4

Ich gehe nicht zum Unterricht. Normalerweise gehe ich immer dorthin. Es fühlt sich so normal an, in einer Welt, die komplett auf dem Kopf steht. Die Schule ist ein schöner Kontrast zu meinem sonst so hässlichen Leben. Es gefällt mir Neues zu lernen: Mathematik, Geschichte, Geografie...Für einige Zeit unterrichtete uns eine ehrenamtliche Mitarbeiterin sogar in Latein!
Ich gehe gerne zum Unterricht...aber heute kann ich nicht. Sobald ich nur daran denke aufzustehen, verkrampfen sich meine Muskeln und mein ganzer Körper wiegt plötzlich doppelt so viel. Also bleibe ich liegen und starre an die Decke.
An anderen Tagen würde ich viel zu früh losgehen, sodass ich als erste im Klassenzimmer bin und würde es erst als letzte verlassen. So, dass mich keiner sieht. In der Zeit dazwischen würde ich auf meinem Platz neben Andrea aus Zimmer 273 sitzen und alles in mich aufsaugen. Ich könnte natürlich nichts mitschreiben oder sonstwie mitarbeiten, aber ich würde mir jedes Wort merken.
Um kurz nach elf Uhr höre ich plötzlich Geschrei. Jemand scheint wütend zu sein, sehr wütend. Ein anderer Schrei ertönt, ein Schmerzensschrei. Ich höre die Ärzte und Schwestern etwas rufen, dann höre ich nichts mehr. Draußen ist es ruhig. Schritte nähern sich meiner Tür. Schwester Cassie und eine Ärztin namens Octavia schieben einen Rollstuhl in mein Zimmer.
Nura! Es ist Nura! Vollkommen entspannt sitzt sie da. Sie starrt ins Nichts, so wie ich das sonst immer tue.
"Ich habe einem Typen die Nase gebrochen!", flüstert sie mit ruhiger Stimme, sobald alle Ärzte den Raum verlassen haben, " Er hat gesagt, dass ich gar nicht krank bin, sondern einfach nur ein Arschloch. Also habe ich ihm eine verpasst. Die Ärztin hat mir was gespritzt. Das Zeug ist der Hammer, so entspannt war ich schon seit Jahren nicht mehr! "
Ich starre sie nur an. Nura ist seltsam. Sie ist anders als meine letzte Zimmerkollegin mit Aggressionen. Die hat die ganze Zeit geschrien und ist auf alles und jeden los gegangen.
Nura ist viel ruhiger. Ja, sie reagiert grob und ohne lang nachzudenken, aber nicht bösartig. Ich glaube sie hat etwas ganz anderes, etwas, das die Ärzte nicht sehen können...oder auch wollen. Ich glaube sie sieht es nicht mal selbst.
"Was für ein erster Schultag!", flüstert Nura und kichert, " In den letzten drei Jahren war ich auf sieben verschiedenen Schulen und bei acht unterschiedlichen Familien. Eigentlich neun, aber eine hat mich nur 24 Stunden ertragen, dann haben sie das Jugendamt angerufen. Keiner von denen hat mir eine Chance gegeben, die haben alle nur das gesehen, was sie sehen wollten: Ein Mädchen, bei dem es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie ins Gefängnis oder in die Psychiatrie kommt. Schau einer an, ihre Erwartungen haben sich erfüllt!", Traurig lacht sie auf, "Ich bin so wütend! Ich bin so unglaublich sauer! Auf jeden! Auf meine Eltern, das Jugendamt, die ganze verdammte Welt. Sogar auf dich! Ich möchte ja normal sein. Ich möchte nicht jeden blöden Kommentar als Provokation auffassen. Aber es geht einfach nicht! Ich bin exakt die Person, die die Welt in mir sieht!"
Ich möchte Nura sagen, dass sie mir leid tut und dass ich sie verstehe. Ich möchte auch einfach nur normal sein. Das ist mein größter Wunsch. Normal sein. Nicht um Krankenhaus leben. Wäre ich normal würde ich nie aufhören zu sprechen!
"Ich habe seit Jahren nicht mehr so lange mit jemanden gesprochen. Solltest du je wieder sprechen können darfst du mit keinem darüber reden. Und du darfst mich auch nicht bemitleiden!", flehend blickt sie mich an.
" Ich verspreche es!", möchte ich ihr sagen. Klappt nicht. Ich starre sie nur an und schreibe das Gehörte auf meine innere Liste von Sachen über die ich nie sprechen werde, selbst wenn ich die Chance dazu hätte. Aber die Chance dazu wird sowieso nicht kommen.
Einmal haben wir in der Schule über Zeitreisen gesprochen. Ich hoffe, das das eines Tages wirklich funktioniert. Dann gehe ich in der Zeit zurück und sorge dafür, dass das alles niemals passiert. Ich sorge dafür, dass mein Vater nicht stirbt, damit Mama nicht traurig wird. Und dann gehe ich zu Nura und freunde mich mit ihr an, damit sie jemanden zum Reden hat und sie nie an diesem Ort landet.
Aber Zeitmaschienen wird es sowieso nie geben und wenn doch, dann könnte ich sie nicht benutzen, weil ich hier nicht rauskomme! Und sollte ich hier rauskommen, dann hätte ich kein Geld und selbst wenn, gäbe es immer noch das kleine aber feine Problem, dass ich unter Menschen nicht zurechtkomme. Ach, wie ich mein Leben hasse!
"Willst du nicht tauschen?", unterbricht Nura meine Gedanken, "Von dir erwarten sie wenigstens nichts. Du hast deinen Frieden!"
Oh Nura, wenn du bloß wüsstest, wie mein Leben wirklich ist! Wieso solltest du dein wundervolles Leben gegen meines eintauschen? Ich würde meine Seele verpfänden, wenn ich dafür wenigstens meine Stimme zurückbekommen würde! Könnte man seine Seele verkaufen - ich würde es tun!

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top