Kapitel 13


Natürlich hätten sie fast wieder miteinander geschlafen. Fast. Denn Kate hatte sich rechtzeitig zurückgezogen. Nun ja, sie ist regelrecht von Mira weg gesprungen und Mira saß dann schwer atmend in die Couch gedrückt. Das T-Shirt halb bis zu den Brüsten hoch gezogen, die Hose war ihr bis zu den Hüftknochen heruntergerutscht. Ihr Puls ging so schnell, als wäre sie gerade drei Mal um die Altstadt gesprintet und zwischen ihren Beinen war es so heiß, dass sie dachte zu explodieren.
"Das ist doch scheiße", sagte Mira dann schließlich, halb keuchend, halb murmelnd und Kate seufzte tief, während sie sich ihre kinnlangen Haare richtete. Die hellblonden Strähnen hingen wirr in ihrem Gesicht herum. Sie brauchte mehrere Anläufe, bis sie wieder annehmbar aussah.
"Du meinst die Vernunft?"
"Ja, deine Vernunft." Auch Mira strich sich die Haare aus dem Gesicht und zog sich wieder an. Das Herz schlug ihr immer noch bis zum Hals.
"Einer von uns muss ja vernünftig sein."
"Bullshit", murmelte Mira, wusste aber, dass sie Recht hatte. Und gleichzeitig war Mira ihr auch dankbar. So, wie Mira sie begehrt hatte, so sehr hatte sie auch die Angst davor, dass es wieder passiert – und alles noch schlimmer wird.
"Insgeheim weißt du's", sagte Kate und setzte sich wieder näher an Mira heran. Sie half ihr, die Haare zu richten. Dann sah sie Mira lange einfach nur an. Ohne ein Wort. Bis auf einmal die Melodie des Filmsoundtracks von dem Film, den sie ursprünglich anschauen wollten, sehr laut wurde und sie beide den Kopf zum Fernseher drehten.
"Wie fandst du ihn?", fragte Mira ironisch, aber völlig monoton.
"Sehr interessant. Und tiefgründig", antwortete sie mit einem ernsten Gesichtsausdruck.
"Und melodramatisch", erwiderte Mira genauso ernst. Dann sahen sie sich an und grinsten.
"Vielleicht sollten wir jetzt aber auch einfach schlafen", dachte Mira laut, um der unangenehmen Situation zu entkommen.
"Vielleicht sollten wir das", sagte Kate, "Morgen haben wir sowieso unseren letzten Arbeitstag, für dieses Jahr."
"Wahnsinn, oder?", staunte Mira, als sie sich erinnerte, dass heute schon der 22. Dezember war. In zwei Tagen war Weihnachten. In einer Woche Neujahr. Sie konnte es kaum glauben.
"Ja. Dieses Jahr ging viel zu schnell vorbei. Manchmal hat man das Gefühl, man kommt mit dem Leben gar nicht hinterher." Kate sah nachdenklich aus dem Fenster in den schwarzen Himmel. Es waren keine Sterne zu erkennen. Nicht einmal der Mond war von diesem Winkel aus zu sehen.
"Hmh", machte Mira, "Aber dennoch hat jedes Jahr 365 Tage und jeder Tag hat 24 Stunden. Das heißt, dass jedes Jahr ungefähr gleich lang ist. Verpassen können wir also gar nichts." Kate riss den Blick vom Fenster und lächelte Mira warmherzig an.
"Ganz genau. Und der neue Tag ist vor genau 13 Minuten angebrochen. Deshalb sollten wir uns ins Bett legen."
"Und schlafen", fügte Mira hinzu.
"Genau. Und schlafen."

Als Kate und sie nebeneinander im Bett lagen, legte Kate ihren Arm um Mira und streichelte noch eine kurze Zeit ihren Arm, bis sie einschlief. Als Mira dann ihrem gleichmäßigen, ruhigen Atem lauschte, fing sie an, an Lejla zu denken. Sie hatte sich ein ganzes Jahr nicht gemeldet. Ein ganzes, volles Jahr hatte sie ihre Stimme nicht gehört. Diese wenigen Antworten, die sie ihr hie und da geschrieben hatte, hatten sie nur kurzweilig aufmuntern können. Zumal es wirklich meistens nur ein Satz – wenn überhaupt! – war, den sie für Mira übrig hatte. Es machte sietraurig. Schrecklich traurig. Denn sie verstand einfach nicht, was sie falsch gemacht hatte. Sie verstand nicht, warum sich Lejla von heute auf morgen einfach nicht mehr gemeldet hatte. Lejla hatte ihr zwar von Anfang an, seit sie uns kennen, versichert, dass sie niemals einfach verschwindet – und dieses Versprechen hat sie ja offensichtlich gehalten, denn sie hat sich ja wieder gemeldet -, aber dass sie zuvor ganze 8 Monate nichts von sich hören ließ, war absolut unüblich. Es hatte Mira die letzten Nerven geraubt, weil sie irgendwann sogar mit dem Gedanken spielte, was denn nun wäre, wenn ihr tatsächlich etwas zugestoßen ist und schon längst auf einem Friedhof in einem Grab liegt. Mira hätte es nicht mitbekommen. Und sie hätte noch nicht einmal etwas tun können, denn weder hatte sie ihre Telefonnummer, noch ihre Adresse, geschweige denn ihren vollen Namen. Alles, was sie über Lejla wusste war, dass sie 200 km von ihr entfernt wohnte und es theoretisch ein Katzensprung gewesen wäre, sie zu besuchen. Und dann, irgendwann, nach sage und schreibe, 8 Monaten, hatte sie eine E-Mail in ihrem Postfach. Von Leyla. Und was stand da drinnen? Nichts. Es war lediglich ein Foto von ihr, in dem sie in die Kamera zwinkerte und halb lächelnd einen Kussmund machte. Ein Foto, bei dem sich Mira mal wieder dachte, wie unfassbar schön sie war. Und das, obwohl sie dieses Jahr schon die 47 erreicht hatte. Sie sah definitiv nicht älter aus als 35. Dieses Foto hatte sie Mira als Antwort auf einen ellenlangen Text geschickt, in dem sie ihr schrieb, wie sehr sie Mira fehlt, wie ihr Leben momentan aussieht und dass sie hoffe, dass es ihr gut geht. So fing dann also der Kontakt wieder an – aber wie gesagt, nur sporadisch. Ihre Nachrichten waren mittlerweile ganz anders, als damals. Weniger liebevoll, viel mehr belehrend oder tadelnd. Allerdings erinnerte Mira sich bis heute an einen Satz, den sie zu ihr gesagt hatte, der ihr Herz wie Butter schmelzen ließ. Und dieser Satz war: "Mira, ich mag dich sehr! Und ich will nicht dabei sein, wenn du dir dein Leben zerstörst." Das war vor fünf Jahren. Im Dezember 2010. Zu der Zeit kannten sie sich schon seit eineinhalb Jahren, aber noch kein einziges Mal hatte sie zu ihr gesagt, wie sie zu Mira steht. Geschweige denn, dass sie sie mag.

November 2010

Ein Mensch beschließt nicht einfach so, zu sterben. Ein Mensch will sterben, wenn er keinerlei Hoffnungen mehr in sich trägt. Nicht einmal einen kleinen Funken. Nun ja, mir geht es so. Mir geht es furchtbar. Und heute geht es mir schlechter, als jemals zuvor. Diese Leere, dieser gottverdammte Schmerz, der einfach von nirgendwo kommt.
Ich hasse ihn. Er ist in mir drin. Ich hasse ihn und ich hasse mich und ich hasse, dass es nicht aufhört. Ich hasse dieses Gefühl, von innen heraus zu verbrennen und am liebsten würde ich mich ins Bett legen und schreien. Diesen ganzen Schmerz totschreien. Oder aus mir heraus kotzen. Egal was! Aber nichts. Nichts, bringt mich weiter. Nichts, verdammt, absolut nichts macht, dass es aufhört.
Die Leere, die gerade in mir war, war allerdings viel schlimmer, als der Schmerz, der sonst noch dazu kam. Denn dieser blieb einfach aus. Da war einfach nur Leere in mir. Ich fühlte NICHTS. Das erste Mal in meinem Leben wusste ich, was es bedeutet, aufzugeben. Das Leben aufzugeben, die Hoffnung aufzugeben, sich aufzugeben – scheißegal. Einfach alles aufzugeben.
Innerlich war ich sowieso schon längst tot. Ohne irgendein Gefühl, außer einem dumpfen Pochen, ganz tief in meiner Magengrube (war das mein Herz?), kroch ich zu dem Schränkchen meiner Oma. Drei Schubladen. Medikamente. Keine Ahnung, was das für Zeug war, aber ganz sicher waren viele Schlaftabletten dabei. Und anderes Zeug. Schmerzlindernde Medikamente, vielleicht. Irgendwas für's Herz? Oder für die Muskeln oder Knochen? Weiß der Geier, das war mir in dem Moment herzlich egal.
Insgesamt nahm ich 5 Packungen aus den Schubladen. Eine Hand voll Tabletten. Ich dachte nicht einmal darüber nach, als ich es tat. Ich würgte sie einfach herunter. Einige spuckte ich wieder aus, weil der Würgreiz bei den größeren Tabletten einfach zu extrem war. Es tat weh, aber es kümmerte mich nicht. Ich stopfte sie wieder rein und schluckte. Es tat so weh, dass mir die Tränen in die Augen traten, aber ich hatte kein Wasser da, ich hatte also keine andere Wahl, als sie mit Zwang trocken herunter zu würgen.
Ich merkte nichts. Ich weiß nicht, worauf ich wartete oder was ich erwartet hatte. Ich dachte ich würde sehr bald einfach wegtreten – also einschlafen oder in Ohnmacht fallen. Aber wie ich so jämmerlich auf dem Parkettboden in meinem Zimmer saß, in tiefster Nacht, ganz alleine, und die offenen Medikamentenpackungen auf dem Boden anstarrte, wurde mir klar, dass ich wohl noch Zeit hatte. Wofür auch immer. Um weiter zu leiden, vermutlich. Nicht einmal der reizende Sensenmann erwies mir die Ehre, mich einfach in sein verdammtes Reich zu holen. Nein. Ich starrte auf die Uhr, immer noch auf dem Boden. Ich hatte das Gefühl, die Zeiger würden sich auf einmal viel langsamer bewegen und dann waren es nicht mehr nur noch zwei, sondern vier Zeiger. Doppelt so viel Zeit – und dann auch noch verzögert. Na toll.
Mit langsamen Bewegungen griff ich nach den Packungen und stopfte sie zurück in die Schublade und schob sie zu. Es fühlte sich seltsam schwer an. Auch das Material fühlte sich nicht nach Plastik an, was es ja eigentlich war, sondern seltsam gummi-artig. Ich hatte das Gefühl, es würde dem Druck meiner Finger nachgeben, aber vermutlich bildete ich mir das auch nur ein. Was wollte ich gerade tun? Die Tabletten hatte ich wieder weggelegt. So konnten meine Eltern wenigstens denken, ich wäre bloß eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.
Und jetzt? Ich durchforstete meinen Kopf. Das Denken fiel mir unsagbar schwer. Alles kam mir viel zu verzögert vor. Das Ticken der Uhr, meine Bewegungen, sogar das, wie ich mit meinen Augen die Umgebung absuchte, wirkte auf mich wie eine Computermaus, die total langsam reagierte, weil der Rechner so viele Dinge auf einmal arbeiten musste. Das Signal kam einfach nicht rechtzeitig an. Und auf einmal hatte ich das Gefühl, dass auch das Atmen viel zu verzögert kam.
Irgendwas stimmte nicht. Irgendwas stimmte ganz und gar nicht. So sollte das nicht sein. Ich sollte doch einfach einschlafen! Aber anstatt der Müdigkeit, die ich erwartet hatte, trat einfach nur eine schrecklich große Trübheit ein. Erst brauchte ich unfassbar lange, bis ich etwas mit meinen Augen fixieren konnte und als ich versuchte zu meinem Bett zu kriechen, hatte ich das Gefühl, es würde sich immer weiter von mir entfernen. Alles bewegte sich. Sogar ich. Obwohl ich nur dasaß. Oder? Nein, meine Hand griff nach vorne. Sehr ungeschickt erreichte ich mit wenigen Fingerspitzen die Bettkante und ich zog mich an das Gestell. Es kostete mich große Mühe, mich auf das Bett zu ziehen. Im Endeffekt weiß ich nicht einmal, wie es mir gelungen war. Und im selben Moment, wie ich mich in den weichen Stoff fallen ließ, wollte ich sofort wieder auf den Boden, denn ich hatte das Gefühl in einem Wackelpudding gefangen zu sein, der nicht aufhört, mich zu schütteln.
Mir wurde übel. Unglaublich übel. Ich wollte sofort wieder von dem Bett runter, aber ich verlor gerade die Kontrolle über meinen Körper. Mein Bein fing an zu zucken. Dann beide. Es war ein seltsames Gefühl, was ich aber nicht lange wahrnehmen konnte, weil zu allem Überfluss mein Magen zu brennen anfing. Oh Gott, was habe ich getan? Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Ich hätte wissen müssen, dass das Leben nicht einmal in der Sekunde so gnädig mit mir umgeht, wenn ich mich umbringen will. Nicht einmal dann. Ich hätte wissen müssen, dass selbst das schief geht, dass ich vermutlich der einzige Trottel bin, der sich umbringt und dabei auch noch die schlimmsten, körperlichen Schmerzen erfährt.
Nicht eine einzige Sekunde hätte ich mir vorstellen können, dass solche Schmerzen überhaupt möglich sind. Ein anderer Idiot hätte sich einfach von einem Hochhaus gestürzt, erhängt oder erschossen. Aber doch niemals eine Überdosis genommen! Großartig. So sterbe ich nun auch noch mit der Erkenntnis, dass ich ein erbärmlicher Vollidiot bin.
Ich keuchte. Aus diesem Keuchen wurde ein Gurgeln und ich spürte, wie mir irgendwas die Speiseröhre hochkam. Instinktiv drehte ich mich auf die Seite, stützte mich ab und hing nun mit dem Kopf von der Bettkante, sodass ich gerade noch rechtzeitig auf den Parkettboden erbrach und nicht auf die hellblaue Bettdecke. Kaum dass draußen war, was raus musste, kam der nächste Schwall. Und vor Schreck und Schmerzen stöhnte ich, noch bevor alles aus mir heraus war, denn ich starrte auf einmal in ein dunkelrotes Etwas. Es muss Blut gewesen sein. Etwas anderes ergab keinen ersichtlichen Sinn. Aber was ergab überhaupt schon Sinn?
Ich konnte es ja nicht erkennen. Es bewegte sich immer noch alles und alles, was ich erkannte, war lediglich diese dunkelrote Lache auf dem Boden. Vielleicht war es auch mein Herz? Schön wär's. Ich habe schon oft in meinem Leben Herzen gekotzt. Das lag aber daran, dass mir immer schlecht wurde, wenn ich die ganzen frischverliebten Liebespaare auf den Straßen herumknutschen sah.
Oh Gott, ich will nicht mehr. Ich will nicht mehr! Es tut so furchtbar weh! Dieses Brennen in meinem Magen hatte sich so ausgebreitet, dass ich es nun sogar im Mund spürte. Ungefähr so fühlte ich mich als Kind oft, wenn ich hohes Fieber hatte. In meinem Mund war es immer schrecklich heiß. Wie im Ofen. Auf einmal merkte ich, wie mir langsam aber sicher immer dunkler vor Augen wurde und eine Sekunde war ich glücklich. Glücklich, weil es jetzt endlich ein Ende nahm. Jetzt würde ich sterben. Ganz sicher. Mein Blickwinkel wurde immer enger, immer kleiner, immer dunkler. Bis ich nur noch durch ein klitzekleines Loch starrte, kleiner als ein Ameisenkopf und dann fiel ich in eine vollkommene Schwärze.

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