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Keine von Nuras Freundinnen kam. Niemand kam. Den ganzen Tag lang nicht. Ich kann ihr ansehen, wie sehr sie das verletzt.
Es ist eine Sache, zu sagen, dass keiner zu Besuch kommt. Wenn wirklich keiner kommt, ist es was ganz anderes. So etwas macht einen fertig. Zu wissen, dass bei jedem anderen die Eltern vor der Tür stehen, die Tanten, die Freunde - nur bei dir selbst nicht. Das zerstört einen von Innen.
Ich weiß das, ich habe das schon öfter erlebt als jeder andere hier. Aber für Nura ist das ein komplett neues Feld.
Sie sitzt schon den ganzen Tag lang am Fenster und wartet. Immer, wenn sich Schritte nähern, springt sie auf und läuft zur Tür.
Sie sollte damit aufhören. Das macht es alles nur noch schmerzhafter. Am einfachsten ist es den ganzen Tag über im Zimmer zu bleiben und nicht beim Fenster rauszuschauen. Sonst wird man nur daran erinnert, dass alle anderen heute glücklich sind - nur du sitzt alleine in deinem Zimmer. Es ist einfacher alles um dich herum zu ignorieren.
Um sechs Uhr abends kommt Schwester Agathe mit dem Essen. Ich freue mich schon den ganzen Nachmittag darauf - an unterrichtsfreien Tagen ist das Essen das einzige, auf das ich mich freue.
Nura scheint es ziemlich egal zu sein.
"Hab keinen Hunger!", murmelt sie leise und starrt beim Fenster raus, wo immer noch ein paar Kinder mit ihren Eltern lachen.
Agathe runzelt besorgt die Stirn.
"Alles in Ordnung?", fragt sie schließlich vorsichtig.
"Ja, natürlich!", bitter lacht Nura auf, "Alles bestens!"
"Nura, was ist los? Gab es Probleme mit dem Besuch?"
"Welcher Besuch?"
Agathe versteht, ihre Gesichtszüge werden weich. Sie musst in ihrem Leben wahrscheinlich schon unendlich viele Kinder wie Nura trösten.
"Ich verstehe...willst du darüber reden?", fragt sie und legt Nura tröstend die Hand auf den Rücken.
Sie schüttelt sie ab.
"Lass mich einfach!", zischt sie.
"Es ist in Ordnung, wenn du sauer bist. Du hattest einen harten Tag", versucht Schwester Agathe weiterhin meine Zimmergenossin zu beruhigen.
"Tu nicht so, als würdest du dich auch nur im Geringsten für mich interessieren!", schreit Nura sie an, "Nicht mal meinem Vater bin ich wichtig genug, dass er hier aufkreuzt! Ihr alle interessiert euch doch einen Scheißdreck für mich!"
Ihre Worte rasen wie Stromschläge durch meinen Körper.
Das stimmt nicht Nura! Hör auf damit! Ich... ich interessiere mich doch für dich! Du bist mir wichtig!
"Ich will sterben!", flüstert Nura, so leise, dass ich mir nicht mal sicher bin, ob sie überhaupt was gesagt hat.
Schwester Agathe fehlen die Worte. Sie klappt den Mund auf und zu, wie ein Fisch.
Von meinem Stuhl aus kann ich Nuras Hand ohne Probleme erreichen. Ich realisiere gar nicht richtig, was ich da mache. Plötzlich bewegen sich meine Finger, dann mein Arm. Und ohne, dass ich es verhindern könnte, landet meine Hand auf ihrer.
Sie bleibt nicht lange dort liegen. Ein paar Sekunden vielleicht. Aber diese paar Sekunden reichen, um meine Welt aus den Angeln zu heben. Und zwar für immer. Eine willkürliche Bewegung, die dazu dient zu anderen Menschen Kontakt aufzunehmen - nach so vielen Jahren.
Nuras Hand ist warm und weich. Sie hat feine Härchen auf dem Handrücken. Die Haut über den Stellen, an denen die Hand zu einzelnen Fingern wird, fühlt sich leicht rau an. Ob sich meine Hand wohl auch so anfühlt?
Ich sauge diese Berührung in mich auf wie ein Ertrinkender Luft. Jedes noch so kleine Detail brennt sich in mein Gedächtnis ein. Wie sich ihre Muskeln anspannen, als sie bemerkt, dass jemand ihre Hand hält. Reflexartig zieht sie ihre Hand ein kleines Stückchen weg, erst als sie bemerkt, dass ich das bin, hält sie ihre Hand still. Sie scheint Angst zu haben, dass sie mich verscheucht. So, als wäre ich ein wildes Tier. Ein Reh vielleicht, oder eine streunende Katze.
Doch in meinem Leben dauert das Schöne nie länger als ein paar Sekunden. Und mein Körper ist ein mieser Betrüger. Denn für meinen Kopf sind Berührungen böse, egal ob ich sie will oder nicht. Der Schutzwall, den ich um mich herum errichtet habe, hat für ein paar Sekunden die Kontrolle verloren - doch jetzt ist er wieder da und meine Hand zuckt weg.
"Muna...das...das war unglaublich!", flüstert Agathe ergriffen, "So viele Jahre und jetzt plötzlich..."
Sie kommt nicht dazu den Satz zu beenden, denn auf dem Flur nähern sich schnelle Schritte und lautes Diskutieren.
"Bitte, ich will zu meiner Tochter!"
"Bitte gehen Sie! Die offizielle Besucherzeit ist für heute vorbei. Sie können morgen wiederkommen!"
"Wenn ich heute nicht komme ist es zu spät. Das verzeiht sie mir nie! Bitte, ich durfte mein Mädchen schon seit drei Jahren nicht mehr sehen!"
"Ich muss sie trotzdem wegschicken. Entweder Sie gehen freiwillig, oder ich muss die Polizei verständigen."
"Bitte, geben sie mir nur drei Minuten mit ihr!"
Nura springt auf und hechtet zur Tür. Dass sie dabei ein Glas umwirft und sie Schwester Agathe im Vorbeilaufen den Ellenbogen in die Rippen rammt, bekommt sie gar nicht mit.
Nervös stößt sie die Tür auf. Wie erstarrt bleibt sie stehen, eine Hand immer noch am Türrahmen.
"Papa!", flüstert sie kaum hörbar.
Der Mann im Flur starrt sie einfach nur an. Eine gefühlte Ewigkeit stehen sie einfach nur da. So, als wüsste keiner von ihnen, was jetzt zu tun ist.
Sie lösen sich gleichzeitig aus ihrer Starre. Die wenigen Schritte zwischen ihnen sind innerhalb einer Millisekunde überwunden und zum ersten Mal seit über drei Jahren liegen sich Vater und Tochter endlich wieder in den Armen.
Nura krallt sich an seinem Arm fest, als hätte sie Angst, dass sich ihr Papa plötzlich in Luft auflöst.
"Mein kleines Mädchen!", brummt der Mann, "Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe. Nura antwortet nicht. Sie hat die Augen geschlossen und zitter leicht. Ich glaube, sie weint. Auch wenn sie dabei lächelt.
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