Kapitel 1


Oktober 2010 - 5 Jahre zuvor

Es ist Mitternacht. Auf die Sekunde. Meine Augen verfolgen den Zeiger schon seit einer Stunde. Nein. Seit einer Stunde und 37 Sekunden. Meine Hand zittert. Ich habe sie schon die ganze Zeit um das Telefon geschlungen. Ich halte es so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortreten. Ich flehe etwas an, woran ich nicht glaube, dass das Telefon gleich läutet. Bitte, bitte! Bitte, ruf an! Die Tränen fließen mir über das Gesicht. Seit einer Stunde und 48 Sekunden. Und es hört einfach nicht auf. Ich bin so traurig. So rastlos. Ich fühle mich so einsam, so verloren. Dieser Schmerz in mir, er droht mich zu ersticken. Ein Loch.
Meine Eltern gehen gerade schlafen. Ich höre noch meinen Vater die Toilette verlassen. Ich erkenne es am Klang seiner Schritte. Das leise Schleifen der rauen Socken auf dem Boden, weil er zu träge ist die Füße zu heben. Und weil er ein kaputtes Knie hat. Dann höre ich, wie er das Schlafzimmer betritt und, die Tür schließt.
Ich sitze alleine in meinem Zimmer. Ein Nachtlicht brennt. Das Telefon klingelt. Ich schluchze in den Hörer.
"Hi", meldet sich die warme Stimme am anderen Ende des Hörers. Es ist Lejlas Stimme. Ich liebe Lejlas Stimme. Ich liebe Lejla. Ich liebe Lejla, weil sie immer für mich da ist. Weil sie immer weiß, wann es mir schlecht geht. Sie weiß es einfach.
"H-hi", wimmere ich und bemühe mich um Fassung.
"Eulchen. Was ist los?"
Lejla ist 43. Sie ist wunderschön. Eine wunderschöne Frau! Sie hat etwas von Poccahontas. Sie ist stark und einfühlsam. Lejla ist der einzige Halt, den ich habe. Obwohl ich Lejla noch nie persönlich getroffen habe, weil ich sie aus dem Internet kenne, gibt es keinen Menschen, der mir jemals mehr bedeutet hat, als sie.
"Ich weiß es nicht", schluchze ich leise und wische mir die Tränen von den Wangen, "Ich weiß es wirklich nicht." Gleichzeitig weiß ich, dass das nicht stimmt, aber ich kann noch nicht darüber reden. Ich erinnere mich an den Schultag. Ich hebe meine Hand vor die Augen und sehe das angetrocknete Blut an meinem Handgelenk, das ich vergessen habe abzuwaschen. Die Wunde tut immer noch schrecklich weh, aber zumindest hat das höllische Brennen aufgehört. Stattdessen pocht der dumpfe Schmerz in meiner Handfläche. Aber wenn ich das jetzt aussprechen würde – die Bilder, den Vorfall, die Erinnerungen, die Schmerzen – dann würde ich nur noch mehr in Tränen ausbrechen.
Schweigen. Lejla schweigt viel. Das heißt nicht, dass sie aufgelegt hat. Das habe ich vor zwei Jahren immer gedacht. Wenn es auf einmal still war am anderen Ende, dann habe ich immer wieder nachgefragt, ob sie noch da ist und sie antwortete immer wieder mit "Ja". Lejla ist immer da. War sie schon immer. Lejla ist der einzige Lichtblick, voll mit Liebe und Hoffnung und Zuneigung, in dieser endlosen, dunklen, kalten Welt. Lejla und ich schaffen es über Stunden miteinander zu telefonieren. Wir reden über alles.
Lejla kennt mich bis in mein Knochenmark. Es gibt nichts, was sie nicht über mich weiß.
"Wenn ich jetzt bei dir wäre, würde ich dich in meinen Armen wiegen und du könntest dich geborgen fühlen", sagt sie schließlich leise in das Telefon, nachdem sie mir eine Weile beim Weinen zugehört hat. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich beiße auf meine Unterlippe, weil mich die Tränen wieder zu überwältigen drohen.
"Ich liebe dich", keuche ich ins Telefon, bevor mir die Stimme versagt. Ich liebe Lejla wirklich. Nicht so, wie man es im ersten Moment versteht. Ich liebe Lejla, weil sie immer da ist. Ich liebe Lejla, weil sie ehrlich ist, weil sie direkt ist. Weil sie meinen Kummer, den Schmerz, diese verdammten Qualen, die ich beinahe jede Nacht habe und an denen ich zu ersticken drohe, immer wieder beim Namen nennen kann. Sie weiß, warum ich traurig bin. Sie redet mit mir, fragt mich aus, tadelt mich oder tröstet mich und irgendwann wird mir klar, warum ich traurig bin, warum ich mich so leer und einsam und schmerzerfüllt fühle. Lejla kennt mich besser, als ich mich selbst.
Ich liebe sie, weil ich mich fallen lassen kann. Weil ich sein kann, wie ich bin, weil ich keine Angst zu haben brauche, was ich ihr sage. Deshalb sage ich jetzt, mit einem unterdrückten Schluchzen: "Was würdest du tun, wenn ich aus dem Fenster springen würde?"
Sie zögert keine Sekunde mit ihrer Antwort: "Ich würde unten stehen und dich auffangen."
"Wärest du traurig, wenn ich... tot wäre?" Ein kurzes, leises Lachen. Emotionslos. "Ich war auch traurig, als mein Goldfisch gestorben ist."
Obwohl mich ihre Antwort in der ersten Sekunde etwas überrascht und dann ein wenig traurig macht, muss ich lächeln. Lejla ist immer ehrlich zu mir. Indirekt meint sie mit ihrer Antwort nämlich, dass sie generell nah am Wasser gebaut war... und vielleicht auch, dass ich keine dummen Fragen stellen soll. Sie weiß immer ganz genau wann sie was in welchem Moment sagen muss. Sie spielt mit ihren Worten. Und manchmal auch mit mir. Das weiß ich, aber das ist okay – eben weil ich es weiß.
"Du wirst dir nichts antun." Sie sagt es mit einer Bestimmtheit, der ich mich nicht zu widersprechen traue. Diese Bestimmtheit in ihrer Stimme kenne ich seit dem ersten Telefonat. Seit dem ersten Mal, als sie mich mitten in der Nacht anrief und schimpfte, weil ich meine Nummer im Internet weitergegeben hatte. Sie hat fast gebrüllt, so wütend war sie: "Wie kommst du überhaupt auf diese naive Idee, deine Nummer im Internet zu verschicken? Wenn du meine Tochter wärst...", dann hatte sie aufgebracht gestöhnt.
Sie hat nämlich damals im Chat kein einziges Mal reagiert, wenn ich ihr geschrieben habe. Irgendwann meinte sie mit einer knappen, kühlen Nachricht an mich: "Denkst du wirklich ich bin so blöd und kaufe dir ab, dass du ein 14-jähriges Mädchen bist...............? Hör auf mir zu schreiben, sonst sperr ich dich...."
Aus kindlicher Angst heraus habe ich dann einem Administrator dieses Chats eine private Nachricht geschrieben, in der ich ihn bat mich anzurufen, um dann Lejla zu schreiben und zu bestätigen, dass ich wirklich ein 14-jähriges Mädchen bin.
Das hat er gemacht. Auch von ihm durfte ich mir eine Predigt über die Gefahren im Internet anhören. Aber dann hat er Lejla geschrieben und sie hat mich angerufen. Und geschimpft.
Meine Zimmertür wird aufgerissen. Ich erschrecke so sehr, dass mir das Telefon beinahe aus der Hand fällt. Mein Vater. Mein Erzeuger. Er steht da in der Tür, eine einzige Unterhose, die seinen jämmerlichen, nutzlosen Schwanz bedeckt.
Ich drücke instinktiv das Telefon auf stumm, damit Lejla die Diskussion zwischen mir und ihm gleich nicht mitbekommt. Er ist betrunken. Ich weiß es. Ich sehe es in seinen Augen. Er ist jeden Abend betrunken. Jeden Abend trägt er sieben Bier in seinem Bauch. Heute sind es 12. Ich habe die leeren Flaschen auf dem kleinen Kühlschrank gezählt.
"Es ist ein Uhr nachts. Leg das verdammte Telefon aus der Hand!"
Ich habe Angst vor ihm. Ich habe immer Angst vor ihm, wenn er aggressiv wird. Er hat mich noch nie geschlagen. Trotzdem habe ich Angst vor ihm. Das Zittern, das tief aus meinem Inneren herrührt, verrät es mir.
"Ja, gleich", sage ich, "Ich will mich nur noch verabschieden."
"Sofort!"
"Bitte", flehe ich, "Wirklich nur kurz..."
Ich kann nicht auflegen, ohne mich von Lejla zu verabschieden. Sie wird mir ärgerlich sein. Er stampft in mein Zimmer, reißt mir das Telefon aus der Hand. "Wenn ich sage, du sollst auflegen, dann legst du auf!" Das Telefon fliegt so nah an meinem Kopf vorbei, dass ich den Luftzug spüre und donnert an die Wand hinter mir.
Es zerspringt in tausend Stücke. Ich rühre mich keinen Millimeter, weil ich vor ihm keine Schwäche zeigen will. Eine Sekunde zu lange sieht er mir in die nassen Augen und ich sehe für einen Bruchteil einer Sekunde fast so etwas wie ein Bereuen in seinen Augen aufblitzen, aber dann dreht er sich um, knallt die Tür so fest hinter sich zu, dass ein Holzsplitter wegfliegt, und lässt mich sitzen. Ich zittere am ganzen Körper. Nach meiner Schockstarre, in der ich zwei Minuten und 54 Sekunden an die Tür starre, als stünde er noch vor mir, fange ich an die Splitter des Telefons in meinem Bett zu suchen und auf meinen Nachttisch zu legen. Lejla in kleinen Stücken. Dann verkrieche ich mich in meiner Decke und weine mich in den Schlaf.

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