Kapitel 10
Kate und Mira setzten sich im Dréssole in das hinterste Eck auf eine rot gepolsterte Bank an einen dicken Tisch aus Eichenholz. Kate hatte sich ein Milchkaffee bestellt, Mira Cappuccino. Mira war cremigem Milchschaum total verfallen und sie kannte kaum ein Café, das bessere Cappuccinos zubereitete, als das Dréssole.
Sie löffelte gerade genüsslich den Schaum aus ihrer Tasse, bevor sie den Cappuccino trank. "Du isst in letzter Zeit nichts, kann das sein?", griff Kate ein Thema auf, mit dem Mira nun wirklich überhaupt nicht gerechnet hatte.
"Kann sein." Sie zuckte die Schultern und Kate legte den Kopf schief.
"Dann kann es also auch sein, dass du an dem Tag, wo du auf der Straße zusammen geklappt bist, auch nichts gegessen hast?" Es klang eher wie Vorwurf, als eine Feststellung und nach kurzem Überlegen und der Erkenntnis, dass sie Recht hatte, zuckte Mira wieder nur die Schultern.
"Warum, Mira? Wieso isst du nichts?" Sie klang, als würde sie sich Sorgen machen.
"Weiß ich nicht. Ich habe momentan keinen Hunger."
"Und du gehst neuerdings joggen", erinnerte Kate sie. Mira winkte ab und trank einen Schluck von ihrem Cappuccino. Sie erwähnte lieber nicht, dass das Joggen keine Methode war, um abzunehmen, sondern viel eher, um ihren Gedanken zu entkommen, die sie manchmal zu verschlucken drohte. Oder sollte sie Kate doch lieber davon erzählen? Verdammt, dieser Sex hatte einfach alles verändert!
"Das ist kein Witz, Mira! Du isst seit Tagen nichts mehr und gehst mit leerem Magen in dieser Scheißkälte joggen. So blöd bist du nun auch wieder nicht, um nicht zu wissen, dass das gar nicht funktionieren kann."
"Ach, hör doch auf", seufzte Mira ermüdet. Sie wollte jetzt nicht über Essen und Nichtessen reden. Schon gar nicht über gesunde Ernährung. Kate senkte den Blick und sah in ihre Tasse. Sie rührte mit dem Löffel in ihrem Kaffee herum.
"Ich sage das nur, weil es von irgendwoher kommen muss. Was kompensierst du mit dieser Kontrolle? Warum lässt du den ganzen Druck an deinem Körper aus?"
Sie sah Mira an und ihre Augen trafen sie wie ein hinterhältiger Schlag in die Magengrube.
"Ich kompensiere gar nichts", widersprach Mira. Natürlich wusste sie, dass das eine jämmerliche Lüge war.
"Das stimmt nicht. Hat das etwas mit deiner Rastlosigkeit zu tun? Verstehe mich nicht falsch, ich nehme dich immer sehr ernst. Aber ich hätte nicht gedacht, dass das wirklich so ein großes Thema ist."
Ja, und jetzt kommt noch dazu, dass ich Angst habe, meine beste Freundin zu verlieren, dachte Mira bedrückt, sprach diesen Gedanken aber nicht aus.
"Woher kommt das? Ist irgendwas passiert?" Sie griff über den Tisch nach Miras Hand, die sie um die Tasse geschlungen hatte und drückte sie. Mit ihrem Daumen streichelte sie ihren Handrücken. Eine Geste der Beruhigung. Mira beobachtete diese Geste eine Weile, dann sah sie Kate an und schüttelte den Kopf.
"Es ist nichts passiert. Wirklich nicht. Ich kann es ja selber nicht erklären. Kennst du das nicht, dass auf einmal... ich meine, es kam wirklich so plötzlich..."
Mira runzelte die Stirn, als sie sich zu erinnern versuchte, wann das gewesen war.
"Was?", Kate drückte ihre Hand und ließ sie dann wieder los, um einen Schluck von ihrem Kaffee zu nehmen.
"Ich denke, vor einer Woche... ich weiß nicht, woher es kam. Eigentlich bin ich glücklich mit meinem Leben, aber..."
Ein Seufzen entwich Miras Lippen. Kate runzelte die Stirn, sah nun wirklich besorgt aus.
"Aber was denn, Mira?"
"Ich weiß es einfach nicht. Ich saß auf der Couch, und auf einmal überkam mich so ein erdrückendes Gefühl aus dem Nichts. Es... tat richtig weh!" Mira merkte, wie ihr ein Kloß im Hals wuchs und verflucht sich dafür, dass ich so überempfindlich war.
Kate wartete geduldig ab, bis Mira den Kloß zu schlucken schaffte, um weiter zu reden: "Bildlich betrachtet könnte ich sagen, es war wie ein zentnerschwerer, schwarzer Umhang, der sich auf einmal um mich legte. Und das völlig ohne Grund. Ich fing auf einmal an alles zu hinterfragen. Meine Zukunft, meine Gegenwart, meine Vergangenheit... und ich fragte mich, wie es dazu gekommen ist, dass ich jetzt alleine in dieser Wohnung lebe und irgendwie alles auf die Reihe kriege. Ich dachte an dich, an Melly, an meine Arbeit und an mein Leben. Alles ist irgendwie perfekt, aber ab der Sekunde... machte mich das einfach nicht glücklich."
Mira war auf einmal todmüde. Sie traute sich nicht, in Kates Gesicht zu sehen. Es spiegelte absolut alle ihre Emotionen wider, ihre Gedanken – ihre Augenbrauen unterstrichen jedes Gefühl, das in ihr wütete. Mira wusste nicht, wie sie sich fühlen würde, wenn sie Kate jetzt ansehen würde. Irgendwie sprang ihr das Wort Scham in den Kopf, konnte aber nicht erklären, weshalb. Scham...
"Warum hast du mir nicht gleich davon erzählt?" Sie klang traurig, als sie das sagte. Wirklich betroffen.
"Weiß ich nicht", seufzte Mira schuldbewusst, "Ich konnte es selber nicht erklären. Außerdem habe ich versucht, das abzutun. Und die letzten Tage war ich nicht mehr so schrecklich traurig, wie an diesem einen Tag."
"Aber so wirklich glücklich bist du auch nicht", stellte sie fest und Mira spürte, wie sehr Kate dagegen ankämpfte, sich zu ihr zu setzen und sie in den Arm zu nehmen. Vermutlich weil sie befürchtete, Mira würde es falsch interpretieren. Dabei hätte sie jetzt verdammt gerne ihre Arme um sich gehabt.
Stattdessen seufzte sie still in sich hinein und trank noch einen Schluck von ihrem Kaffee.
"Ich gehe schwer davon aus, dass du deshalb nichts isst. Dass du Sport machst. Gefühle kann man nicht kontrollieren. Aber du hast die Macht über deinen Körper. Ich schätze, genau das war dein Grund. Vielleicht unterbewusst", sie zog kurz die Schultern in die Höhe, "Aber dennoch. Und dann kam auf einmal dieser Mann, legte dir seine warme Jacke um die Schultern und kümmerte sich um dich. Du fühltest dich sicher und geborgen und weil er ein Mann ist und du vergewaltigt wurdest und dich vor Männern eigentlich ekelst bist du nun völlig durch den Wind. Habe ich Recht?"
Mira war kurz wie erschlagen, von ihrer schnellen Zusammenfassung ihrer Gemütslage und sprachlos, wie sie es schaffte, immer wieder so tief in sie hinein zu blicken. Sie musste zwanghaft verdrängen, dass sie das gerade sehr an Lejla erinnerte.
"In diesem Moment fühlte ich mich wirklich einfach... gut", antwortete Mira deshalb nur. Kate schwieg lange und dachte nach, aber zum ersten Mal, seit Mira sie kannte, schien ihr nun auch nichts mehr einzufallen. Sie wusste einfach nicht, was sie dazu sagen sollte. Mira nahm es ihr nicht übel. Absolut nicht.
Kate war ein Mensch, mit dem man schweigen konnte, ohne dass es unangenehm wurde. Als Mira schließlich merkte, dass sie wohl nichts mehr dazu sagen würde, trank sie ihren Cappuccino leer und sah sie verstohlen an. Sie hätte jetzt gerne gewusst, was in ihrem Kopf vorgeht, aber ihr Blick ging an Mira vorbei an die weiße Wand und sie wirkte, als wäre sie gerade ganz wo anders, also fragte Mira nicht, woran sie gerade dachte und ließ sie ihren Gedanken nachgehen. So hatte sie auch Zeit, ihren eigenen Gedanken eine gewisse Aufmerksamkeit zu widmen, die sie in letzter Zeit einfach nicht übrig hatte. Mira hatte Angst vor ihren Gedanken, aber gerade schien es ihr eine gute Möglichkeit, um sie zu sortieren. Kate war da, und wenn diese bösen Monster sie angreifen würden, konnte sie sich in Kates Armen Schutz suchen.
Wie lächerlich. Aber so sehr Mira gerade auch nachdenken wollte, ihr Kopf war leer. Auf einmal war da nichts als eine große, schwarze Leere und sie fragte sich, wo all die Stimmen und Bilder sind, die sie von morgens bis abends nerv tötend begleiteten. Warum konnte sie gerade nicht nachdenken, nach überhaupt nichts greifen, was da in ihrem Kopf war?
Alles, was gerade zu greifen war, waren Gefühle und Erinnerungen, doch keine Gedanken. Absolut merkwürdig. In dieser kurzen Minute, in der die beiden sich anschwiegen, vibrierte Miras Handy und nach einem kurzen Schrecken zog sie es aus ihrer Hosentasche. Es war eine unbekannte Nummer, die Nachricht kam allerdings beim Messenger an. Stirnrunzelnd öffnete sie die Nachricht, während Kate nun wieder mit ihren Gedanken angekommen war und aufmerksam Miras Gesicht studierte. Im selben Moment, wie Mira die Nachricht öffnete, wurde ihr klar, wer das sein musste, auch wenn sie es kaum fassen konnte. Ihr Herz flatterte vor Aufregung einmal um die eigene Achse, dann stieß sie einen kleinen Laut der Freude aus.
"Was grinst du denn so vor dich hin?" Fassungslos, von dieser riesigen und unerwarteten Überraschung, reichte sie Kate ihr Handy und Kate las laut vor:
Liebe Mira, nachdem wir dich vor knapp einer Woche auf der Altenstadter Straße in Schongau gefunden haben, wollte ich mich noch einmal erkundigen, wie es dir geht. Ob es wirklich nur ein Kreislaufproblem war und nicht etwas Schlimmeres (z.B. ein Überfall)... Ich würde mich freuen, von dir zu hören :-) Liebe Grüße Mark
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