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Die Lehrerin hat mich heute genau im Auge. Dauernd stellt sie mir Fragen. Gerade so, als wolle sie, dass ich die verpasste Mitarbeit der letzten zehn Jahre an einem Vormittag nachhole.

Vermutlich versucht sie herauszufinden, wie viel von meinem Gehirn wirklich noch da ist. Kann ja sein, dass trotzdem irgendwas nicht mehr zu retten ist, irgendwas extrem wichtiges, das verhindert, dass ich je wieder das Krankenhaus verlasse.

Denn das ist das einzige, das sie jahrelang wussten - dass ich mein gesamtes restliches Leben im Krankenhaus verbringen werde. Im Krankenhaus oder in einem Pflegeheim, das auf meine Bedürfnisse abgestimmt ist. Kommt darauf an, was billiger ist.

Zu sagen, dass ich eine Zukunft haben könnte, wäre das Gleiche, wie zu behaupten, dass die Schwerkraft eine Lüge ist oder, dass Einhörner existieren.

Ich will nicht so viel sprechen. Nicht vor so vielen Leuten. Das macht mir Angst. Ich weiß nicht, wie ich die Anderen behandeln soll. Mit jeder Frage, die man mir stellt, werde ich panischer. Jedes Mal, wenn ich spreche steigt mein Puls und ich will wegrennen.

Warum kann ich nicht wieder stumm sein? Ich möchte zurück in die Stille flüchten, ich stelle mir vor, wie mich das Schweigen wie einen alten Freund umarmt. Es wäre als würde ich in ein warmes Schaumbad eintauchen. Ich beginne zu vergessen, warum ich je wieder sprechen wollte. Schweigen bedeutet Sicherheit. Wenn alles wieder so wäre wie früher, dann müsste ich zwar mein restliches Leben hier verbringen, aber dafür hätte ich mehr Kontrolle darüber, was in meinem Leben passiert. Alle würden mich einfach in Frieden lassen. Auch Doktor Andersson wäre nicht mehr so gefährlich für mich. Klar, er würde mich immer noch bedrohen und schlagen, aber er würde seine Drohungen nicht so bald wahr machen.

"Muna? Kannst du mir sagen, was man herausbekommt, wenn die Gleichung an der Tafel integriert?"

Ich starre die Lehrerin an. Ich kenne die richtige Antwort, die Aufgabe ist nicht besonders schwer. Mein Mund öffnet sich - doch nichts kommt heraus. Mein Körper hat seine Schutzmauern wieder voll hochgefahren.

Mein Wunsch hat sich erfüllt. Doch es ist nicht so, wie es noch vor wenigen Tagen war - es ist schlimmer, viel schlimmer. Wie konnte ich das Schweigen nur als Freund betrachten? Warum habe ich aufgegeben? Ich war so nah dran!

Jetzt weiß ich, wie es sein könnte. Ich weiß jetzt, wie sich meine Stimme anhört. Ich kenne jetzt das Gefühl von den ersten Worten nach dem Aufstehen, ich weiß jetzt, dass sie noch leicht im Hals kratzen.

Ich weiß, wie es sein könnte und, dass ich die Chance hatte zu einem normalen Leben zurückzukehren. Und ich habe sie nicht genutzt. Ich habe zugelassen, dass diese Frau sie zerstört. Immer schaffen es andere mir wehzutun! Am schlimmsten sind die, die nicht wissen, was sie mir antun! Wie die Lehrerin, die mich mit ihren großen unschuldigen Augen mitleidig anglotzt.

Immer noch bringe ich kein Wort heraus. Getuschel beginnt sich im Klassenzimmer auszubreiten.

"Jetzt hat die doch glatt dafür gesorgt, dass sie nichts mehr sagt!"

"Wahrscheinlich hat sie keine Lust!"

"Ich habs doch gesagt: Die wird nicht gesund..."

Die Gesichtsausdruck der Frau an der Tafel ändert sich von normal zu leicht rosa und dann zu weißlich. Sie weiß, was sie getan hat. Sie weiß, warum ich nichts mehr sage. Sie hat alles kaputt gemacht! Sie weiß es! Wegen ihr geht es mir wieder schlechter. Wenn das die Ärzte erfahren... Doktor Andersson wird das ziemlich locker nehmen - ein Problem, dass sich von selbst gelöst hat, sehr schön! Aber Schwester Agathe wird sie umbringen. Wenn Agathe sie in die Finger bekommt, wird sie bluten. Sie wird ihren Job verlieren und nie, nie wieder als Lehrerin arbeiten dürfen....WENN Agathe es herausfindet. Meine Version der Geschichte kann ich ja nicht erzählen, verdammt!

Ein neues Gefühl macht sich in mir breit. Es brennt sich durch meine Brust, erfüllt mich bis in die Fingerspitzen. Zorn.

Ich balle meine Hände zu Fäusten. Sie hat alles kaputt gemacht! Das darf sie nicht, sie darf das alles nicht zerstören. Nicht schon wieder! Ich habe so satt, dieses Gefühl als wäre ich eine Porzellanpuppe, die herumgeworfen wird. Und sobald wieder ein Stück abbricht oder ein neuer Riss entsteht, tut jeder für ein paar Minuten bestürzt, dann beruhigen sich alle wieder und jeder macht gleich weiter wie davor.

So wie die Schwestern, die mir viel zu viel Beruhigungsmittel gegeben haben und immer noch auf der gleichen Station arbeiten dürfen.

So wie Andersson, der mich schlägt und mich für den Rest meines Lebens ruhigstellen möchte.

So wie die Lehrerin, die alles kaputt gemacht hat, wofür ich die letzten Wochen gearbeitet habe.

Ich schlage auf den Tisch, so fest wie es geht. Das Getuschel wird lauter.

"Seid ruhig!", will ich schreien, "Seid alle still!"

Doch es klappt nicht. Nichts klappt. Und deswegen schlage ich auf den Tisch. Wieder und wieder und wieder.

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