50 - Epilog (2)

Am frühen Abend als sich die Sonne langsam hinter den Bäumen zu senken begann, breitete sich der Duft von Wacholderbeeren, Lorbeer, Nelken und schwarzem Pfeffer über beiden Seiten der Palisade aus. Eddo, der einst die Männer der Kaserne bekochte, bis ihm ein Unfall das rechte Bein kostete, bereitete in einem riesigen schwarzen Kessel, über einem munter knisternden Feuerchen, einen Reheintopf zu. Meist gab es für sie, die entbehrlichen Soldaten der Hauptstadt, Brot und harten Käse, Haferschleim oder getrocknete Würste aus Klupingen zu essen. Nicht nur Grille, sondern auch Eddo ließ daher gerne seine Beziehungen in die nahegelegene Stadt spielen. Der allgegenwärtige Geruch nach Essen weckte schließlich auch den letzten Schläfer, der noch unter den Füßen seiner Kameraden, in den Unterkünften direkt an der Palisade, geschlummert hatte. Lieblose, aber stabile Holzverschläge, in denen sich der Muff von Jahrzehnten eingenistet hatte. Auch Marcos stieg, über eine der Leitern, von dem Wehrgang herab, um sich eine Holzschale des Eintopfs zu holen. Er aß allein, abseits der anderen, und trank dazu das Wasser aus seinem Schlauch. Genauso gut hätte es Pisse sein können. Marcos Gutthrunk hatte geglaubt, er habe sein Verlangen besiegt und müsse nur stark bleiben. Stark bleiben. Solche Worte waren wie der Duft, den Eddos Reheintopf verströmte. Sie bescherten einem ein wohliges und warmes Gefühl, doch am Ende wehte der Wind sie davon und was blieb, war Kälte.

„Sie haben gelächelt. Meine Liebsten waren glücklich gewesen. Zum ersten Mal haben sie mich nicht verflucht", rief er sich ins Gedächtnis. Das wollte er nicht aufs Spiel setzen. Er war kein Spieler mehr.

Nun, da die Schläfer wach und ausgeruht waren, würden diese, bis in den Morgen hinein, ihre Wache antreten. Marcos und seine Kameraden konnten sich daher endlich zur Ruhe begeben, ehe sich ihr ereignisloser Tag von neuem wiederholen würde – wieder und wieder, wie es nun mal ihre verdammte Pflicht war. Vor einem Jahr noch wäre er mit der Regentin in den Krieg gezogen, hätte die Chance auf Ruhm und Ehre gehabt. Als Held wäre er dann zu seinen Liebsten zurückgekehrt. Heute hingegen versuchte er seine eigene Schande zu tilgen. Wie tief war er nur gefallen und wie oft hatte er sich genau diese Frage bereits gestellt, seit er hier oben vor sich hinsiechte?

„Wer da?", hörte Marcos lautes Geschnatter und aufgebrachte Reaktionen von oben auf den Wehrgängen. Rasch erklomm er eine der Leitern und warf neugierig einen Blick über den Rand der angespitzten Baumstämme, hinunter auf den gut zehn Meter breiten Pfad, der sich aus dem riesigen Spalt im Felsen herausschlängelte. Der Eingang, den sie allesamt bewachten, war hoch und breit genug, dass man problemlos das korkun'sche Riesenfass hätte hindurchrollen können. Er führte hinab in jene groteske Welt, in der die Barbaren und Wilden lebten, die einst so viel Unheil über die Mittlande gebracht hatten. Männer der Ost- wie auch der gegenüberliegenden Westseite, hatten reihenweise Pfeile auf ihre Bögen aufgelegt und visierten damit das dunkle Loch an, aus dem jenes ratternde Geräusch entsprang, welches Schuld an dem gegenwärtigen Aufruhr hatte.

Ein dürres, abgemagertes Kerlchen, welches sich ihnen bald zeigte, entpuppte sich als der Verursacher jenes Lärms. Mit all ihrer Kraft, die sie aufbringen konnte, zog die grauhäutige Gestalt einen viel zu großen Karren hinter sich her. Vermutlich hatte diesen einst ein Esel oder ein kleines Pferd gezogen, möglicherweise gar ein Ochse.

„Ein Händler? Ich hab' hier oben noch nie 'nen Händler gesehen", bemerkte Janke erstaunt, so als wäre es überhaupt das erste Mal, dass er einen Mann mitsamt einem verfluchten Karren sah.

„Das ist einer dieser Wilden. Warum erschießt keiner den Wilden?", gackerte Swerin.

„Keinen Schritt weiter. Gib dich zu erkennen", rief hingegen der dicke Delwet von der anderen Seite dem Mann zu und ließ das aufkeimende Murmeln und Gerede sogleich wieder verstummen.

Der Mann vor dem Eingang hob eingeschüchtert wie schützend seine Arme vors Gesicht und ging murmelnd auf seine Knie hernieder. Selbst von hier oben konnte Marcos dessen Angst erkennen.

„Ich kann dich nicht hören. Niemand kann das. Sag uns deinen Namen oder wir werden dich erschießen", drohte Delwet erneut. Dieser verfügte über die Stimmgewalt eines guten Hauptmannes, weshalb sein gerufenes Wort gewiss einschüchternd wirkte.

„W..W..Wenkat", drang die kaum hörbare Antwort schließlich an Marcos' Ohren.

„Wenkat, sein Name ist Wenkat", wiederholte er daher für alle hörbar.

„Senkt eure Bögen. Er ist ein Händler", bellte nun Bodog aus Willenfurt und die Bogenschützen leisteten ihm folge. Der alte Westländische gehörte einst zu den führenden Figuren der Stadtwache der Hafenstadt und war demnach zum Ranghöchsten gewählt worden. Warum er hier gelandet war, darüber kursierten viele Gerüchte, die Wahrheit blieb jedoch bis heute unbekannt.

Mit einer entsprechenden Handbewegung scharrte Bodog eine Gruppe von Männern um sich, darunter auch Marcos und Eukaris, und rief weitere der Westseite aus, um sich hinunter auf den Pfad zu begeben und Wenkat entgegenzutreten. Normalerweise hatten die Eingangswächter Händler stets durchgewunken, wie Marcos wusste, doch der erste Händler seit Monaten, nachdem der schwarze Palu den Zutritt in die Zweitwelt verboten hatte, stellte eine klare Ausnahmesituation dar.

Mit ihnen stiegen auch Würfel-Hanz, der flinke Fliege, Frenk aus dem grauen Wald, Bullenhorn, Mak Schweinebauch und Haris Goldlocke die frisch herabgelassenen Strickleitern hinab. Sie alle waren Männer, über die man zumindest einmal gehört hatte, dass sie mit dem Schwert umzugehen wussten. Marcos Gutthrunk konnte indes gar nicht sagen, ob er überhaupt noch über jenes alte Wissen verfügte, welches ihn für diesen Abstieg prädestinierte. Er hatte schon lange kein Schwert mehr geschwungen.

Aus irgendeinem Grund beschlich ihn ein ungutes Gefühl, als sie sich dem armen Wurm langsam näherten. Der Pfad, den er und seine Kameraden Tag und Nacht im Auge behielten, war in einem fleckigen Teppichmuster mit Unkraut, wildem Mohn und Löwenzahn, Giersch und Hahnenfuß überwuchert, welches an manchen Stellen gar kniehoch wuchs. Als die Wägen noch rollten, war Wildwuchs kein großes Problem gewesen. Die vielerlei Spuren der Wagenräder, die hier tiefe Furchen hinterlassen hatten, waren mittlerweile jedoch gänzlich vom Grün überdeckt worden. Wenn man nicht aufpasste, konnte man also durchaus leicht ins Stolpern geraten, sich den Fuß verstauchen oder gar einen Knöchel brechen. Mit ein Grund, weshalb die Wächter trotz allem nur selten mit ihren Sensen zu Werke gingen. Furchteinflößend wirkten hier unten jedoch nicht die Pflanzen, sondern die meterhohen Pfahlbauwände, die ihre kleine Gruppe zu beider Seiten umgab. Unzählige Köpfe lugten dahinter hervor und spähten auf sie herab. Fünfzig endlos erscheinende Meter musste man vom Eingang im Fels zurücklegen, um die Palisade und ihre Wächter hinter sich zu lassen. Im schlimmsten Falle unter Pfeil- und Steinbeschuss von oben. Für einen einzelnen Mann oder gar eine kleine Gruppe war Letzteres schier unmöglich. Sollte dennoch eine größere Anzahl Wilder einfallen wollen, so war da immer noch das schwere Fallgitter am Ende des Pfades, welches die Wächter seit dem Bann grundsätzlich geschlossen hielten. Wer auch immer in böser Absicht kommen mochte, er würde sterben.

„Was denke ich da", rief Marcos sich ins Gedächtnis, „niemand wird kommen. Zu Recht wird niemand kommen. Hier, inzwischen der Palisaden, da wartet nur der Tod auf einen."

Als sie näherkamen warf sich Wenkat weinend vor ihnen in den Staub. Seine Tränen transportierten Erleichterung, wie Marcos spürte.

Die Lumpen die er am Leibe trug waren schmutzig und durchnässt, seine Haare verfilzt und an einigen Stellen vermutlich ausgerissen.

„Hoch mit dir", schnappte Haris Goldlocke nach dessen Kragen und zog den vermeintlichen Händler, mit dem Namen Wenkat, auf die Beine. Kollektiv wichen die Männer zurück. Nicht nur, dass der Mann wie eine Leiche aussah, er stank auch wie eine. Dass er sich dann auch noch einnässte, machte es nicht besser.

„Wir sollten ihm den Gnadenstoß versetzen. Nicht, dass er uns noch eine Barbaren-Seuche einschleppt", wandte sich der alte Eukaris angewidert ab.

„N..nein, nein, das dürft ihr nicht", verteidigte sich der fremde Mann zitternd, die Arme erneut schützend vor sein Gesicht haltend, während er seinerseits so weit vor den Eingangswächtern zurückwich, wie es sein eigener Karren zuließ.

„Wir verpassen hier niemandem den Gnadenstoß", beschloss Bodog aus Willenfurt.

Eukaris spuckte nur aus und wandte sich ab. Der alte Wendt konnte wenig mit dessen Autorität anfangen. Als ehemaliger Sohn Venuris' sah er sich selbstredend als etwas Besseres. Marcos Gutthrunk hatte im Gegensatz zu Eukaris noch nie Probleme mit Autoritäten gehabt.

„I..i..ich h..habe W..W..Wein für euch. Wein für a..a..alle Männer hier. Ich sch..schenke ihn euch, wenn ihr m..mir n..nichts tut", stotterte Wenkat, ängstlich an seinem Karren kauernd. Der arme Kerl hätte einem beinahe leidtun können, wenn er nicht gerade dieses verfluchte Wort in sein verdammtes Maul genommen hätte. Wein! Wein! Wein!

Überall hin schien dieses Gesöff Marcos Gutthrunk zu verfolgen.

„Das ist mal ein Tauschgeschäft, Händler", frohlockte hingegen Mak Schweinebauch.

„Was für ein Wein ist es?", wollte Hanz Holzschwanz sofort wissen.

„Hoffentlich keine ostländische Pisse", teilte Bullenhorn seine Bedenken.

„Haltet die Schnauze, alle Mann", brüllte Bodog stattdessen in ihre Runde, „Fliege, Frenk, ihr helft dieser armen Seele auf die andere Seite. Der Rest von euch zieht den Karren durch das Tor."

Sie machten sich also ans Werk.

„Da lutsch' mir die Jungfrau doch den Schwanz", flüsterte Eukaris Marcos zu und kniff ihm dabei schmerzhaft in den Oberarm, „in solchen Momenten liebe ich unseren neuen Posten."

Zwei große Fässer, randvoll mit dem begehrten, goldenen Pech, zogen die sechs Männer schließlich, unter großem Beifall, durch das Fallgitter. Eines der Fässer rollten sie auf die West-, das andere auf die Ostseite der Palisade. Bevor Marcos' Seite mit dem Anzapfen begann, brachten sie Wenkat Wasser und frische Kleidung. Sein Körper war geschunden. Verheilte Schnittwunden übersäten diesen, ebenso wie dunkle violette, gelbe und blaue Flecken. Der kleine Finger seiner linken Hand fehlte und einige seiner Zähne stellten nur noch ruinöse Stummel dar. Was hatten diese Barbaren dem armen Tropf nur angetan?

„S..Sie h..haben mich ge..gefangen und gef..f..foltert. H..haben m..mich für einen M..M..Mörder gehalten", erklärte er den Männern um Bodog. Noch immer war der Mann halb wirr und krank vor Angst, zitterte erbärmlich am ganzen Leib und zuckte bei jeder raschen Bewegung, die irgendjemand um ihn herum tat, verängstigt zusammen. Wie konnte er in seinem Zustand nur den verfluchten Karren mit an die Oberfläche bringen? Eine Frage, die sich offenbar nur Marcos Gutthrunk stellte.

„Und bist du einer?", fragte Bodog ihn stattdessen.

„W..was?", kam die verdutzte Antwort zurück.

„Ein Mörder? Sind die Anschuldigungen wahr?"

„Du glaubst doch nicht ernsthaft", schaltete sich Eukaris ein, „dass diese Tiere aus der Zweitwelt die Wahrheit sprechen würden? Und selbst wenn, wer oder was gibt ihnen das Recht, einen der unsrigen anzuklagen? Einen der ihren zu erschlagen, ist so, als würde ich eine streunende Katze erschlagen."

„I..ich bin kein...ich w..wollte n..nie. S..sie...", stotterte das Männlein aufgebracht, ehe er in Tränen ausbrach. Bodog schien, trotz grimmiger Miene, mehr oder minder überzeugt.

„Morgen früh kommt der Versorgungstross aus Klupingen hier rauf", wandte er sich wieder an Wenkat „die werden dich mitnehmen. Die Nacht kannst du in unserer Unterkunft verbringen. Wir werden hier aber ein Auge auf dich haben, Händler. Solltest du irgendwelche Dummheiten geplant haben, so schlag sie dir unbedingt aus dem Kopf. Andernfalls wirst du erleben, wie gastfreundlich wir normalerweise zu denen sind, die als Mörder angeklagt wurden."

Der verängstigte Mann nickte nur eingeschüchtert und so verbrachten sie ihn schließlich in die Unterkünfte unterhalb des Wehrganges und legten ihn dort in eines der freien Betten, damit der arme Kerl endlich zur dringend nötigen Ruhe kommen konnte. Kaum das Grille ihm, als Einschlafhilfe, etwas von seinem Weinschlauch abgeben wollte, verlor der Mann noch einmal jene Ruhe, schrie und schlug wild um sich.

„Keinen Wein, keinen Wein", rief er unaufhörlich. Drei Mann brauchte es anschließend, um ihn wieder zu beruhigen, bis er schließlich so erschöpft war, dass er von allein in den Schlaf glitt.

„Wenn er keinen Roten mag, hätte er es mir nur sagen müssen", konstatierte Grille, beinahe persönlich beleidigt, und gönnte sich schließlich den Rest aus seinem eigenen Schlauch.

Während ihr Gast endlich zur Ruhe gefunden hatte, war bei den Eingangswächtern jedoch an Schlaf nicht zu denken. Auf beiden Seiten der Palisade machte man sich über die großen Weinfässer Wenkats her. Golden floss der edle Tropfen in ihre Becher und wenn Marcos seinen Kameraden Glauben schenken durfte, so war auch dessen Geschmack eine wahre Wonne.
„Wenn man Gold trinken könnte, würde es wohl genau so schmecken", schwärmte Gallo ihm vor, darauf hoffend, dass Marcos seine Hand nach einem der Becher und Krüge ausstrecken würde. Insgeheim wollten sie doch alle sehen, über welche Fertigkeiten der ‚größte Trinker der Hauptstadt' am Krug verfügte. Zu gerne hätte er es ihnen allen gezeigt, ihnen gezeigt, dass er, Marcos Gutthrunk, ein wahrer Künstler war. Der Nektar, den sie tranken, war jedoch in Wahrheit Gift, welches das Lächeln seiner Liebsten wieder mit sich reißen würde, wie es die tobenden Fluten eines wilden Meeres getan hätten. Das durfte er nicht zulassen.

Während die Sonne nur noch ein rotes Glimmen hinter den Gipfeln des Klupinggebirges darstellte und sich die ersten Fackeln und Feuerkörbe zu den hauptsächlichen Lichtquellen wandelten, prostete man sich derweil, über den dunklen Pfad in ihrer Mitte hinweg, gegenseitig zu. Die Wächter stimmten gemeinsame Gesänge an und feierten fröhlich und ausgelassen zu den alten Liedern, in denen hauptsächlich die üppige Speise und der edle Trank sowie das schöne Leben besungen wurden. Es gab viel zu wenige dieser Momente hier oben in den Klupingbergen, weshalb Marcos den Männern nicht die Freude damit verderben wollte, mit einer miesgelaunten Fratze durch ihre Reihen zu staksen. Außerdem war ihm nicht nach Singen zumute. Es bereitete ihm Kopfschmerzen. Gemächlich stieg er von den Wehrgängen hinab und wollte sich gerade zur Ruhe legen, als er Zitze an Eddos schwach glimmender Feuerstelle stehen sah. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top