlich aus wie ne weiße Wand", antwortete Melly für ihre Freundin.
Ben zog die Brauen in die Höhe.
"Zu wenig getrunken?" Nebenbei schob er das Kleingeld in den Kaffeeautomaten, um sich seinen schwarzen Kaffee zubereiten zu lassen.
Melly zuckte die Schultern und wandte sich wieder Mira, die immer noch mit gesenktem Kopf in ihr Glas starrte. Ihr Schädel hämmerte - Herrje!
"Vielleicht solltest du dich mal hinlegen...", überlegte Melly.
"Ja. Sicher", murmelte Mira ironisch, "Was schlägst du vor? Gleich am Empfang vor dem Eingang oder doch lieber hier auf dem Tisch auf die Tischdecken?"
Melly sah sie verbissen an. Irgendwas stimmte mit Mira nicht. Ihr ging es nicht gut und sie schien es selber entweder nicht zu merken, oder nicht wahrhaben zu wollen. Was ging in ihrem Kopf vor? Was war los?
"Du könntest dich bei uns im Büro auf Herr Setteles Bürostuhl ausbreiten", antwortete Ben wie nebenbei, ohne die zwei auch nur anzusehen, während er die Tasse mit dem dampfenden Kaffee aus dem Automaten zog. Dann schielte er mit einer erhobenen Braue zu den Mädchen, die ihn beobachteten. Herr Setteles Bürostuhl war die Art von Bürostuhl, auf dem sich millionenschwere Bonzen gemütlich machten und ihre Siamkatze streichelten.
"Ja", stieß dann Melly fiel zu eifrig hervor und sprang vom Tisch auf, "Ja, das ist eine grandiose Idee. Nicht, Mira? Ich denke, sie sollte sich wirklich hinlegen. Wenigstens für fünf Minuten."
Mira warf ihr einen bösen Blick zu und zischte nur für ihre Ohren bestimmte: "Willst du mich verarschen?!"
Melly war Miras hoffnungslosester Amor. Ihre Pfeile verteilte sie immer an diejenigen, die ihr selbst gefielen und von denen sie meinte, dass Mira und der potenzielle Liebhaber ein optisches Traumpaar abgeben würden.
Melly schenkte ihr einen ungenierten Blick und machte eine viel zu auffällige Kopfbewegung in Bens Richtung, der in der Tür stand, die zwei beobachtete und an seinem Kaffee schlürfte. Was sollte Mira denn nun sagen? Jede Ausrede hätte unehrlich geklungen und vor allem feige. Brummend erhob sie sich also von ihrem Stuhl, der ihr den sicheren Halt vor einem Zusammenbruch geboten hatte und sah Melly kein zweites Mal an, als sie achselzuckend zu Ben trat.
"Dann zeig mir mal, diesen ominösen Settele-Stuhl..."
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