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Schwester Agathe eilt zu ihrer überforderten Kollegin.
"Ich denke, wir sollten hier eine Ausnahme machen, Lena!", verkündet sie freundlich.
Triumphierend boxt Nuras Vater mit einer Hand in die Luft. Seine Tochter schluchzt nur leise.
"Viel Erfolg, Nura!", verabschiedet sich Agathe, "Muna, deine Fortschritte werden wir morgen zusammen mit Oberarzt Andersson besprechen!"

Sofort ist die Angst wieder da. Und das Zittern. Und die Schatten in den Ecken. Andersson darf nicht kommen, er bringt mich um! Jetzt erst recht. Allein die Tatsache, dass ich noch lebe wird ihn wild machen. Ich möchte nicht sterben! Nicht jetzt, wo ich es endlich wieder wage zu hoffen.

Für weitere Sorgen bleibt mir keine Zeit, denn in  Nuras Vater kommt Bewegung. Vorsichtig hilft er seiner Tochter beim Aufstehen und führt sie ins Zimmer. Mit dem Fuß stößt er die Tür hinter sich zu.
Kritisch betrachtet er das Zimmer, dabei fällt sein Blick auf mich. Leicht abfällig verzieht er sein Gesicht.

"Und? Wer bist du?", fragt er mich.

Ich bin Muna und du musst gar nicht erst denken, dass ich weniger als ein normaler Mensch wert bin, nur weil ich auf der psychiatrischen Station Dauergast bin. Deine Tochter ist auch hier. Und es kann jedem passieren, dass er irgendwann hierher kommt!
Das möchte ich ihm sagen. Jedem, der glaubt er wäre was besseres. Also eigentlich so gut wie jedem, dem ich in den letzten Jahren begegnet bin. Auch, wenn ich glaube, dass die Meisten sich gar nicht bewusst sind, dass sie so denken.
Aber natürlich bleibe ich stumm. Ich starre ihn nur an.
Nura erlöst mich.

"Papa, das ist Muna", antwortet sie für mich, "Sie spricht nicht so viel."

"Schön dich kennen zu lernen. Ich bin Remus!", stellt der Mann sich mir nun vor. Freundlich streckt er mir die Hand hin. Immer noch kann ich ihn nur anstarren. Die Schutzwälle meines Körpers sind wieder voll hochgefahren.

Remus erwartet eigentlich, dass ich seinen Handschlag erwiedere. Dass ich nicht reagiere verunsichert ihn. Wahrscheinlich hält er mich für unhöflich und schlecht erzogen. Vielleicht auch für dumm.
Wieder erlöst mich Nura.

"Papa!", murmelt sie, "Muna kommuniziert gar nicht. Ich hab mich falsch ausgedrückt."

Remus Mund verzieht sich zu einem "Oh", peinlich berührt lässt er seine Hand sinken.

"Wie geht es dir, Nura?", fragt er schließlich.

"Du tauchst hier auf, nach drei Jahren und acht Monaten, und fragst mich, wie es mir geht?", bitter lacht Nura auf.

Was hat sie denn? Woher kommt diese plötzliche Stimmungsschwankung? Ihr Vater ist doch jetzt hier, ihr Wunsch hat sich erfüllt. Doch nach dem ersten Schockmoment kann ich keine Freude mehr in ihrem Gesicht sehen. Nur noch Wut - und Trauer.
Remus sagt einfach gar nichts, sondern blickt beschämt zu Boden. Das dümmste, das in er in so einer Situation tun kann.

"Wo zur Hölle warst du?", fragt Nura, während sie sich energisch mit dem Handrücken über die Augen wischt, "Ich hätte dich so dringend gebraucht! Wo warst du, als mich die anderen Kinder verprügelt haben? Wo warst du, als ich zum ersten Mal zurückgeschlagen habe?", Nura wird immer lauter, ihre Stimme wird immer zorniger, "Wo zur Hölle warst du, als mir der Direktor meiner neuen Schule gleich am ersten Tag gedroht hat mich fliegen zu lassen? Wo bitte warst du, als mein fünfter Pflegevater damit begann mich zu begrabschen?", ein lautes Schluchzen lässt Nuras Körper erbeben. Plötzlich ist ihre Stimme ganz schwach und ohne jede Kraft, "Wo warst du, als ich mich zum ersten Mal selbst verletzt habe? Als ich versuchte das Ganze für immer zu beenden - wo warst du da, Papa?", jetzt ist ihre Stimme nur noch ein Flüstern, "Papa, ich hätte dich gebraucht!"

Remus schweigt. Immer wieder öffnet er den Mund um etwas zu sagen, doch er bringt nichts heraus. Er scheint zu wissen, dass nichts, gar nichts, den entstandenen Schaden wieder beheben kann. Es tut nichts zur Sache, dass er das alles genauso wenig wollte, wie Nura selbst. Die drei Jahre werden immer zwischen ihnen stehen. Aber trotzdem hoffe ich, dass sie darüber hinwegkommen. Die Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern, was geschehen ist, ist geschehen. Doch es hängt von Nura selbst ab, wie sie ihre Zukunft verbringt.

Erst nach einer viel zu langen Stille bricht Remus das Schweigen.
"Es tut mir so unglaublich leid!", flüstert er mit belegter Stimme, "Ich wünschte, ich könnte die Zeit irgendwie zurückdrehen. Bitte Nura, ich weiß, ich kann das alles nie wieder gut machen. Und wenn du mich deswegen hasst, dann verstehe ich das. Sag, dass ich verschwinden soll und ich bin weg! Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich nie aufgehört habe um dich zu kämpfen", Remus schluckt hart und atmet tief durch bevor er weiterspricht, "Ich habe einen Entzug gemacht, gleich nachdem sie dich weggebracht haben. Ich bin nicht sauber, immer noch nicht, aber ich bin kein Säufer mehr. Ich trinke nur noch zwei Bier am Tag. Ab dem 17. trinke ich nur noch eines. Bis jetzt hatte ich zwölf Rückfälle, aber für dich habe ich weitergemacht. Ich werde mir endlich einen  neuen Job suchen. Ich werde erst aufhören, wenn du wieder bei mir bist."

Nura starrt zu Boden. Wie wild kaut sie auf ihrer Lippe herum.

"Das Jugendamt wird unseren Fall neu bearbeiten", verkündet Remus zögerlich, "Nur noch zwei, drei Monate, dann..."

"Papa, ich brauch dich jetzt!", unterbricht ihn Nura, "Nicht in zwei oder drei Monaten, wenn alles gut läuft. Das hier ist unsere letzte Chance."

Ihr Vater mustert sie ernst, dann nickt er.

Nura hat die große Traurigkeit, da bin ich mir jetzt sicher. Sie will sterben - und wenn jetzt keiner für sie da ist wird sie das auch. Sie ist wie meine Mutter - wenn sie aufgibt reißt sie eine ganze kleine Welt mit in den Abgrund.
Wahrscheinlich ist es mit Nuras Wut wie mit meinem Schweigen: Sie macht das um von anderen nicht mehr verletzt werden zu können. Und genau wie ich kann sie damit nicht ohne Hilfe aufhören. Doch eines unterscheidet uns: Sie hat Leute, die da sind. Sie hat ihren Vater. Ich habe keinen. Ich bin alleine. Der einzige, der mich vielleicht ernst nimmt, ist Nura.
Tolle Zukunftsaussichten, nicht? Nur ein einziger Mensch auf der ganzen, Welt, der versucht dich zu verstehen. Keiner glaubt mehr so richtig, dass es für dich eine Zukunft geben könnte. Und sobald du entgegen jeglicher Wahrscheinlichkeit Fortschritte machst, musst du sterben. weil dein Arzt Angst hat, dass alle die Wahrheit über ihn erfahren.

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