Kapitel 14


Natürlich ist sie damals nicht gestorben. Selbst dazu war sie zu blöd gewesen. Ein Mensch, der zu blöd dazu ist, sich umzubringen, hat es gar nicht verdient zu sterben. Mira ist damals in der Früh aufgewacht, mit Kopfschmerzen und Bauchkrämpfen, aber sonst war alles wie immer. Sie hatte das Zeug, was sie in der Nacht ausgekotzt hatte – und ja, da war tatsächlich jede Menge Blut dabei – weggeputzt und hatte sich für die Schule fertiggemacht. Sie hat weitergelebt, als wäre nie etwas gewesen. Als hätte sie niemals vorgehabt, sich umzubringen. Müde von der Erinnerung rieb sich Mira die Augen und griff nach ihrem Handy. Sie wollte Mark zurückschreiben. Vielleicht lenkte sie das ein wenig ab, außerdem wartete er sicher schon auf eine Antwort. Also ging Mira auf seine Nachricht von heute Abend ein, erzählte ihm, dass sie hier ihre Ausbildung angefangen hatte und immer wieder mal ihre Eltern in München besuchte. Dann legte sie ihr Handy weg, kuschelte sich noch enger an Kate und schlief binnen weniger Sekunden ein. Als Mira aufwachte, war es noch dunkel, was allerdings nicht unüblich zu dieser Jahreszeit war. sie hörte draußen den Piepton der Müllabfuhr und hinter ihr den gleichmäßigen Atem von Kate. Sie war mit dem Rücken zu ihr gedreht und starrte auf die Löcher der Rollos, durch die sich orangenes Licht kämpfte. Sie war so müde, dass sie am liebsten wieder die Augen geschlossen und weiter geschlafen hätte, aber sie wusste, dass wenn sie jetzt der Müdigkeit nachgab und wieder einschlafen würde, mit Kopfschmerzen aufwachen würde. Also rieb sie sich die Augen und zwang sich aus dem Bett, ohne Kate dabei zu wecken. Mira war totenstill. Man hätte sie nicht einmal in hellwachem Zustand in einem Raum vermutet, so still wie sie war, trotzdem drehte sich Kate von der einen Seite auf die andere und rieb sich die Augen. Mira blieb wie versteinert vor dem Kleiderschrank stehen und drehte ihren Kopf langsam zu Kate, die sie aus ihren schönen Augen anblinzelte.
"Was machst du denn da?", murmelte sie müde und richtete sich im Bett auf.
"Ähm...", Mira sah auf die Klamotten in ihrer Hand und dann wieder in Kates Gesicht, "Ich wollte mich anziehen..."
"Warum?", sie runzelte die Stirn und schaute auf die digitale Uhr auf dem Fensterbrett, "Fünf Uhr? Du bist doch kein normales menschliches Wesen." Sie ließ sich wieder zurück ins Bett fallen und legte die Hand auf ihre Stirn.
"Habe ich dich jetzt wirklich geweckt?"
"Nein", seufzte sie, "Ich bin von alleine wach geworden und habe dann gespürt dass du nicht mehr neben mir liegst." Sie rieb sich sanft über das Gesicht und setzte sich wieder auf, um die Nachttischlampe anzumachen. Beide kniffen geblendet die Augen zusammen. Mira hätte neidisch werden können, als sie Kate sah. Selbst in aller Herrgottsfrühe sah sie so schön aus wie in einem billigen Hollywood-Film, in denen die Schauspieler selbst zum Schlafen hergerichtet wurden.
"Ich steh auch gleich auf. Kann ich dann ins Bad oder möchtest du dich ungestört fertig machen?", fragte sie, nachdem sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten.
"Nein. Stört mich nicht", sagte Mira kurz angebunden, weil sie schon wieder nervös wurde. Sie liegt in meinem Bett. Bei mir Zuhause. Und sie sieht atemberaubend schön aus! Mit einem leisen Räuspern packte Mira ihr Zeug und eilte in das Bad, um sich fertig zu machen.
Sie hatten sich beide relativ viel Zeit gelassen, um sich fertig zu machen. Es blieb sogar noch genug Zeit für ein richtiges Frühstück, das allerdings relativ seltsam verlief. Mira war nämlich noch im Bad, um sich die Haare zu machen. Als sie dann in die Küche trat, um sich einen Kaffee zu machen, war der Tisch für Zwei gedeckt. Getoastetes Toastbrot, Geflügel-Schinken, Tomaten und Frischkäse standen in der Mitte des Tisches. Kate stand mit den Händen in die Hüfte gestemmt neben dem Tisch und sah Mira schulterzuckend an. "Viel hast du ja nicht zu bieten. Wann warst du das letzte Mal einkaufen?"
"Gestern", sagte Mira wahrheitsgemäß.
"Ach ja? Und was hast du gekauft? Wasser?" Sie warf einen Blick auf den Sixpack mit den 1,5 Liter Flaschen.
"Nein", Mira schüttelte den Kopf, "Joghurt. Und Gemüse." Sie zeigte auf die Tomaten in der Mitte des Tisches.
"Oh wow. Dieser Magerjoghurt mit 0,1 % Fett?" Mira entging nicht, dass Kate ein wenig ärgerlich zu werden schien. Warum auch immer. Mira verstand sie nicht. Es war ihre Küche. Ihr Kühlschrank. Ihr Geld. Ihr Leben. Was war das Problem?
"Ja, der", antwortete Mira ein wenig gereizt. Jetzt verfinsterte sich Kates Mine für den Bruchteil einer Sekunde. Dann fiel der Zorn aber von ihr ab, sie ließ die Arme wieder hängen und seufzte.
"Setz dich", bat sie Mira leise und zog einen Stuhl vom Tisch weg, um Mira einen Platz zu bieten. Zögerlich trat sie an den Tisch und setzte sich. In ihrem Magen lag ein schwerer Stein, weil sie die Situation gerade verunsicherte. Was war das eben? Hatten sie gerade indirekten Alltags-Streit gehabt? Fast wie ein Ehepaar. Fast. Oder zumindest ein Pärchen, das schon länger zusammen lebt.
"Ich habe dir nur einen Toast gemacht...", sagte sie wie nebenbei, während sie ihre zwei Toasts mit Frischkäse beschmierte und Schinken drauf legte. Dann sah sie auf Miras Teller, auf dem das nackte Toastbrot lag.
"Was ist? Keinen Hunger?" Sie fragte es mit einem amüsierten Unterton, aber Mira konnte ihre leichte Gereiztheit nicht überhören. Sie war sarkastisch. Wenn Kate auf so einem Level mit Sarkasmus spielte, war sie kurz davor wütend zu werden. Das wollte Mira nicht herausfordern, nahm das Toastbrot und brach eine Ecke ab, um sie in den Mund zu stopfen. Kate knallte darauf das Messer mit so einer Wucht auf den Teller, dass Mira sich richtig erschrak und ihr Puls in die Höhe fuhr. Sie hielt im Kauen inne und blinzelte sie schwach an. Was sollte sie denn tun? Ihr Magen fühlte sich an wie ein Sack voll mit aufgegangenem Reis. Sie hatte einfach keinen Hunger und bekam keinen Bissen herunter.
"Du musst etwas essen, Mira!" Mira kaute vorsichtig weiter, schluckte den Brocken und legte das Toastbrot aus der Hand. Es war sinnlos. Es ging einfach nicht.
"Ich habe keinen Hunger. Denkst du, ich esse aus Protest nicht?"
"Ja, durchaus. Das denke ich!" Zwischen ihren Augenbrauen bildeten sich Zornesfalten und Mira erwiderte diesen bösen Blick, weil sie Kates kläglichen Versuch, sie mit Essen vollzustopfen, alles andere als fair fand.
"Was erhoffst du dir davon?", fragte Mira beleidigt, "Dass es mir wieder gut geht? Sorry, ich muss meine innere Leere nicht mit irgendwelchem sinnlosen Fraß füllen, damit ich wieder himmelhochjauchzend durch die Wohnung tanze." Wütend krallte Mira sich das Toastbrot, knüllte es in einer Faust zusammen wie ein Stück Papier, stand vom Tisch auf und warf es in die Mülltonne. Miras Schultern bebten, während sie auf den Mülltonnendeckel starrte und sie versuchte sich zu beruhigen. Es gab keinen Grund, so auszurasten. Eigentlich. Uneigentlich ging ihr Kates Aufstand aber tierisch auf die Nerven. Mira beabsichtigte ihr verdammtes Essverhalten nicht. Wenn sie Hunger hatte, aß sie. Punkt.
"Ich will nicht streiten." Mira zuckte zusammen, als sie Kates Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie hatte nicht gehört, dass sie aufgestanden und zu ihr gekommen war. Miras Unterkiefer war angespannt und sie knirschte mit den Zähnen, bevor sie die Augen schloss und einmal tief durchatmete. Dann drehte sie sich zu ihr um, sah ihr aber nicht in das Gesicht, sondern auf den trostlos gedeckten Tisch hinter ihr.
"Ich will auch nicht streiten", flüsterte Mira, immer noch mit einer Zornesfalte im Gesicht, aber sie war zu aufgebraust, um sie einfach verschwinden zu lassen. Das Essen war ein schweres Thema, mit dem man sie schnell reizen konnte. Dass sie Kate so angefahren hatte, war nicht ihre Absicht gewesen. Kates Stimme klang sanft und leise, als sie weitersprach. Fast sogar vorsichtig.
"Komm. Lass uns den Tisch abräumen und bevor wir zur Arbeit fahren kaufen wir uns einen Kaffee beim Bäcker."
"Cappuccino", korrigierte Mira monoton und hob den Blick, um ihr in die Augen zu sehen.
"Oh, ja. Verzeihung, Cherí." Sie lächelten sich an und der aufkeimende Ärger war verflogen.

Kate hatte Mira direkt vor dem Gebäude heraus gelassen, weil es unfassbar arg schneite und war selber weiter gefahren, um einen Parkplatz zu suchen. Sie waren kurz vor knapp angekommen und als Mira den Empfangsbereich betrat, war sie im ersten Moment sehr verwundert, dass sie Melly nicht sah. Nur eine Minute später kam sie um die Ecke aus dem Pub und hielt eine Tasse Blaubeermuffin-Tee in der Hand.
"Miraaa", rief sie grinsend, stellte die Tasse ab und kam zu Mira gehopst, um sie zu umarmen. "Gehts dir gut?", fragte Melly. Hinter ihnen ging die Zwischentür auf und Mira drehte sich um. Kate kam herein, die Kapuze ihres braunen Parkas über dem Kopf. Sie klopfte ihre Schuhe auf der Schmutzfangmatte ab und trat zu ihnen. Als sie neben Mira trat und ihr den Arm um die Hüfte legte, war sie so überrascht, dass sie einen Moment lang ihre Gesichtszüge nicht unter Kontrolle hatte und auch Melly sprang eine Augenbraue verwundert in die Höhe.
"Ääähm. Ja, mir gehts gut. Es ist nur... kalt... und müde... also, ich bin müde", stammelte Mira unbeholfen, wie der letzte Idiot. Kate hatte sie völlig aus der Fassung gebracht. Es war nicht diese eine Geste, dass sie ihr den Arm um die Hüfte legte. Das tat Mira bei Melly auch manchmal, wenn sie im Supermarkt an der Kasse anstanden. Es war diese Art, wie sie es tat. Als würde sie Mira näher an sich heranziehen wollen. Falsch, als würde sie Mira in sich hineinziehen wollen. Es war viel zu intim. Jedenfalls bildete sich Mira das ein. Vielleicht interpretierte sie das auch völlig falsch und Kate hatte keinerlei Hintergedanken dabei. Okay, ein Ruck. Nur ein einziger, kleiner Ruck. Mira lächelte Kate an und drehte sich aus ihren Armen, griff mit einer Hand in ihre Jackentasche und zog 50 Cent hervor.
"Cappuccino", rief sie, während sie um die Ecke bog. Obwohl sie Kate nicht mehr sah, wusste sie, dass sie grinsend die Augen in Mellys Richtung verdrehte, dann rief sie ihr hinterher: "Du hattest doch vor fünf Minuten erst einen!"
Mira lachte still in sich hinein, da öffnete sich die Tür direkt neben dem Pub und Ben kam ihr entgegen.
"Huch", machte sie, weil sie beinahe über seine Beine stolperte und hielt sich am Türrahmen zum Pub fest. Er griff nach ihrem Arm, lächelte sie aus seinen blauen Augen an und ging weiter. Verstört sah sie ihm hinterher und fragte sich mal wieder, was diese ständigen Blicke von ihm zu bedeuten hatten.
"Du bist aber auch ein herrlicher Tollpatsch", kommentierte Kate, die Miras Stolper-Aktion gesehen hatte, da sie ihr in den Pub gefolgt war. "Hast du das gesehen?", fragte Mira rhetorisch und stellte eine Tasse unter die Kaffeemaschine, "Ich finde ihn zutiefst verstörend." In ihren Worten lag ein Hauch von Ironie, den Kate aber schnell auffasste.
"Es gibt da eine Traumatherapie, die würde ich dir empfehlen, wenn du das Bedürfnis danach hast." Sie legte Mira kurz eine Hand auf die Schulter und drückte zu, während sie die 50 Cent in den Kaffeeautomaten schob.
"Das war der Witz des Jahrhunderts."
"Nein", widersprach sie, "Soll ich dir sagen, was der Witz des Jahrhunderts ist?"
Mira nahm ihre volle Tasse und ließ Kate an den Automaten.
"Ich nehme an, du wirst es mir gleich verraten."
"Der Witz des Jahrhunderts ist, dass ich das erste Mal in meinem Leben Weihnachten alleine verbringe."
Miras Blick verharrte auf ihren Wangenknochen und sie zog irritiert die Augenbrauen zusammen.
"Warum verbringst du Weihnachten alleine?" Mit einem Schulterzucken löffelte Kate zwei Zuckerwürfel in ihren Kaffee und gab noch einen Schuss Milch dazu. Mira schlemmerte den warmen Milchschaum vom Cappuccino und betrachtete Kate aufmerksam. Sie wirkte kurz so, als würde sie nicht darüber reden wollen. Oder als würde sie sich überlegen, wie sie sich herausreden konnte. Dann sah sie Mira aber kurz in die Augen und meinte: "Meine Eltern sind zerstritten und ich habe keinen Bock auf diese erdrückende Scheinheiligkeit. Da verbringe ich lieber meine Zeit in Ruhe in meiner Wohnung, kuschele mich in eine Decke, mache meinen Pseudo-Kamin an und schaue schnulzige Weihnachtsfilme, von denen ich das Kotzen kriege."
Irgendwie tat sie ihr leid. Mira hätte sie ja gerne eingeladen, mit ihr Weihnachten zu feiern, aber bei ihrer Familie war die Scheinheiligkeit vermutlich nicht viel weniger schlimm. "Und dann sitzt du lieber kotzend vor irgendwelchen billigen Weihnachtsfilmen, die du schon hundertmal gesehen hast?"
"Ja. Viel lieber. Wenn ich Glück habe, läuft der Grinch. Mit diesem hässlichen Ungetüm habe ich mehr gemeinsam, als du denkst."
"Der Grinch ist nicht hässlich", rief Mira entsetzt und boxte ihr sanft in die Schulter. Sie lachte emotionslos auf.
"Stimmt. Ich vergaß! Du würdest ja auch Golum adoptieren, weil du ihn so zuckerschnutig findest." Mit einem Zwinkern verließ sie den Pub. Mira sah ihr kurz hinterher, dann machte sie sich auch auf den Weg zur Arbeit. Bevor sie sich an ihren Tisch setzte, checkte sie noch ihr Handy, ob Mark geschrieben hatte.

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