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Sie haben mich auf einer anderen Station untergebracht. Nur zur Sicherheit, bis sie wissen, wer mich umbringen wollte. Wer für die dunklen Abdrücke auf meinem Hals verantwortlich ist. Und dafür, dass ich wieder weg bin. Ich bin wieder stumm, wieder erstarrt. Gerade jetzt, wo ich Hilfe brauche, wo ich dringend mit jemandem reden muss, um zumindest den Hauch einer Chance zu haben. Langsam glaube ich, dass mich das Universum hasst. Warum sonst sollte so etwas immer nur mir passieren?

Ich kenne keine der Schwestern hier und sie kennen mich nicht. Ich vermisse Agathe. Sie war an mich gewohnt und ich an sie. Ich glaube, sie sah nicht nur meine starre Hülle. Ich glaube, sie sah das Mädchen in meinem Inneren. Nicht nur die unbewegliche Statue. Vielleicht konnte sie sogar das Schreien und das Weinen in meinem Inneren hören.

Die neuen Schwestern, die neuen Pfleger, hören mich nicht. Sie wollen mich beschützen. "Das Monster wird hier nicht reinkommen, wir werden es nicht zulassen!", haben sie gesagt. Seitdem machen sie Überstunden. Es ist immer jemand in der Nähe, der kontrolliert, wer zu mir reingeht. Jeder Besucher wird auf einer Liste notiert. Sie ist ziemlich kurz. Nicht viele Leute kommen zu mir. Christine war einmal hier und Agathe dreimal. Nura nie. Sie haben sie nicht hereingelassen. Sie vertrauen ihr nicht. Warum auch? Jeder denkt, dass einer der anderen Patienten auf mich losgegangen ist und Nura... nun ja, Nura ist Nura. Sie hat innerhalb der ersten 24 Stunden hier eine Anzeige wegen Körperverletzung riskiert. Sie ist wegen ihrer Aggressionen hier und kommt aus Verhältnissen, die die Ärzte untereinander als problematisch bezeichnen. Wer sonst sollte in Frage kommen? Nura ist die Hauptverdächtige. Und deswegen darf sie nicht kommen. Als sie rein wollte, hat man sie weggeschickt. Als sie protestiert hat, wurde die diensthabende Schwester panisch und ein muskulöser Pfleger begleitete Nura zurück auf ihrer Station. Danach wurde diskutiert, ob man nicht besser die Polizei hätte rufen sollen. Wer weiß, was die Verrückte mit Aggressionsproblemen als nächstes versucht. Was für eine Spinnerin! Denkt doch im Ernst, dass ihr irgendjemand glaubt, dass sie mit dieser armen, armen Muna befreundet ist. Schämen sollte sie sich! Das war der letzte Moment, in dem sie unbeaufsichtigt war. Agathe hat mir erzählt, dass sie Nura in Untersuchungshaft stecken wollten. Weil man aber ihre Therapie nicht abbrechen wollte, einigte man sich auf einen Mittelweg: Ein junger Polizeibeamter wurde als Nuras Wachhund angestellt. Er folgt ihr überall hin und wenn es Abweichungen von der Routine gibt, muss sie die sofort rechtfertigen. Und von meinem neuen Zimmer muss sie sich sowieso fernhalten.

So hat man es mir beschrieben. Ich habe sie seitdem nur einmal gesehen. Eine Schwester hat mich zur Therapie gebracht. Auf dieser Station ist um einiges mehr los, also werde ich in einem Rollstuhl geschoben. Ich fühle mich schrecklich hilflos, wenn ich so dasitze. Als ich Nura sah, bogen wir gerade in einen Gang ein. Wir mussten vor der Tür des Therapieraums warten und Nura stand nur ein paar Türen weiter. Sie stand dort, die Arme verschränkt, angespannt, ihre Lippen waren zu einer dünnen Linie gepresst. Ihr Blick wanderte unruhig umher. Als sie mich sah, musterte sie mich. Die Sorge in ihrem Blick war offensichtlich, doch ich bemerkte, dass die Schwester, die mich schob, sich sofort anspannte und die Griffe des Rollstuhls fest packte. Der Polizeibeamte wurde ebenfalls sofort in Alarmbereitschaft versetzt. Der Gang verwandelte sich in ein Pulverfass, das Nura mit einer einzigen Bewegung zur Explosion bringen könnte. Als sie bemerkte, wie sich die Atmosphäre verändert hatte, wie sich die Situation zuspitzte, wandte sie ihren Blick schnell ab. Sie starrte auf den Boden und versuchte ihre Arme betont locker hängen zu lassen. Doch ihre Hände waren zu Fäusten geballt und ihre Lippen zitterten.

"Sie war's nicht!", wollte ich rufen, "Seht sie euch doch an. Nura würde so etwas nicht tun!"

Aber ich bleibe stumm. Ich kann sie nur anstarren. Und natürlich deutet die Schwester das komplett falsch und tauscht mit dem Beamten wissende Blicke aus.

"Siehst du, kaum sieht Muna sie, bekommt sie Angst. Warum zur Hölle, hat man dieses...dieses Monster noch nicht weggesperrt?"

Diese Worte hängen unausgesprochen im Raum. Sie schienen jegliche Luft aus dem Raum zu verdrängen und das Atmen unmöglich zu machen. Die Stillen was unerträglich und mein Herz schlug so laut, dass es mich nicht wundern würde, hätte jeder es gehört. Ich wollte aufstehen und Nura umarmen und allen sagen, dass sie das nicht war.

Als sie ins Therapiezimmer gebeten wurde, war ich schon fast erleichtert. Die Gefahr einer Eskalation war fürs Erste gebannt. Und darüber war ich froh.

Jetzt ist das ganze schon wieder zwei Tage her. Ich wünschte, ich könnte sie wiedersehen. Ich bin hier so alleine, auch wenn immer jemand da ist. Andersson wird mich hier nicht ermorden können. Nicht ohne sofort bemerkt und verhaftet zu werden. Es gäbe Zeugen. Massenhaft Zeugen. Und Videoaufzeichnungen. Keine Ahnung, auf welcher Station ich hier bin, aber in jeder Ecke hängt eine kleine Kamera. Nur in den Badezimmern nicht. Jedenfalls habe ich dort noch keine entdeckt. Um ehrlich zu sein, habe ich nicht so genau hingesehen. Der Gedanke, dass es Videomaterial von mir beim Duschen gibt, ist einfach nur verstörend. Die Fähigkeit , alleine im Bad sein zu können, war immer mein größter Triumph und ein Weg, ein letztes Fitzelchen Würde zu behalten. Diese Würde wurde mir weggenommen, denn durch die ständige Aufsicht der Schwestern, bin ich nie allein. Nura musste wenigstens zu Therapien oder in die Kantine gehen, aber die Pfleger sind einfach immer da. Sie müssen mir helfen und das ist wie Diebstahl. Ein Diebstahl des letzten Rests meiner Würde.

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