Der Anfang
Wir fangen mit dem Anfang an! Ich bin ja so kreativ!
Das ist tatsächlich ein Teil, der oft in Schreibratgebern verhandelt wird, wo einem aber oft nur mitgegeben wird, was man nicht tun soll:
- Keine Aufwachszene
- Keine Spiegelszene
- Keine Morgenroutine
- Keine endlose Erklärungen über das Aussehen von Prota
- Kein: "Hallo, ich bin Susanne."
Joa. Aber was soll man tun und wieso soll man was tun und was bewirkt man damit?
Der erste Satz
Mein Tipp zum ersten Satz ist ziemlich einfach: Zerdenkt den nicht Ewigkeiten, um ihn noch perfekter zu machen. Ein guter erster Satz ist natürlich hilfreich, wenn man schnell die Aufmerksamkeit der Lesenden haben möchte. Aber wenn ihr überlegt, wie eure Geschichte anfangen soll, dann denkt vielleicht nicht zuerst an den ersten Satz, sondern an eine geeignete Szene. Sätze findet man danach noch - und kann sie zur Not bei der Überarbeitung ändern. Ganze Szenen zu verschieben, ist zwar auch vollkommen okay und passiert häufig genug beim Überarbeiten, aber ist viel komplizierter.
Kommen wir also erst auf die Szenen zu sprechen und was die leisten müssen und danach wieder zum ersten Satz.
Die ersten Szenen
Im ersten Kapitel eines Romans geht es darum, dass Interesse der Leser*innen zu wecken - und das wird schwierig, wenn man erstmal in Langweile ertrinken muss.
Langweile entsteht, sobald wir Szenen bekommen, die für uns bekannt sind und ein normales Szenario des täglichen Lebens darstellen. Dazu zählen dann nämlich Morgenroutinen und Aufwachszenen, und deswegen wird davon abgeraten. Wer von uns wacht nicht morgens auf und hält sich an seinen täglichen Plan?
Ganz einfache Daumenregel: Wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass viele der Lesenden genau diese banalen Dinge auch in ihrem täglichen Leben (mehr oder weniger) regelmäßig tun, ist das vermutlich nicht der richtige Punkt um anzufangen. Dazu zählt auch Frühstücken, zur Schule fahren, einen unspektakulären Schultag erleben, Abendessen und Kleidung auswählen.
Wenn ihr also Protas habt, die ein ganz normales Leben in einer ganz normalen Welt bei einer ganz normalen Familie führen, bis der Moment kommt, in dem die Geschichte ins Rollen kommt, lasst den normalen Teil vielleicht einfach weg. Die meisten gehen sowieso davon aus, dass das, was wir nicht im Detail besprechen, einfach in die Norm fällt.
Es ist egal, was vor diesem unterbrechenden Moment passiert ist, weil es nicht besonders genug ist, um unsere Aufmerksamkeit zu halten. Und wieso sollten Menschen erst fünftausend Worte lang nichts erleben, bis vielleicht etwas anfängt? Bis dahin lese ich ein anderes Buch. Die Familie und besten Freunde und das Schulleben kann man auch nach dem anstoßenden Moment noch vorstellen.
Den Moment als erstes im Buch zu setzen, ist übrigens eine Technik, die in Jugendbüchern oft verwendet wird, weil Schüler*innen doch alle ein ähnliches Leben haben. Wir müssen nicht erst zwei Kapitel lang das lesen, was wir selbst jeden Tag tun oder zu einem Zeitpunkt in unserem Leben getan haben, nur um danach vielleicht zu spannenden Dingen zu kommen.
Ein Beispiel für einen Anfang, der genau diesen Teil rausschneidet, ist Rubinrot von Kerstin Gier: Es beginnt damit, dass Gwendolyn schwindelig wird, weil das der wichtige Moment ist, der den Dominoeffekt anstößt. "Montagmittag in der Schul-Cafeteria spürte ich es zum ersten Mal." Davor war Gwen eine ganz normale Schülerin, die ...ganz normal zur Schule ging, also nichts Besonderes, nichts, was unsere Aufmerksamkeit länger halten kann, aber dadurch, dass uns gleich hingeworfen wird, dass sie es spürt und damit die Normalität unterbrochen wird, hat das Buch unsere Aufmerksamkeit. Dann lassen wir uns danach auch auf eine Szene in der Cafeteria ein, weil wir wissen, dass irgendetwas im Argen liegt.
Ein anderes Beispiel wäre House of Night von P.C. und Kristin Cast - wobei ich diese Reihe allgemein eher schlecht finde: Im ersten Satz wird die normale Ordnung durchbrochen, weil Zoey davor einfach nur - genau wie Gwen - eine normale Schülerin war. "Gerade als ich dachte, noch schlimmer kann dieser Tag nicht werden, sah ich den toten Typen neben meinem Schließfach stehen."
Sobald wir unser*e Prota ein spannenderes Leben als bloße Normlität hat, also zum Beispiel in einer dystopischen oder fantastischen Welt lebt, die ganz anders aufgebaut ist als unsere, oder Geheimagentin auf geheimer Geheimmission ist, können wir uns ein paar mehr Szenen vor diesem relevanten Ereignis gönnen. Solange wir auch hier nicht mit Banalitäten ankommen! Auch unsere geheime Geheimagentin soll sich nicht erst die Zähne putzen, ein Toast schmieren, Nachrichten hören, mit ihrer sexy Mitbewohnerin flirten und dann zur Arbeit fahren. Nein! Aus! Stopp!
Das mache ich auch täglich ...mehr oder weniger.
Wenn die dystopische Welt aus allerlei seltsamen Routinen und Bräuchen besteht, aber das Frühstück genauso wie in unserer Welt abläuft, ...wieso sehen wir dann ausgerechnet das Frühstück? Hätte es dann echt keinen besseren Einstieg gegeben als Cornflakes und Toast?
Falls ihr also nichts Spannendes, Seltsames, Eigenartiges oder Besonderes zu erzählen habt, bevor eure Geschichte so richtig losgeht, überlegt euch, ob ihr vielleicht nicht doch mit dem nächsten spannenden Ereignis starten wollt und den Teil davor einfach wegstreicht.
Das, was vor dem anstoßenden Ereignis kommt, falls ihr dort etwas braucht, sollte nicht nur okay-interessant sein, sondern mindestens super interessant. Es sollte eure*n Prota auch von Anfang an charakterisieren - auf eine interessante Weise. Ein durchschnittliches Schulmädchen, das ein bisschen schüchtern ist, bietet da nicht extrem viel Material. Denn eure Protas sollten sich den Platz als Protas verdient haben, das heißt, sie sollten einen einzigartigen Blick auf die Welt haben. Und diesen Blick auf die Welt solltet ihr möglichst sofort etablieren.
Wir wollen Prota nämlich von Anfang an kennenlernen, weil wir nämlich am Anfang entscheiden, ob wir ein ganzes Buch mit dieser Figur verbringen wollen oder lieber nicht. Und ich persönlich verbringe lieber fünfhundert Seite mit einer aktiven, nicht-stereotypischen Figur, die mir eine neue Weltsicht bringt, als ...mit einem 08/15-Abklatsch von anderen Büchern.
Mit charakterisieren meine ich übrigens keine ellenlangen Hintergrundinformationen und Erklärungen über das eigene Leben. Wenn es noch keinen Einsatz gibt, keinen Plot, ist es schwierig, sich dafür zu interessieren. Damit ist dann eher die Erzählstimme der Protagonist*innen gemeint und die Handlungen, die sie ausführen.
Ein Beispiel für diese spezielle Weltsicht, die gleich von Anfang an zu spüren ist, findet man in Wir haben schon immer im Schloss gewohnt von Shirley Jackson. Die Protagonistin Mericat läuft durch ein Dorf, sieht die Bewohner*innen und will, dass sie sterben, damit sie über deren "Leichen steigen kann". Mericat macht in den Szenen mit den Dorfbewohner*innen sehr klar, dass sie sie hasst, und auch umgekehrt spüren wir die Antipathie der Dorfbewohner*innen gegenüber Mericat. Das baut direkt Spannung auf, weil wir wissen wollen, was genau zwischen der Prota und dem Dorf passiert ist, es verspricht uns zukünftige Interaktionen in diesem Stil und es zeigt uns direkt Mericats Charakter.
Falls ihr euch Interaktionen und Szenen überlegt habt, ist ein guter Tipp, die Protas währenddessen etwas tun zu lassen. Wenn Prota nur an einem Ort sitzt und ein Gespräch mit einer anderen Person führt, ist das in den meisten Fällen uninteressanter als wenn Prota tatsächlich etwas tut - am besten noch etwas, was keine normalen Routinen sind, die wir auch tun.
Eine Unterhaltung kann so viel spannender sein, wenn sie nicht im Wohnzimmer stattfindet, sondern auf der Jagd!
Hier solltet ihr aber vorsichtig sein: Schürt keine falschen Erwartungen für den Rest der Geschichte. Wenn euer Buch auf einer krassen Hetzjagd beginnt und ansonsten eine kuschelige Romanze ist, kann das irreführend sein und Lesende enttäuschen. Der Anfang verspricht nämlich quasi, was das Buch im Großteil sein wird.
Deswegen ist der Anfang auch schon der Startpunkt, um die Atmosphäre aufzubauen, die sich durch das Buch ziehen soll.
Ein wichtiges Tool beim Schreiben sind Bilder. Wir erzählen zwar eine Geschichte, aber eigentlich wollen wir sie zeigen. Ich weiß, Leser*innen-Meinungen unterscheiden sich in diesem Punkt extrem, ich persönlich habe aber gerne Beschreibungen von Orten und Personen. Also zeigt uns das Setting, in dem wir uns befinden, zeigt uns auch das Aussehen von Prota und den Nebenfiguren. (Würde über Beschreibungen aber generell nochmal schreiben.)
Ich hab den Tipp gehört, dass man auch mal 200 Seiten warten kann, bis man verrät, wie Prota aussieht und ...nein. Wenn ihr mir nicht schnell diese Infos liefert, hat die Figur in meinem Kopf überhaupt kein Aussehen. Das sind Strichmännchen mit Haaren.
Klar, wenn wir uns in einer Actionszene zu Anfang befinden, ist das sicher kein geeigneter Ort, um das Aussehen zu beschreiben oder die Anordnung der Grashalme in der Umgebung. Aber sobald es sich gut einfügt, würde ich damit nicht zurückhalten.
Um Lesende in die Geschichte zu ziehen, sind starke Bilder meist hilfreich. Seid damit aber kreativ und in den Beschreibungen spezifisch. Es darf natürlich auch eigenartig werden, sofern das zu der Geschichte passt.
Seid also mit euren Bildern spezifisch, um eurer Geschichte Bedeutung zu geben.
Kleiner Tipp auch: Versucht nicht, in Kapitel eins direkt zehn Figuren einzuführen, ohne dass ihr den Hauptplot schon aufgespannt habt.
Es gibt bestimmt Bücher, bei denen das gut klappt, aber mit all den neuen Dingen, mit denen man als Lesende*r konfrontiert wird, ist es schwierig, sich dann auch noch extrem viele verschiedene Personen zu merken, die noch nicht wichtig sind, weil es noch überhaupt keine Geschichte gitb. Die kann man besser nach dem Event, das die Geschichte anstößt, einsetzen, weil wir dann einen Plot haben, der uns interessiert.
Das Event, das den Plot anstößt
Ich hab ja schon viel darüber gelabert, deswegen hier ganz kurz: Eure Geschichte sollte durch irgendetwas angestoßen sein.
Bei Harry Potter sind es zum Beispiel die Briefe, die Harry geschickt bekommt. Bei den Tributen von Panem die Ernte, in der Katniss' Schwester gezogen wird. Bei Superheldenfilmen ist das oft der Moment, indem sie ihre Kräfte bekommen oder entdecken. In Romanzen ist das oft das erste Treffe mit dem Love Interest.
Es ist quasi der Moment, der alles verändert. Ohne den gäbe es die Geschichte nicht und er verändert die gesamte Situation so, dass Prota nicht mehr einfach so zur Normalität zurückkehren kann.
Es ist sinnvoll, diesen Moment so früh wie möglich zu platzieren. Wenn der erst auf Seite achtzig kommt, ist es schwierig, Lesende bei dem nicht-vorhanden Plot zu behalten. Wir sind ja nicht hier für Subplots, wir haben ja nicht die Geschichte angeklickt oder das Buch gekauft, um dann nicht über sie zu lesen.
Selbst wenn ihr eure Geschichten nicht vorher plant - so wie ich -, solltet ihr euch über diesen Moment trotzdem Gedanken machen.
Der erste Satz 2.0:
Sollten wir also einen geeigneten Einstiegspunkt gefunden haben, um unsere Leser*innen in die Geschichte zu ziehen, fehlt uns immer noch ein erster Satz. Der kann uns dann richtig packen.
Lasst euren ersten Satz spezifisch sein.
"Es regnete gegen die Pflanzen."
"Ein Regentropfen rutsche in die Blüte des Alpenveilchens." Besser, weil es spezifischer ist. Das bedeutet unsere Geschichte ist nicht irgendwie ungefähr so vielleicht, sondern ganz deutlich und klar. Auch wenn Regen und Veilchen vielleicht nicht das innovativste Bild für einen Anfang sind ...
Lasst ihn so lange wie nötig, aber so kurz wie möglich sein. Ein erster Satz, der sich über drei Zeilen zieht, kann unglaublich anstrengend sein, vor allem wenn der dann auch noch verschachtelt ist. Haltet es so einfach wie möglich, um das auszudrücken, was ihr sagen wollt.
Ein einsamer Regentropfen, der in der Scharr beinahe unsichtbar wurde, klatschte gegen die Blüte des Alpenveilchens, das violett schimmerte und seine Blätter ob des Wassers schon halb geschlossen hatte, ehe er an dessen Stängel hinabrutschte, in der feuchten Erde aufkam und darin unbemerkt wie die Seele eines Verstorbenen verschwand.
Ich weiß nicht mal genau, wie ich das retten soll ...
Erstens: Keine Seelen in Vergleichen!
Einfacher ausgedrückt, auch ich wenn nach wie vor nicht weiß, wie spannend dieses Bild für einen Anfang ist: Der Regentropfen klatschte gegen die Blüte des Alpenveilchens, rann an dessen Stängel hinab und verschwand in der lockeren Erde.
Natürlich sind erste Sätze besonders gut, wenn sie uns ein spannendes Bild geben oder einen spannenden Aspekt der Handlung oder der Protas. Ein gutes Beispiel für einen gelungenen ersten Satz finde ich allerdings auch aus The Girls von Emma Cline:
"Dass ich aufsah, lag an dem Gelächter, dass ich weiter hinsah, an den Mädchen."
Ihr seht, ihr müsst euren ersten Satz nicht mit Stilmitteln oder Widersprüchen überladen, ihr müsst nicht auf Teufel komm raus die Aufmerksamkeit eurer Leser*innen mit seltsamen Aussagen beschwören, ihr müsste nicht Verwirrung stiften, nur um verwirrend genug zu sein, damit sie weiterlesen, um zu sehen, wieso ihr diesen Stuss redet.
Die meisten werden sich ohnehin zumindest den ersten Abschnitt anschauen - wenn nicht sogar die erste Seite.
Zusammenfassung
Zeigt:
- spezifische Bilder
- interessante Protas mit eigener Weltsicht, die aktiv handeln
- das Setting
- beschreibt die Figuren
- baut die Grundatmosphäre des Buches auf
- zeigt nur Szenen und Details, die vor dem Plot-Anstoß-Event stattfinden, die auch wirklich extrem spannend sind, oder die wir wirklich brauchen, um zu verstehen, was die Normalität ist, die zerrissen wird.
Zeigt nicht:
- Klischees
- Banalitäten, die wir auch jeden Tag erleben
- hunderte erzählte Fakten über Prota und deren Leben
- krasse Flashbacks vor der eigentlichen Handlung (wer interessiert sich für Hintergrundgeschichte ohne Geschichte?)
When in doubt: Schaut euch Anfänge von den Büchern an, die ihr gerne gelesen habt, und fragt euch, wieso ihr diese Anfänge so gut findet und wie ihr die Techniken, die dort verwendet wurden, so auf eure Geschichte übertrage könnt, dass es eurer Geschichte weiterhilft.
Mehr habe ich zum Anfang nicht zu sagen!
-- Cookie
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top