Kreuzfeuer (Halbfinale)
Er war Frühaufsteher und liebte die Morgenstunden, in denen er seine Ruhe hatte und die Stadt für sich allein. Sogar hier im sonst pulsierenden Herzen Frankreichs war im Moment keine Menschenseele unterwegs, und nur langsam gingen sporadisch kleine Lichter im Häusermeer vor den Fenstern seiner schicken Stadtwohnung an. Die Metropole lag still und schlafend vor ihm, während er schweres, rau glasiertes Steingut mit beiden Händen umfasste und das Aroma des starken Kaffees darin einsog. Warum konnte es nicht immer so sein? Aufstehen, den Tag als der beginnen, der er war. Oder zumindest der, von dem er immer dachte, es zu sein.
An diesem Morgen war er Leon Berger. Selbstständiger IT-Berater und ein recht erfolgreicher, wie er in Gedanken hinzufügte. Nach jedem Schluck des heißen Gebräus ließ er weitere Details seines Lebens Revue passieren. Er war zweiunddreißig Jahre alt, hatte seine Kindheit in Deutschland verbracht und war nach einem mit Bestnoten abgeschlossenen Informatik-Studium nach Frankreich ausgewandert. Das Büro, das er in Lyon gegründet hatte, lief so gut, dass er vor einem Jahr eine zweite Niederlassung in Paris eröffnen konnte, die ebenfalls sehr gut lief.
Auch dieses Mal konnte er alles fehlerfrei und flüssig aufzählen, ohne in der dunkelblauen Mappe nachzusehen, in der neben seinem Ausweis und einem Reisepass auch zwei auf Vorder- und Rückseite eng bedruckte Blätter ruhten. Der junge Mann lächelte abschätzig. Es bedurfte keiner besonderen Gedächtnisleistung. Wer sich so häufig wie er neue Persönlichkeiten überwarf, sie wie eine zweite Haut trug und wieder ablegte wie einen alten Mantel, konnte sich mit Leichtigkeit eine neue Lebensgeschichte merken. Schon während der Einsatzbesprechung in Berlin hatte er sie schon verinnerlicht, jetzt wiederholte er sie nur, weil er gern auf Nummer sicher ging.
Als das Telefon klingelte, stellte er die Tasse so abrupt ab, dass die heiße Flüssigkeit überschwappte. So früh am Morgen konnte das nur Herbert Auracher sein, sein Führungsoffizier. Das dunkel gebeizte Holz der Anrichte leuchtete im kühlen Schein des Displays, das »Herbie« anzeigte und damit die Identität des Anrufers bestätigte. Was auch immer der Anlass für den Anruf war - Auracher ließ man nicht warten, und so hechtete er über das cremefarbene Sofa aus weichem Alcantara, das wahrscheinlich ein Vielfaches seines Monatssolds wert war.
»Hey, du bist's«, meldete er sich wenig geistreich.
»Ja, ganz offensichtlich«, dröhnte es aus dem Hörer. Auracher sprach immer so laut, als litte sein Gegenüber unter einem irreversiblen Hörschaden, was vielleicht an seinem eigenen, schlechten Gehör lag. »Wie geht's es dir? Hast du in deiner Wohnungsattrappe alles, was du brauchst?«
»So weit alles gut, das Wetter ist toll und die Aussicht grandios«, antwortete Leon, und seine Mundwinkel hoben sich eine Winzigkeit. »Wir wissen beide, dass dir mein Befinden scheißegal ist. Lass uns zur Sache kommen.«
Das Lachen am anderen Ende der Leitung verwandelte sich in einen heftigen Hustenanfall und ging in ein Röcheln über. Schon oft hatte der Jüngere versucht, seinen Vorgesetzten und Freund von dessen Lieblingszigarren abzubringen. Doch der alte Hund war unbelehrbar.
»Du kennst mich einfach zu gut, Junge«, japste Herbie. »Dann lass mal hören.«
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»Du siehst also, hier läuft alles glatt. Bis auf die Tatsache, dass die Zielperson sich absolut unauffällig verhält. Wenn Leroux nicht im Verlagshaus ist oder in seinem Apartment schräg gegenüber, verbringt er viel Zeit in der kleinen Brasserie neben dem Verlag. Er geht nicht aus, und die Kollegen von der DGSE, die seine Wohnung verwanzt haben, bestätigen, dass er einzig mit seiner Mutter in Deutschland telefoniert.«
Als Auracher dem französischen Geheimdienst vor zwei Wochen gesteckt hatte, wer überwacht werden sollte, hatte dieser jedwede Unterstützung angeboten und das Versprechen auch gehalten. »Die hängen sich übrigens richtig rein, die Franzosen«, fuhr Leon fort.
»Kein Wunder. Er koordiniert alle Zellen von ›Aqua Vindicta‹ von Deutschland aus, und die haben letztes Jahr in vier französischen Großstädten das Verkehrssystem gekapert und die Ampelschaltung übernommen. Die vielen Unfalltoten an nur einem Tag sind wohl Motivation genug.«
Als kröche das Unbehagen seines Führungsoffiziers direkt durch die Telefonleitung, richteten sich seine eigenen Härchen im Nacken auf. ›Aqua Vindicta‹ - diese terroristische Vereinigung war ihm noch immer ein Rätsel. »Ich verstehe diese Irren nicht. Du etwa? Vor drei Jahren waren das nur ein paar Wirrköpfe, die das Recht auf Wasser in der Dritten Welt wieder auf die dortige Bevölkerung übertragen wollten. Dafür haben sie Großkonzernen wie Nestré mit ihren Aktionen ans Bein gepinkelt und wurden dafür gefeiert. Ihre Ziele sind ja aller Ehren wert, aber wie sind die nur zu Terroristen geworden?«
»Das ist nicht von Belang«, brummte Herbie. »Nur dass sie gestoppt werden. Also konzentriere dich auf das Wesentliche, genau wie Baumgartner es im Briefing dargelegt hat.«
Nur zu frisch war Leons Erinnerung an den schlaksigen NSA-Analysten, der aussah wie ein pickeliger Pennäler und somit dem Klischee des lichtscheuen und sozial inkompetenten Computer-Nerds vollkommen entsprach. Anders als Leon, der sportlich war, ohne bullig zu wirken - mit kurzem, sandfarbenem Haar, einem Paar sturmgrauer Augen und klaren, fast kantigen Gesichtszügen. Kurz: gutaussehend und gleichzeitig unauffällig. Perfekt für einen Agenten im Dienst des BND.
»Wie könnte ich das vergessen: Leroux observieren und seinen Kommunikationskanal zu den Terrorzellen weltweit identifizieren. Dann mithören- oder lesen, was für ein Anschlag genau in fünf Tagen in den Staaten geplant ist.«, leierte er gelangweilt herunter.
»Verdammt, Junge«, brüllte Herbie, und Leon hielt sich den Hörer auf Armlänge weg. »Du solltest das Ganze ernster nehmen. Die NSA hatte Glück, weil ein paar von diesen Idioten im Netz mit einem großen Coup geprahlt haben und Leroux' Name dabei fiel. Aber mehr auch nicht.«
»Das hätten Baumgartners Leute doch aus ihnen herausquetschen können. Warum müssen wir uns mit dem Typen herumschlagen? Himmel Herbie, dafür habt ihr mich aus dem Urlaub geholt!«
»Oh, das stand nicht in der Jobbeschreibung? Wenn's brennt, kommst du. Find dich damit ab!« Leon biss sich auf die Unterlippe. Wenn er Auracher jetzt auch noch die Sinnkrise offenbarte, die ihn seit einem halben Jahr quälte, würde diesen der Schlag treffen.
Stattdessen hörte er sich dessen Sermon an: »Warst du bei einem anderen Briefing als ich? Diese Leute sind absolut loyal und würden dichtmachen. Die einzige Chance ist, den originären Kommunikationsweg herauszufinden und mitzuhören! Dazu müssen sie sich sicher fühlen. Muss ich dich daran erinnern, dass Informationsgewinnung unser Geschäft ist? Als Deutscher fällt er in unsere Zuständigkeit, und in Paris bist du nur, weil er da den Buchverlag seines verstorbenen Vaters geerbt hat. Parallel suchen Baumgartner und ich nach seiner Halbschwester, die letztes Jahr bei der gemeinsamen Mutter ausgezogen ist. Also reiß dich zusammen!«
»Okay, okay. Hast ja recht«, lenkte Leon ein. Es hatte keinen Sinn, jetzt einen Streit vom Zaun zu brechen. Lieber würde er noch eine Runde im Park joggen gehen, bevor er wie jeden der letzten drei Tage zur Arbeit ging und dort so tat, als würde er die EDV analysieren und auf dieser Basis ein neues System implementieren. Und er würde sie wiedersehen.
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Auch an diesem Vormittag kam er nicht nah genug an Leroux oder dessen Laptop heran, um in einem unbeobachteten Augenblick eine Spyware darauf aufspielen zu können. Sie war von den Kellerkindern eigens für diesen Einsatz entwickelt worden. Den Kollegen von der technischen Abteilung nach reichte es aus, den USB-Stick fünf Sekunden mit dem Zielgerät zu verbinden.
Eine Gelegenheit, sich direkt an den Mann heranzumachen, hatte sich auch nicht ergeben. Er war schließlich nur der Eigentümer und hatte mit der Netzwerkarchitektur im Haus nichts zu tun. Doch seltsamerweise war Leon nicht frustriert. Im Gegenteil. Unablässig spielten seine Finger mit dem Saum der Tischdecke. Diese Vorfreude war unerklärlich, schließlich kannte er die aparte Brünette überhaupt nicht. Hatte sie nur einige Male im Vorbeigehen auf den Fluren des Verlagshauses gesehen.
Zum Glück bemerkte niemand, wie sein Herz plötzlich einige Takte schneller schlug, als sie das Lokal betrat. Er saß an einem Tisch in der hinteren Ecke des »Le Papillon Bleu«, von wo aus er den ganzen Laden überblickte. Er hatte es sich angewöhnt, sich in jedem Restaurant genau den Platz auszuwählen, von dem aus er einen Notausgang schnell erreichen konnte und sah, wer kam oder ging. Für den Fall, dass er flüchten musste. Es war wie ein Reflex, den er auch privat nicht ausschalten konnte.
Die zierliche Frau nahm einige Tische weiter Platz und nickte ihm lächelnd zu. Sie hatte keine Ahnung davon, dass sie einen großen Teil seiner Gedanken einnahm, und wie viel Überwindung es ihn kostete, ihren Gruß nonchalant zu erwidern. Wäre er nicht mitten in einer Mission, hätte er sie schon vor Tagen angesprochen. Allein schon, um diesen unwürdigen Zustand zu beenden: hochfliegende Euphorie und gleichzeitig die Angst, sich bis auf die Knochen zu blamieren. Obwohl sie ganz den Eindruck machte, auch ihrerseits interessiert zu sein.
Aber es ging nicht. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
»Le plat du jour, s'il vous plaît«, bestellte er das Tagesgericht, dankbar, dass der Kellner ihm unwissentlich half, sich wieder auf Leroux zu fokussieren, der nur anderthalb Meter von ihm entfernt seine Vorspeisen-Platte genoss, seinen geöffneten Laptop neben sich auf einem Stuhl. Wenn der Mann nur kurz auf Toilette ginge, könnte Leon aufstehen, den USB-Stick problemlos anschließen und sich vorgeblich einen offenen Schuh zubinden, um dann zum Schein auch auf das Klo zu verschwinden.
Die Zielperson stand auf. Adrenalin durchflutete die Adern des jungen Agenten, ließ ihn schwitzen und erweiterte seine Pupillen. Er selbst hatte sich gerade halb erhoben, da schob sich ein Paar dunkelblauer Augen, umrahmt von vollen, braunen Locken, in sein Gesichtsfeld. Er hatte nicht für möglich gehalten, dass sein Herz noch schneller pumpte, und doch tat es genau das. Und die Welt wurde klein, beschränkte sich auf die Frau vor ihm. Aus der Nähe faszinierte sie ihn noch mehr.
Ihm war vorher nicht aufgefallen, dass in den kastanienbraunen Haaren rötliche Lichtreflexe funkelten und in den Tiefen ihrer Iris ein violetter Schimmer wohnte. Ihr blumiges und zugleich frisches Parfum hüllte ihn ein, während sie sich ungefragt zu ihm setzte. Die Zielperson war zur Nebensache verblasst.
»Du heißt Leon, nicht wahr?«, fragte sie ihn in akzentfreiem Deutsch. Die Frage war rein rhetorischer Natur, da sie wissend nickte, als er sie bestätigte. Sein Herz setzte mindestens zwei Schläge aus, während ihr Lächeln zwei perfekte Grübchen zum Vorschein brachte. Er war ganz froh, dass sie keine Antwort erwartete und sich ohne Umschweife selbst vorstellte: »Ich bin Emma Richter, freiberufliche Kinderbuch-Illustratorin. Würdest du heute Abend mit mir essen gehen?«
Klapperndes Geschirr, gedämpfte Stimmen anderer Gäste, Leroux, der an seinen Tisch zurückkehrte - all das war in den Hintergrund gerückt. Leon wusste, er sollte höflich ablehnen. Eine Verabredung mit Emma war eine ganz und gar schlechte Idee.
»Ja, das würde ich sehr gerne.« Die Worte brachen aus seinem trockenen Mund, obwohl er sich ihrer Tragweite bewusst war. Damit er sie nicht zurücknehmen konnte, stürzte er seinen Rotwein hinunter und konzentrierte sich auf die leichte Säure, die seinen Gaumen kribbeln machte.
Sie stieß den Atem aus, den sie angehalten haben musste. »Du glaubst nicht, wie erleichtert ich bin. Ich mache das normalerweise nicht, einfach irgendwelche Typen ansprechen.«
»Ich bin nicht irgendein Typ, und woher weiß ich, dass du das nicht andauernd tust?«
»Da musst du mir einfach vertrauen. Ich habe einfach das Gefühl, dich schon ewig zu kennen«, flüsterte sie und legte ihre Hand auf seine. Es prickelte wie tausend Ameisen dort, wo sie ihn berührte, und sandte Blitze in jeden Teil seines Körpers. Ein ganz spezieller Teil wurde steinhart und presste sich schmerzhaft gegen die Begrenzung seiner Hose. Er lehnte sich ein wenig zurück und nahm die Beine auseinander, um sich Erleichterung zu verschaffen.
Als wüsste sie um seine missliche Lage, intensivierte sie ihren Blick und drückte sanft zu. Augenblicklich sah Leon in schneller Folge eine Flut an Bildern an sich vorbeiziehen: Emma, wie er sie an die kühlen Fliesen der Dusche in seinem Apartment presste, wie sie beide in einem Knäuel aus Gliedern auf seinem extravaganten Bett lagen, wie er sich nahm, was sie ihm an Leidenschaft vorbehaltlos schenkte. Herbies Anruf, der diesen Moment zu ruinieren drohte, drückte er weg. Ihn konnte er jederzeit zurückrufen. Der Moment mit Emma hingegen war unendlich kostbar.
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Sie hatten es gerade mal eine halbe Stunde ausgehalten in dem piekfeinen Restaurant, das Emma für das erste Date auserkoren hatte. Während sie auf die Bestellung warteten, hatten sie die Zeit genutzt, sich über dies und das zu unterhalten und sich kennenzulernen. Ohne seine Tarnung aufzugeben, hatte er nur bei seinen Hobbys bei der Wahrheit bleiben können. Doch das Knistern zwischen Emma und ihm hatte es unmöglich gemacht, das Mahl zu genießen. Schließlich hatten sie einige Scheine auf den Tisch geworfen und das restliche Essen sowie einen verdatterten Kellner zurückgelassen.
Jetzt, wenige Stunden später, lag er schwer atmend auf seinem Bett, und strich einer Frau, die er bis vor wenigen Tagen überhaupt nicht gekannt hatte, das verschwitzte Haar aus der Stirn.
»Ich glaube, ich liebe dich.«
Es war nur ein Murmeln, das ihre Lippen verlassen hatte, und doch erstarrte er wie vom Donner gerührt. Es war nicht, weil er nicht an Liebe auf den ersten Blick glaubte. Denn sie hatte genau das ausgesprochen, was auch er fühlte: die Gewissheit, dass sie ihn ergänzte, und sie beide zusammen erst ein Ganzes ergaben.
Es war die Tatsache, dass er nicht mit offenen Karten spielte, und sie sich in einen Geist verliebte. Das konnte nicht echt sein, würde nie Bestand haben. Hätte er sie in der Brasserie doch nur abblitzen lassen! Doch jetzt war es zu spät, wie er bitter feststellte, als er die Spur von abgelegten Kleidungsstücken von der Wohnungstür bis zum Sofa und von dort bis ins Bad verfolgte. Sie hatten vorhin nicht genug voneinander bekommen und nach der gemeinsamen Dusche noch einmal hier in seinem Bett miteinander geschlafen. Und mit jedem Mal das unerklärliche Band zwischen ihnen fester geknüpft. Wenn er diese großartige Sache mit Emma nicht verpfuschen wollte, musste er ihr die Wahrheit über sich sagen. Doch wann wäre der richtige Zeitpunkt dafür?
»Ich hab einen Riesenhunger, soll ich dir etwas aus der Küche mitbringen?«
Die Frage riss ihn aus seinen Grübeleien. »Ich brauche nichts. Allerdings habe ich nicht viel im Haus. Ich war gar nicht auf Besuch eingestellt.«
Nackt, wie sie war, ging sie aufreizend langsam zur Schlafzimmertür hinaus. Leon sah ihrer entzückenden Kehrseite hinterher und schluckte, als sie ihm über die Schulter zurückblickend zuzwinkerte. »Ich finde schon irgendetwas, und du wirst auch etwas essen. Für heute Nacht wirst du deine Kräfte brauchen.« Mit diesen Worten verschwand sie, und er hörte sie in der Küche einen Schrank nach dem anderen öffnen und wieder schließen. Doch dann wurde es still. Zu still.
»Verflucht!« Leon fiel siedend heiß ein, dass er seine Walther PKK nicht weggeräumt hatte. Er schwang die langen Beine aus dem Bett und hastete, das Bettlaken um die Hüften gewickelt, quer durch die Wohnung. In der Tür zur Küche blieb er wie angewurzelt stehen - Emma saß auf dem Stuhl, an dessen Lehne sein nun leeres Schulterhalfter hing. Die Waffe selbst hatte sie auf ihn gerichtet.
»Wer zum Teufel bist du?!«
»Emma, ich kann dir alles erklären. Nur leg das Ding hin, bevor es losgeht!«
»Keine Sorge, ich kann damit umgehen«, erwiderte sie gelassen. Diese Ruhe und ein undefinierbarer Ausdruck in ihren Augen ließen Leon schaudern. Er drückte den Rücken durch und lehnte sich an den Türrahmen. Jetzt war ein genauso guter Zeitpunkt wie später.
»Okay, dann hör zu«, begann er und erzählte alles. Er hielt nichts zurück und offenbarte alle Einzelheiten seiner Mission. Es würde ihn Kopf und Kragen kosten, doch das konnte ihm gleichgültiger nicht sein. Es zählte allein, wie Emma darauf reagierte. »Es tut mir leid, dir etwas vorgespielt zu haben. Kannst du mir verzeihen?« Er hasste den flehentlichen Unterton, der sich in seine Stimme geschlichen hatte.
Der Pistolenlauf zitterte kaum merklich, senkte sich jedoch nicht. Emma war blass und schien sowohl um Fassung als auch um Worte zu ringen. Dann machte sie einen erstickten Laut, halb Lachen, halb Weinen. »Das ist fast schon witzig!«, rief sie. »Du bist nämlich nicht der Einzige mit einem Geheimnis. Rate mal, wer ich bin!«
Sie ließ ihm keine Zeit zu antworten, und er hätte, überrumpelt wie er war, auch keinen Ton herausgebracht. »Mein echter Name ist Juliane Michaelis. Klingelt da was?«
Das tat es. Michaelis. Den Namen hatte Leroux' Mutter bei ihrer zweiten Heirat angenommen. Er brauchte es nicht laut zu sagen, denn Emma hatte die Erkenntnis an seinen Augen abgelesen und nickte. Dann legte sie die Waffe auf den Tisch. »Und? Willst du mich nicht festnehmen?«
»Nein, das kann ich nicht. Der BND hat keine Exekutivgewalt wie zum Beispiel der CIA.«
Als Emmas - nein, Julianes - Züge sich verdunkelten, beeilte er sich, zu versichern: »Aber ich werde dich auch auf keinen Fall verhaften lassen!«
»Warum nicht? Das wäre doch super für deine Karriere!« Die Unterstellung ätzte sich wie Batteriesäure in sein Herz, weil es die Wahrheit war und er den Bruchteil einer Sekunde darüber nachgedacht hatte. Mit zwei großen Schritten war er bei ihr und nahm sie in die Arme.
»Das ist es nicht allein. Ich will es aus dem gleichen Grund nicht, aus dem du mich nicht erschossen hast: Ich will nicht mehr ohne dich sein, so verrückt das auch klingt.« Er streichelte ihren Nacken, bis jede Anspannung aus ihren Schultern wich.
»Aber du musst deine Leute einweihen. Ich kann das einfach nicht mehr!« Sie weinte nicht, doch ihr angespannter Körper summte an seinem.
»Was kannst du nicht mehr?«, fragte er und hielt sie ein Stück von sich weg, um ihr Gesicht zu mustern, die Augen misstrauisch verengt.
»›Aqua Vindicta‹ wird eine Schule in Washington in die Luft jagen. Eine Privatschule, an die hochrangige Funktionäre von Nestré ihre Kinder schicken. Fuck, sie werden Kinder töten!«, platzte sie heraus. »Ich bin Gillaumes Sprachrohr. In meinen Illustrationen verstecke ich QR-Codes, die zu verschlüsselten Dokumenten mit genauen Anweisungen führen. Du musst mich ausliefern! Wie sonst kann ich sie aufhalten?«
Leon schwieg, während er im Geiste alle Optionen durchging. Und traf eine Entscheidung.
»Das wirst du auch nicht«, entgegnete er fest, ihren Widerspruch ignorierend. Sie musste nicht wissen, dass er jeden Gefallen einfordern würde, von jedem seiner zwielichtigeren Kontakte, um mit ihr zu verschwinden und diese Bedrohung aus dem Untergrund heraus auszuräumen.
»Wir werden sie gemeinsam aufhalten.«
Und ihr Lächeln wusch alle Zweifel von ihm. Zusammen konnte sie nichts und niemand aufhalten.
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3014 Wörter
Anm. d. Autorin:
Vielleicht glaubt Ihr, ich hätte mich beim Namen des bösen, bösen Großkonzern vertippt, aber das ist nicht der Fall. Vermutlich wissen die meisten, auf welchen ich dezent verweisen wollte. Die Problematik mit den Wasserrechten ist ja leider nicht erfunden. In 34 Ländern kauft diese Firma von den dortigen staatlichen Wasserbehörden. Das erlaubt ihnen, direkt Grundwasser abzupumpen, zu reinigen und abgefüllt zu verkaufen. Und das auch in Ländern, wo große Knappheit herrscht.
Nun ja, da ich keine Klage riskieren will (auch wenn das hier niemand von denen lesen wird), deshalb habe ich den Namen eine Winzigkeit verfremdet. ›Aqua Vindicta‹ ist natürlich frei erfunden. Die Geheimdienste inkl. des BND nicht. Jedoch ist wenig bekannt, wie er operiert (logisch, oder?), aber etwas Info, wie er organisiert ist, und über seine Befugnisse konnte ich recherchieren und einbauen.
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