13
Innerlich bereite ich mich auf den Termin mit Doktor Andersson vor. Jedes mögliche Szenario wird genaustens analysiert und durchdacht. Schlachtpläne werden ausgearbeitet. Natürlich ist ein großer Teil dieser Pläne nichts als heiße Luft. Eigentlich ist jeder einziger meiner Pläne Mist. Ich kann sie ja doch nicht umsetzen!
Aber sie geben mir Kraft. Sie machen mir Mut. Auf keinen Fall möchte ich mich wegen Andersson klein fühlen, schwach. Ich möchte endlich keine Angst mehr haben - doch die habe ich. Todesangst!
Sie sitzt auf meinem Brustkorb, wie ein junger Elefant. Mein Magen besteht aus einem großen Knoten, der dafür sorgt, dass ich nichts essen kann. Mein Herz schlägt mindestens doppelt so schnell wie sonst. Immer wieder stolpert es kurz. Mir ist schlecht, ich kann kaum atmen.
Doch als Doktor Andersson den Raum betritt, strahle ich ihn an. Ich weiß nicht, ob ich wirklich lache, aber ich versuche das gleiche zu machen, das meine Muskeln beim letzten Mal von alleine getan haben. Mein Gesicht fühlt sich verzerrt an, also tue ich zumindest irgendwas.
Andersson bemerkt das auch - während ich meine Gesichtsmuskulatur so gut wie möglich kontrolliere, entgleist die seine. Er schnappt nach Luft und wird kreidebleich.
"Scheiße!", murmelt er. Hastig blickt er sich um. Keiner da. Wir sind alleine. Nura ist mit ihrem Vater im Park. Das scheint Andersson zu beruhigen. Er wendet sich wieder mir zu.
"Wie zur Hölle hast du das gemacht?", zischt er mich an. Er kommt mir bedrohlich nahe. Der scharfe Geruch des Desinfektionsmittels steigt mir in die Nase.
"Wie schaffst du es Fortschritte zu machen, du kleines Miststück?", nervös knirscht er mit den Zähnen, "Und wo wir gerade dabei sind: Wie kommt es, dass du noch lebst? Du solltest tot sein! Ich habe dir doch das Gift gegeben!"
Ängstlich blickt er sich um. Er sieht aus wie jemand, der von seinen schlimmsten Albträumen gejagt wird. Hektisch fährt er sich durchs Haar.
"Was habe ich bloß getan?", murmelt er. Er spricht mehr mit sich selbst als mit mir, "Ich habe ihnen gesagt, dass ich das nicht machen will, ich habe versucht mich zu weigern. Aber die haben mir immer und immer mehr geboten - und irgendwann hätte niemand mehr abgelehnt! Was hätte ich denn machen sollen, sie wussten, dass ich bis zum Hals in Schulden stecke. Hätte meine Frau herausgefunden, dass ich unser ganzes Geld verwettet habe - ich hätte sie für immer verloren!"
Wieder fährt er sich durchs Haar und flucht leise. Erst jetzt bemerke ich, dass seine Augen stark gerötet sind. So, als hätte er geweint. Das macht mir Angst. Er ist doch böse, böse Menschen können nicht weinen! Wie kann es sein, dass er es doch tut? Er ist doch so böse wie der Teufel selbst - heißt das dann, dass es Menschen gibt, die noch schlimmer als der Teufel sind?
"Es tut mir leid, Muna!", flüstert er, "Ich will dich nicht umbringen, aber du darfst auch nicht weiterleben, denn sonst verliere ich alles."
So wie er jetzt ist macht er mir noch mehr Angst als sonst. Warum ist er so ruhig, warum tobt er nicht? Wieso kann er nicht auf mich losgehen, so wie sonst immer? Damit komme ich gut zurecht, alles ist besser als diese...diese Verzweiflung. Verzweifelte Menschen sind noch gefährlicher als Leute, die einfach böse sind. Einige Zeit saß ich in der Schule neben einem Mädchen mit Schizophrenie. Sie hat mir erklärt, dass ein großer Teil aller Verbrechen von verzweifelten Menschen begangen werden, nicht von bösen.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe keine Ahnung, wie ich aus diesem Schlamassel herauskomme.
"Keine Angst, Muna, du wirst fast nichts spüren!", flüstert Andersson. Aus einer Tasche seines Arztkittels zieht er eine leere Spritze. Er setzt sie an meiner Halsschlagader an. Das Metall der Nadel ist eiskalt.
"Keine Angst, das ist nur ein kleiner Stich in die Halsschlagader. Du musst keine Minute leiden, es ist sofort vorbei!"
Er will mein Herz zum Stillstand bringen! Mit einer Luftspritze! Die war schon immer eine seiner Favoriten. Ich würde keine fünf Minuten durchhalten. Nein! Ich will das nicht! Ich will leben!
In Anderssons Augen schimmert Angst - das verschafft mir ein paar Sekunden. Mein Körper reagiert blitzschnell. Ein markerschütternder Schall tönt durchs Zimmer. Mein Schrei. Er ist schrill und unglaublich laut.
Andersson flucht und stopft die Spritze hastig zurück in die Tasche. Keine Sekunde zu spät, denn im nächsten Moment stürzen Agathe und eine Kollegin herein.
"Was ist hier los?", stellt sie Andersson zur Rede.
"Nichts ist los, gar nichts!", fährt Andersson sie panisch an, "Ich habe keine Ahnung, warum Muna so schreit. Gebt ihr was zur Beruhigung!"
Misstrauisch mustert Agathe ihn. Bestimmt zehn Sekunden lang.
"Was?", brüllt Andersson.
"Auf gar keinen Fall!", verkündet seine Kollegin fest.
"Was? Wie können Sie es wagen..."
"Wie kann ich was wagen? Ihr keine Beruhigungsmittel zu geben, weil Muna daran sterben würde?", trocken lacht Agathe auf, "Was wollen Sie tun? Wenn Sie mich melden, kann ich jedem einfach Munas Akte zeigen,..."
"Ja!", hektisch fährt sich Andersson durchs Haar, "Ja, ich weiß, was in der verdammten Akte steht. Ich habe es ja selbst dort reingeschrieben. Und jetzt sage ich Ihnen, dass wir Muna dringend etwas zur Beruhigung geben müssen!"
"Ich denke, wir müssen eher Ihnen was geben. Wenn Sie sich schon die ganze Zeit so daneben benommen haben, wundert es mich nicht, dass Muna irgendwann zurück brüllt!", misstrauisch mustert Agathe Andersson nochmal, "Gehen Sie jetzt besser nach Hause! Sie sind eindeutig nicht in der richtigen Verfassung um unsere Patienten angemessen zu betreuen!"
Für einen Moment sieht Andersson so aus, als wolle er noch etwa erwidern, doch nach einem weiteren strengen Blick der Krankenschwester trottet er hinaus.
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