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Heute ist der 31. August. Ich bin mir nie ganz sicher, wann welcher Tag ist. Ich mache ja keine Pläne für die Zukunft. Warum sollte ich auch, wenn mein Leben immer gleich verläuft? Das würde mich nur enttäuschen. Besser nur an die Gegenwart denken. Das ist schon schmerzhaft genug.

Aber heute ist der 31. August. Es ist so heiß, dass ich kaum atmen kann. Eine Pflegerin hat mir einen kleinen Ventilator gebracht, der mir leicht ins Gesicht bläst. Er hilft nicht. Jedenfalls nicht viel. Die Zeit fließt heute wie Honig und mit jedem Atemzug wird sie zäher. Alles scheint heute langsamer zu sein. Die Fliegen, die Schwestern, der Sekundenzeiger auf der Uhr – einfach alles.

Ich hasse den 31. August. Nein. Hass ist nicht das richtige Wort. Ich werde traurig. Schwermütig. Melancholisch. Auch wütend. In mir ist kein Funken Hoffnung mehr. Und da sind diese ganzen „Was-wäre-wenn..." 's.

Was wäre wohl passiert, wenn Papa nicht gestorben wäre? Wären wir dann weiterhin eine glückliche Familie gewesen? Hätte ich vielleicht noch einen Bruder bekommen, oder eine Schwester? Oder beides?

Was wäre passiert, wenn Mama die große Traurigkeit überlebt hätte? Wäre sie über Papa's Tod hinweggekommen? Hätte sie irgendwann einen neuen Mann kennengelernt? Wäre sie wieder glücklich geworden?

Was wäre passiert, wenn Mama mir vor exakt zehn Jahren keine Zöpfe ins Haar gemacht hätte, fast eine Stunde lang? Wenn sie uns keinen Kakao gemacht hätte, oder wenigstens ihre Pillen weggelassen hätte? Wären wir dann glücklich? Hätten wir ein ganz normales Leben, so wie hunderte andere Familien auch?

Es gibt so unglaublich viele Arten zu sterben. Warum hat Mama sich für eine Überdosis entschieden. Warum nicht für einen Sprung aus dem Fenster? Warum wollte sie mich umbringen?

Warum hat Mama sich nicht helfen lassen? Sie hätte doch eine Therapie machen können – oder hat sie das vielleicht sogar? Irgendwoher hatte sie ihre Medikamente, sie muss also bei einem Spezialisten gewesen sein. Hat sie sich deswegen umgebracht? Weil sie Angst hatte, dass niemand ihr helfen kann?

An jedem anderen Tag im Jahr bleibe diese Fragen im Schatten meines Bewusstseins. Sie lauern mir auf. Manchmal kommen sie über mich, aber nie mit so einer Wucht wie am 31. August.

Jedes Jahr am 31. August fühle ich mich wieder wie das kleine Mädchen, das ich damals war. Das kleine Mädchen mit den schwarzen Locken, inzwischen schlampigen Zöpfen, rot geweinten Augen, abgemagert. So haben sie mich gefunden. So sah ich auf den Pressebildern aus. Ich habe damals eine Zeitung gesehen, mit meinem Bild auf der Titelseite. Etwas kleiner daneben war Mama. Sie fiel der Schwester hinunter, die mir das Essen brachte. Ich konnte das Bild nur für wenige Sekunden sehen, doch es brannte sich tief in meinem Gedächtnis ein.

Die Pfleger, die heute Dienst haben, halten sich möglichst von mir fern. Sie wissen, was für ein Tag heute ist. Jeder hier weiß es. Sobald sie in meiner Nähe sind, scheinen sie ruhiger zu werden. Das einzige, das ich höre, ist das Surren des kleinen Ventilators. Und manchmal auch Schritte auf dem Gang.

Der Mann, der heute auf mich aufpasst, blickt sehnsüchtig aus dem Fenster. Sonst strickt er immer. Vielleicht ist ihm heute zu heiß dafür. Er hat mir erzählt, dass er eine Art Schal für die Bäume im Park des Krankenhauses strickt. Vielleicht ist ihm die Wolle ausgegangen – manche der Bäume sind ziemlich hoch.

Ich versuche mich an die Woche zu erinnern, in der ich mit Mama alleine war, doch da ist nichts. Meine Erinnerungen brechen in dem Moment ab, in dem ich zu Mama ins Bett krieche und beginnen erst wieder in dem Moment, in dem mir eine brünette Polizistin beruhigend über den Rücken streicht. Sie weinte. Ich sah Mama nach, die mit einem schwarzen Auto wegfuhr. Sie haben sie einfach in eine große Kiste gelegt und weg war sie. Dann fehlt wieder ein großer Stück. Und dann kommen viele kurze Sequenzen aus dem Krankenhaus und dann ist da Schwester Agathe. Ich war noch ganz neu auf der Station und in diesem Moment sahen wir uns zum ersten Mal. Sie erzählte von ihrem Sohn, der nur drei Tage älter als ich ist. Sie hatte damals einen ziemlich großen Babybauch.

Inzwischen hat sie drei Kinder. Früher besuchte sie mich ziemlich oft außerhalb ihrer Schicht, zusammen mit ihren Söhnen. Die Besuche wurden seltener und wenn sie heute noch außerhalb ihrer Schicht kommt, nimmt sie nur noch ihren jüngsten Sohn mit. Den anderen bin ich wohl zu langweilig.

Der Bildschirm des Smartphones, dass der Pfleger vor mich auf den Tisch gelegt hat, leuchtet auf. Ein Summen ertönt. Ein Ruck fährt durch den Körper des Mannes, als er aus seinen Gedanken gerissen wird. Der Mann blickt auf das Display und stöhnt leise auf.

„Meine Freundin", murmelt er erklärend bevor er abhebt, „Ja, Schatz?".

Angestrengt hört er hin, „Ich bin auf der Arbeit, das weißt du doch!"

Er hört weiter zu, dann schleicht sich ein sanftes Lächeln auf sein Gesicht, „Was sagst du?", sein Blick wird liebevoll, „In Ordnung, ich komme gleich runter."

Der Pfleger legt auf und hastet zur Tür. Erst dann wird ihm bewusst, dass er eigentlich auf mich aufpassen sollte. Zögernd betrachtet er mich. Beschämt beginnt er eine Erklärung zu stammeln, von wegen dass seine Freundin bald eine sehr, sehr wichtige Prüfung hat, deswegen backwütig ist und in den letzten Tagen Muffins, drei verschiedene Kekssorten und fünf Kuchen gebacken hat. Sie bringt ein paar Kostproben vorbei und er muss nur schnell runter ins Foyer, das ist doch in Ordnung, oder? Er ist sofort wieder da!

Dann ist er weg. Endlich bin ich alleine. Ich stehe auf und setze mich ans Fensterbrett. In letzter Zeit habe ich meine Füße nur sehr selten benützt, deswegen fühle ich mich zittrig.

Von hier aus sehe ich den Park aus einer anderen Perspektive. Ich sehe andere Bäume, andere Büsche, andere Wegabschnitte. Den Platz, wo Fußball gespielt wird, sehe ich gar nicht.

Dort unten ist heute nicht besonders viel los. Eine junge Frau sitzt auf einer Bank im Schatten. Ein Junge mit verbundenen Handgelenken wirf einen Ball gegen eine Wand. Wieder. Und wieder. Und wieder.

Die Zimmertür öffnet sich mit leisem Quietschen. Ist der Pfleger etwa schon zurück? Ich ignoriere ihn und warte darauf, dass er näher kommt. Doch nichts passiert. Eine leise Alarmglocke schrillt in meinem Hinterkopf. Im nächsten Moment, höre ich eine Stimme und es ist nicht die des Pflegers.

„Ich habe nie verstanden, warum du immer am Fenster sitzt", Schritte nähern sich, „Das muss dich doch kaputt machen: Immer zu sehen, was dir alles vorenthalten wird. Und das alles nur, weil du viel zu viel Pech in deinem Leben hattest."

Der Mann hinter mir seufzt leise, „Du tust mir leid. Ich hoffe, dass du in deinem nächsten Leben mehr Glück hast."

Er kommt näher, immer noch näher, bis er direkt hinter mir steht. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Versteinert starre ich aus dem Fenster. „Geh weg!", flehe ich ihn stumm an, „Bitte, verschwinde!" Doch ich weiß, dass er nicht einfach so gehen wird. Bitte, der Pfleger muss jetzt sofort hereinkommen! Dann bin ich nicht mehr alleine, dann kann er mich nicht mehr umbringen. Doch der Pfleger kommt nicht.

„Ich habe mir lange überlegt, wie ich es diesmal anstelle!", erzählt Andersson leise, während er aus seinem Arztkittel eine kleine Stofftasche herausholt, „Es gibt viel zu viele Faktoren zu beachten: Wann wärst du für wie lange alleine, wie lange dauert das ganze, wie groß ist die Überlebenswahrscheinlichkeit, wie leicht ist das ganze nachzuweisen...?" Er lächelt selbstgefällig, bei diesem Anblick kommt mir fast die Galle hoch. „Dann habe ich einen Artikel gelesen, über Insulinmorde. Und das ist doch einfach perfekt! Niemand wird auf die Idee kommen, dich auf so etwas zu überprüfen, du wirst einfach nur einschlafen und nicht mehr aufmachen und jeder wird es tragisch finden, dass die arme, kleine Muna Bimirin an Unterzuckerung stirbt."

Gleichgültig zuckt er mit den Schultern. Ich hört ihm gar nicht mehr richtig zu, ich bin mehr damit beschäftigt, gegen mich selbst anzukämpfen. Irgendwie muss ich mich wehren, irgendwas muss ich tun. Ich muss ihn ablenken.

Aus seiner kleinen Stofftasche holt er eine Ampulle und eine Spritze heraus. Er zieht die Spritze auf und setzt sie an. Ich spüre das kalte Metall der Nadel auf meiner Haut.

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