Kapitel 1
Es heißt doch immer, am Ende wird alles gut. Gab es mehrere Enden auf dieser Welt? Vielleicht gab es mehrere Geschichten, die ein Leben schreibt. Oder nur eine? Eher eine Geschichte mit vielen Kapiteln. Kann man Lebenskapitel selber bestimmen? Hätte Mira die Möglichkeit gehabt, sich selbst als Protagonistin in ihrer Lebensgeschichte wie eine Marionette zu steuern, hätte sie an diesem Abend bestimmt nicht die Tür geöffnet. Bestimmt nicht. Das ist eine Lüge. Natürlich hätte sie das. Sicher. Die Neugier war immer größer als die Vernunft. Also hätte sie wohl so oder so die Tür geöffnet. Und hätte einen Schlag abbekommen.
Und noch einen.
Und dann einen Tritt,
Und noch einen.
Sie wäre also so oder so am Boden gelegen, mit dämmerndem Bewusstsein und nach Luft ringend.
Der Unterschied war bloß, dass sie als Schriftstellerin ihrer Lebensgeschichte wenigstens gewusst hätte, wer sie so hinterhältig überfallen, geschlagen und dann einfach liegen gelassen hatte. Aber weil sie ja einfach nur sie war und nicht etwa eine Schriftstellerin, lag sie nun keuchend auf dem Boden, spürte die Schmerzen noch nicht, weil der Schock sich zu tief in ihre Gliedmaßen gefressen hatte. Ein Überfall, schrie endlich ihr Gehirn, das war ein Überfall wie im Film. Aber warum hat er nichts mitgenommen?
„Mira?"
Das war Chris' Stimme. Mira wollte antworten, aber aus ihrer Kehle drang nur ein ersticktes Stöhnen. Sie bekam einfach keine Luft. Sie hörte seine Schritte schneller näher kommen. Klar, er merkte, dass etwas nicht stimmte. Miras Tür stand offen, das Licht aus ihrer Wohnung drang in den Flur.
„Oh Shit!" Erschrocken lief er zu ihr und ließ sich vor ihr auf die Knie fallen, „Was ist passiert?"
Er erkannte sehr bald, dass sie nicht antworten konnte.
„Ich rufe einen Krankenwagen."
Sie hätte nicht einmal widersprechen können. Kate würde jeden Moment da sein.
„Die Katzen", wimmerte sie schließlich bloß. Das einzige Wort, das ihr gerade noch mit einem Atemstoß gelang. Der Schmerz setzte ein. Sie spürte das Pochen in ihrer Hüfte, Das dumpfe Brennen in ihrem Gesicht. Die Kopfschmerzen. Chris drückte den Notruf wieder weg.
„Die Katzen", wiederholte er hilflos und fuhr sich durch die Haare, „Shit! Was soll ich machen? Kannst du aufstehen?"
„Weihhh... nichhhh...." Scheiße, dachte sie, als sie immer mehr ins Keuchen verfiel, ich ersticke!
„Ich bin echt nicht gut in sowas", sagte er aufgeschmissen, „Okay. Äh... versuch ruhig zu bleiben."
Lustig, dachte sie humorlos.
„Hast du Schmerzen?"
Nein, ich liege aus Spaß hier wimmernd auf dem Boden. Sie runzelte verärgert die Stirn.
„Okay, ich versuche dich hoch zu heben." Chris fasste Mira unter die Arme und half ihr ohne jede Mühe auf die Füße. Er stützte sie und sie hielt sich an seiner Schulter fest.
„Immerhin ist nichts gebrochen", bemerkte er und fuhr sich wieder von hinten nach vorne durch die sandfarbenen Haare. Mira konnte mittlerweile wieder besser Luft holen, der dumpfe Schmerz in ihrer Seite war aber immer noch da. Und das Brennen in ihrem Gesicht. Als hätte er ihre Gedanken gehört, musterte er ihr Gesicht und presste die Lippen aufeinander: „Wir sollten die Wunde auswaschen", schlug er vor.
„Die Wunde?" Mira konnte wieder reden. Ihre Atmung hatte sich endlich wieder normalisiert. Sie konnte sich nicht erinnern, je von irgendjemandem geschlagen worden zu sein. Sie kannte das nur aus Filmen oder Serien und immer wenn jemand verprügelt wurde, dachte sie sich: „Der Arme! Ich will niemals in so einer Situation sein". Jetzt wusste sie, dass diese Szenen nicht nur übel aussahen, sondern dass sie sich auch schrecklich anfühlten. Es waren nicht bloß diese gewaltigen Schmerzen, sondern vor allem die Scham und die Angst, die diese Situation so unerträglich machten. Und vor allem die Ungewissheit: Wieso? Wieso war Mira das passiert? Wer hatte einen Grund dazu, sie derart plötzlich zu überfallen? Wer hatte Grund ihr zwei Mal ins Gesicht zu schlagen, bis sie zu Boden ging und dann noch zwei Mal zuzutreten, um gleich danach wieder zu verschwinden? Mira war klar, es muss einen persönlichen Grund gehabt haben. Jemand musste sie abgrundtief hassen, um so etwas zu tun. Immerhin hatte die Person keinen einzigen, unnötigen Schritt weiter in Miras Wohnung gemacht. Sie hatte einfach zugeschlagen und war abgehauen. Als hätten ihr der Anblick genügt, wie Mira zu Boden ging.
„Um Himmels Willen!"
Mira und Chris drehten ihre Köpfe zur offenen Tür und Mira rutschte das Herz in die Hose, als sie Kates schönes, aber überdeutlich entsetztes Gesicht erkannte. Oh Gott, wie peinlich, dachte sie. Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Ohne Zögern lief Kate zu Mira, der Grund ihres Erscheinens plötzlich vergessen, und half Chris, sie unter den Armen zu stützen. Ihre Augen erkundeten in wenigen Sekunden Miras Gesicht, hielten nach ernsthaften Wunden Ausschau.
„Bringen wir sie ins Wohnzimmer", sagte Kate und trat mit ihrem Fuß die Tür zu. Chris und Kate schleppten Mira auf die Couch, auf der noch die Fellbündel lagen und aufmerksam die Ohren spitzten. Kate war sichtlich überrascht. Das merkte Mira nicht nur daran, dass sie für den Bruchteil einer Sekunde auf ihrer rechten Seite keinen Halt mehr hatte, sondern vor allem an dem verwunderten Geräusch, das Kate von sich gab.
„Wo hast du die denn her?", rief sie und Mira konnte im Moment nicht einordnen, ob es vorwurfsvoll oder entzückt klang.
Mira stöhnte, eher wegen der Schmerzen, als zur Antwort. Lil und Filou verschwanden hinter der Couch. Leila und Yoda starrten Kate und Chris aus großen Augen an.
„Die habe ich gestern einer Betrunkenen abgekauft", erklärte Chris beiläufig und setzte sich neben Mira, während Kate sich auf die Lehne der Couch setzte. Kate gab noch ein nichts sagendes Brummen von sich, runzelte kurz die Stirn und widmete sich wieder Mira. Sie sah auf sie herab, erlaubte sich, ihr Gesicht zu berühren und es in ihre Richtung zu drehen, um sie anzusehen. Mira wich ihrem Blick aus, Kate kümmerte das nicht weiter. Chris streichelte unsicher durch Leilas Fell. Auch er schien einen unerklärlichen Halt in diesen kleinen Katzen zu suchen. Mira verstand ihn.
„Kennst du dich hier aus?", fragte Kate an Chris gewandt. Chris schüttelte den Kopf. Er war erst das zweite Mal in Miras Wohnung.
„Mira?"
Mira sah Kate an.
„Hast du hier irgendwo Desinfektionsmittel?"
Die Frage war überflüssig, das wusste Kate genau und Mira fragte sich, wieso Kate die Frage trotzdem stellte. Mira schüttelte den Kopf, senkte wieder den Blick und drehte den Kopf weg, um Kates Hand zu entkommen, die immer noch fest ihr Kinn umklammert hatte.
„Du hast eine Wunde an der Augenbraue. Die muss gesäubert werden", erklärte Kate verärgert, „Hast du hier nichts für den Notfall da?"
„Ibu", antwortete Mira mühsam, „800."
Kate verdrehte die Augen. Chris lachte in sich hinein und Mira musste schmunzeln.
„Wer hat dir das angetan?", fragte Kate. Mira würde ihr sowieso keine weiteren Auskünfte geben. Mira zuckte die Schultern. Kates Anwesenheit war in Chris' Beisein viel erträglicher.
„Wie? War es ein Mann, eine Frau? Kanntest du denjenigen?"
„Nein", antwortete Mira, „Das ging alles so schnell. Es hat an der Tür geklingelt, ich dachte, das bist du... dann habe ich die Tür geöffnet und...", Mira zog hilflos die Schultern in die Höhe, „Dann war schon die Faust in meinem Gesicht."
„Scheiße", fluchte Kate inbrünstig.
„Sollten wir das nicht anzeigen?", fragte Chris nach einem kurzen Schweigen.
„Sollten wir", murmelte Kate nachdenklich, während sie Leila beobachtete, die wieder eingeschlafen war und sich dicht an Miras Rücken gekuschelt hatte, „Aber wenn sie keine Ahnung hat, wer ihr das angetan haben könnte... Hast du nicht einmal eine Vermutung?"
Wieder hob Mira die Schultern. Kate schüttelte den Kopf.
„Hast du sonst noch irgendwo Schmerzen?", fragte Kate besorgt.
„Nur Kopfschmerzen. Meine Seite tut etwas weh."
„Was hat er dir angetan?"
„Ein Schlag ins Gesicht. Zwei Tritte... irgendwo in den Bauch", Mira deutete auf eine Stelle an ihrem Bauch, konnte aber nicht genau sagen, wo die Schmerzen wirklich waren. Es durfte im Grunde nichts Ernstes sein. Die Tritte waren außerdem viel zu zaghaft gewesen. Fast schon zögerlich. Vielleicht hatte sie eine Prellung an den Rippen, gebrochen war aber nichts.
„Ich gehe jetzt etwas zum Säubern suchen", beschloss Kate, nachdem ein unangenehmes Schweigen eintrat, und stand auf.
Chris sah Mira an. Mira erwiderte seinen Blick.
„Wer ist das?", fragte er leise, als Kate in der Küche verschwand.
„Kate. Eine Kollegin..." Schön. Nun hatte es sich also schon auf eine Kollegin reduziert. Kate war nicht einmal mehr ihre Freundin. Und wie, in Gottes Namen, sollte das nun alles weitergehen? Eigentlich war es wirklich ungünstig, dass Chris da war. Wobei, genau genommen, die ganze Situation irgendwie ungünstig – und vor allem komisch – war. Noch viel komischer aber fand Mira, dass sie die Sache gerade weg steckte, als wäre nie etwas gewesen. Als wäre nicht etwa gerade jemand vor ihrer Wohnungstür aufgetaucht, hätte sie geschlagen und liegen gelassen. Eigentlich sollte sie Angst haben. Davor, jemals auch nur ein Fuß wieder vor die Tür zu setzen. Der Typ, der sie überfallen hatte, war wieder abgehauen und er könnte sie jederzeit wieder aufsuchen und wieder schlagen und wieder treten und wieder liegen lassen. Jetzt merkte Mira doch, wie ihr Herz bei dem Gedanken anfing zu rasen. Yoda streckte sich, gähnte und sprang tollpatschig von der Couch, um sich auf dem Teppich unter dem Wohnzimmertisch einen neuen Schlafplatz zu suchen. Lil und Filou waren immer noch irgendwo hinter der Couch versteckt. Mira hätte nicht gedacht, dass die Zwei so scheu sind.
„Seid ihr so etwas wie Freunde?", fragte Chris nach einer Weile wieder im Flüsterton und Mira meinte so etwas wie Zweideutigkeit in seiner Stimme zu erkennen. Sie sah ihm in die grauen Augen. Er sah nicht neugierig aus, lediglich ernsthaft interessiert und aus irgendeinem Grund, den Mira vermutlich selber nie begreifen würde, antwortete sie: „Wir hatten Sex."
Chris wurde für eine kurze Sekunde blass um die Nase, er starrte sie an, dann lachte er los, ohne Mira auch nur ein Grinsen zu entlocken. Das störte ihn nicht. Er lachte weiter. Und weiter. Und weiter. Seine Augen tränten schon und Mira fand es fast schon albern, als er schwer atmend zur Ruhe kam.
„Das war mein Ernst", meinte sie trocken.
„Ja. Ja, das glaube ich dir", sagte er mit einem Glucksen in der Stimme, als Kate wieder aus der Küche kam. Mira hatte gemerkt, dass er noch etwas hätte anfügen wollen, das war aber wohl nicht für Kates Ohren bestimmt, weshalb er den Satz wieder schluckte.
Kate kam mit hochgezogenen Brauen in das Wohnzimmer. In der Hand ein feuchtes Tuch.
„Darf ich mitlachen?"
„Mira ist einfach cool", grinste Chris und schenkte Mira ein Zwinkern.
Cool, wiederholte Mira das Wort in ihrem Kopf und dachte darüber nach. Was war cool? War das ein Kompliment? Sie sah ihn an. Cool...
Auch Kate zog eine Braue in die Höhe, als sie sich vor Mira auf den Boden kniete, um mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein. Mira schenkte Chris schließlich ein Lächeln. Vermutlich war das wirklich ein Kompliment, dann sah sie auf das Tuch in Kates Hand: „Was ist das?"
„Bloß Wasser. Mach dir nicht in die Hose. Halt still."
Mira tat, was Kate ihr sagte. Sie hielt still und ließ Kate die blutige Wunde an ihrer Augenbraue sauber tupfen. Sie achtete sehr genau darauf, Mira keine unnötigen Schmerzen zuzufügen und für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Mira spürte ihr Herz kurz auflodern, dann senkte sie sofort wieder den Blick und starrte auf Yoda unter dem Tisch. Chris' Räuspern verriet ihr, dass er sofort erkannt hatte, dass zwischen Mira und Kate mehr war, als bloß Sex. Zumindest von Miras Seite aus.
„Ich werde da jetzt kein Pflaster drauf kleben", meinte Kate, als sie das blutige Tuch zur Seite legte und die Wunde noch einmal genauer betrachtete, „Das wäre Schwachsinn."
„Du bist echt'n Glückspilz", murmelte Chris, dessen Wangen vom Lachen ein wenig rot und seine Augen etwas glasig geworden waren. Mira und Kate sahen ihn fragend an.
„Na. Scheinbar war dein Täter nicht besonders stark. Das hätte viel schlimmer enden können."
„Da hat er Recht", murmelte Kate plötzlich sehr nachdenklich. Und auch Mira schien plötzlich etwas einzuleuchten: „Das muss eine Frau gewesen sein", sagte sie mit mehr Überzeugung, als ihr eigentlich zustand.
„Wieso denkst du das?", fragte Chris.
„Sie hat gezögert. Sie hat sich nicht getraut, mich zu treten. Es wirkte fast so, als würde sie noch vorher darüber nachdenken, es wirklich zu tun. Und als sie das getan hat... kam es mir nicht besonders überzeugt vor. Kurz darauf ist sie ja gleich abgehauen."
„Aber das kann genauso gut ein Kerl gewesen sein. Du darfst nicht so klischeehaft denken", warnte Kate, die immer noch vor Mira kniete.
Mira schüttelte stur den Kopf: „Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass es eine Frau war."
Nun sahen Kate und Chris sie neugierig an.
„Das Parfüm... ich kenne es irgendwoher. Und das trägt sicher kein Mann..."
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