50 - Epilog (1)
Früher, da hätte Marcos Gutthrunk sich ebenfalls einen Schluck aus dem Weinschlauch gegönnt. Grille hatte einen edlen roten Korkun'schen von einem Bekannten aus Klupingen bekommen und reichte diesen gerade unter den Männern der Ostseite herum.
„Gib dir einen Ruck, Marcos. Einen Schluck um der alten Zeiten willen", hatte Eukaris Wendt ihn aufgefordert und ihm dabei mit der flachen Hand auf den Rücken geschlagen.
Marcos Gutthrunk lehnte dankend ab.
Mit dem Wein ließe er nur wieder den Damm brechen, der die Trauer in ihm zurückhielt. Die Trauer über den Tod seiner Liebsten und ihrem gemeinsamen Mädchen. Den Namen Lena hatten sie ihr gegeben. Lena, so wie die Tochter des schwarzen Palus.
Einst, zu der Zeit als sie noch gar nicht unter den Lebenden weilte, war Marcos Gutthrunk ein hervorragender Schwertkämpfer gewesen.
„Kein Kämpfer, ein Künstler", hatte sein Ausbilder Derwan Dell stets einen Lobgesang auf ihn angestimmt. Seine Künste hatten Marcos Gutthrunk schließlich einen Platz im engen Kreise Mendo Warignas, bei den Söhnen Venuris', beschert. Hauptmann Warigna, der Mörder des alten Perem Penthuys, wenn er den Gerüchten glauben durfte. Sicher war Mendo ein brutaler Kämpfer, ein Ungeheuer, wild und stark, wenn er ein Schwert in Händen hielt. So wild und so stark, dass nicht einmal der Künstler Marcos Gutthrunk ihm je gewachsen war. Dennoch mochte er nicht glauben, dass der ehemalige Hauptmann den alten Perem auf dem Gewissen hatte. Das sah ihm nicht ähnlich.
„Marcos, mach nicht so ein langes Gesicht. Trink einen Schluck mit uns", rief der einäugige Würfel-Hanz ihm zu. Hanz, der gerne auch mal Schulden-Hanz oder, hinter vorgehaltener Hand auch, ‚Hanz Holzschwanz' genannt wurde. Dieser war wegen seiner Spielschulden hier gelandet. Wenn er „hier" sagte, dann meinte Marcos Gutthrunk die Klupingberge. „Hier" auf der Palisade, die den Eingang in die Zweitwelt säumte, wo die Eingangswächter darüber wachten, dass die Wilden aus dem Nebel nicht ein zweites Massaker in Venuas Geschichte anrichteten. „Hier", das war bei den traurigsten aller Gestalten, die der schwarze Hort mit den Jahren ausgespuckt hatte. Taugenichtse, Säufer, Verkrüppelte, Entehrte, Schuldner. Alle zusammen hatten sie einst einen unwiderruflichen Eid auf den Regenten abgelegt und in Venuris war man der Meinung, dass sie ihm hier oben am besten dienten. Ihr, nicht ihm. Des schwarzen Palus Tochter dienten sie nun. Ihre Regentschaft hatte Marcos Gutthrunk im Rausch des Weines erlebt. Balsam für die schmerzende Seele, Linderung seiner inneren Leiden, so hatte er damals geglaubt. Heute wusste er es besser.
Zuerst hatte man ihn bei den Söhnen durch irgendeinen Jungspund, einen verwöhnten, reichen Bengel, ersetzt, einen den sie ebenfalls als Künstler betitelten. Noch mehr Schmerz, den er mit noch mehr Wein behandeln musste. Marcos Gutthrunk wurde so wieder zu einem Mauerläufer.
„Für Patrouillen in den Straßen ist er mittlerweile gänzlich ungeeignet", hatte er Huuke Zigel sagen gehört. Diese Worte hatten ihn beleidigt, ihn verletzt, ihm noch mehr Seelenpein beschert.
Bald darauf holten sie ihn auch von der Stadtmauer herunter, stellten ihn vor einen Pferdestall und gaben ihm einen Speer in die Hand. Marcos Gutthrunk besaß kaum mehr eine klare Erinnerung an jene Zeit als er mit den Stallburschen trank und bei den Pferden schlief. Einzig die Nacht, in der man ihn aufweckte war ihm halbwegs vor Augen geblieben. Als er träge seine schweren, müden Lider aufschlug und er die Flammen erblickte, die den Stall aufzufressen drohten, weil er seine Laterne umgeworfen und diese das trockene Stroh in Brand gesetzt hatte. Zwölf Pferde starben in jener Nacht und über die Hälfte der Stallungen waren binnen kürzester Zeit unbrauchbar geworden.
Die Reue kam erst später, nach dem neuerlichen Durst und den anschließenden Kopfschmerzen, gegen die er keinen Konter mehr trinken konnte.
„Uns bleibt keine andere Wahl, als dich zu den Eingangswächtern zu schicken", hatte Henslo Dreyman ihm höchstpersönlich mitgeteilt.
„Du warst einmal eine große Hoffnung, Marcos. Ein Mann, der für Führungsaufgaben gemacht wurde. Leider sind diese Zeiten vorbei. Venuris hat keinerlei Verwendung mehr für dich und ich auch nicht. Welch ein Glück, dass der alte Derwan dies nicht mehr miterleben muss. Was sollen nur deine Frau und deine Tochter von dir denken, wenn sie aus der Glückseligkeit auf dich herabschauen? Das ist die Frage, die du dir stellen solltest."
Oh, und er hatte sich diese Frage gestellt. Hunderte Male. Wie ein rastloser Geist verfolgte sie ihn bis hinauf in die Klupingberge. Auf dem Weg dorthin hatte er es dann zum ersten Mal geschafft. Als sie unterwegs in einem Gasthaus nächtigten, hatte er in dem kleinen Schankraum das Bier und den Wein verweigert und war stattdessen schlafen gegangen. Nie zuvor in seinem Leben hatte Marcos Gutthrunk eine schrecklichere Nacht als diese erlebt. Dröhnende Kopfschmerzen, Schweißausbrüche, zitternde Glieder. Von einer Seite auf die andere hatte er sich gewälzt und wenn er denn kurz einmal einschlief, träumte er davon, dass er doch in dem Schankraum geblieben war. In seinem Traum schmeckte er die liebliche, rote Süße, doch als er wieder erwachte war da nur seine pelzige Zunge und das verfluchte, schale Wasser in dem Krug neben seinem Bett. Am liebsten wäre er in dieser Nacht die Treppe nach unten gegangen und hätte sich zu Eukaris, Janke, Gallo, Swerin und den Brüdern Tym und Thy gesellt. Doch was hätten seine Frau und seine Tochter dann von ihm gedacht?
„Marcos, spiel uns nichts vor. Du bist der größte Trinker, den die verdammte Hauptstadt in den letzten Jahren gesehen hat. Nimm einen Schluck oder willst du mich etwa beleidigen?", bellte Grille so laut, dass jeder ihn hören konnte. Beinahe die gesamte Ostseite brach daraufhin in schallendes Gelächter aus. Dreiundfünfzig der fünfundfünfzig Männer auf dem fünfzig Meter langen Wehrgang der fünf Meter hohen Palisadenwand aus dicken Baumstämmen und schweren, schwarzen Balken und Dielen errichtet. Marcos Gutthrunk und Zitze lachten nicht.
„Macht euch nur darüber lustig", dachte sich Marcos, „ich könnte vermutlich auch jetzt noch jeden einzelnen von euch unter den Tisch saufen."
In solchen Momenten suchte er die Gesellschaft von Zitze. Ein etwas wunderlicher Kauz, das musste selbst Marcos einsehen.
Der gebürtige Klupinger hatte schon weit mehr als sechzig Namenstage erlebt und vor ein paar Jahren gar Venuris' Angebot ausgeschlagen, sich doch in den wohlverdienten Ruhestand zu begeben. Er schmückte sein ergrautes Haupt stets mit einem Kranz aus geflochtenen Zweigen, in welchen er Vogelfedern steckte. Seinen langen, grauen Bart hatte er seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr gestutzt. Dieser war also älter als Marcos selbst und ging Zitze bis über den Bauchnabel.
„Ihr Lachen ist der Dolch, der dich schneidet", erkannte Zitze richtig. Er drückte sich gerne hochtrabend aus, was nicht bei jedermann Anklang fand. Dadurch, dass er jedoch einer der wenigen Eingangswächter war, die das Lesen und Schreiben beherrschten und allgemein klüger und wortgewandter daherkam als der restliche Abschaum unter ihnen, genoss er den Respekt, der ihm zustand.
„Meine Kameraden und Brüder aus früheren Tagen besaßen mehr Ehre und Verstand in ihrem kleinen Zeh als dieser Haufen, der heute hier an meiner Seite steht. Du scheinst eine rühmliche Ausnahme zu sein", hatte Zitze dem Neuankömmling Marcos Gutthrunk in seiner ersten Nacht, während ihres ersten Gespräches hier oben erzählt. Seitdem waren viele weitere Gespräche hinzugekommen.
„Ich habe heute Nacht wieder von meinen beiden Liebsten geträumt", erzählte er Zitze, der jedem seiner Kameraden stete Aufmerksamkeit und zwei offene Ohren schenkte. Interessiert lauschte er allen kleinen und großen Problemen und für alles hatte er auch eine Antwort parat, sofern jemand danach verlangte. Daher auch sein Rufname, schließlich war er so etwas wie eine Mutter für sie alle. Manche kannten seinen echten Namen gar nicht oder hatten diesen längst vergessen. So war er nur noch Zitze, der Wunderliche.
„Sie haben gelächelt. Zum ersten Mal habe ich sie wieder lächeln gesehen", fuhr Marcos in seiner Erzählung fort. „Früher haben sie geweint, haben mich angeklagt und mich verflucht, doch gestern, in meinem letzten Traum, da haben sie gelächelt."
Zitze nickte freudig: „Du bist auf dem rechten Pfad, mein Freund. Bewahre dir deine Stärke in diesen Zeiten der Schwäche und deine Freude wird zu dir zurückkehren. Dann musst du nur noch deine Arme öffnen und sie in dein Herz einlassen. Du wirst wieder glücklich werden, Marcos."
Marcos Gutthrunk hatte sich seine Stärke bewahrt, als Grille den Weinschlauch umhergehen ließ und es schien, als behalte der Wunderliche recht mit dem, was er sagte. Das Lächeln seiner Liebsten bestärkte ihn in seinem Tun.
„Du wirkst trübselig", bemerkte Marcos, als er Zitze genauer gemustert hatte. Sicher, manchmal wirkte der Mann so, als interessiere er sich nicht für die Welt um ihn herum, als säßen nur noch Fleisch und Knochen hier oben auf dem Wehrgang, während alles Leben aus ihm gewichen schien. So wenig man Zitze seinen jeweils aktuellen Gemütszustand ansehen konnte, so sehr wirkte er doch heute Vormittag verändert. Den meisten wäre wohl nicht einmal das aufgefallen, doch jenes alte Talent des Marcos Gutthrunk, just derartiges zu erkennen, schlummerte noch immer in ihm.
„Auch ich habe wieder geträumt", erklärte der alte Mann mit seiner säuselnden Stimme. Zitze war in dieser Hinsicht tatsächlich wie ein altes Weib. Allem, was er aus der Traumwelt mit in die Wachwelt nahm, rechnete er eine tiefergehende Bedeutung zu. So auch dieses Mal.
„In dieser Nacht ereilte mich der merkwürdigste Traum seit langer Zeit. Schon den ganzen Tag versuche ich eine Deutung für mich zu finden, doch es scheint als müsse ich für diese Erklärung tiefer als üblich graben."
Er nahm den geflochtenen Kranz von seinem Haupt und prüfte, ob auch noch alle Federn darin steckten: „Ich habe meinem Werk heute morgen vier neue hinzugefügt, nachdem ich zwei verloren habe. Jetzt sind es sieben. Ich kann mir einfach nicht erklären, wann und wo mir die beiden anderen abhandengekommen sind. Eine war schon alt und zerfleddert, deshalb muss ich um sie nicht mehr trauern. Der Verlust jener schönen blauen Feder, die mir einst dieser ostländische Händler geschenkt hat, schmerzt mich jedoch schon sehr, wie ich zugeben muss."
„Ich dachte, wir sprechen über Träume?", warf Marcos ein.
Zitze blickte von seinem Kranz auf und blinzelte ein paar Mal rasch hintereinander, ehe er sich die Zweig-und-Federn-Krone wieder auf den Kopf setzte.
„Ich träumte von fremden, wunderlichen Gestalten", begann er zu erzählen.
„Wunderlicher als du?", dachte sich Marcos, hätte sein Gegenüber jedoch nie derart geschmäht, indem er solch einen Gedanken aussprach.
„In meinem Traum, da war eine Gestalt unter fremden Göttern, die verloren durch ein Labyrinth irrte. Sie trug Gold an ihrem Körper, doch das Gold war falsches Gold. Lug und Betrug.
Da war noch eine andere Gestalt. Ein diffuses Wesen. Glut und Feuer, schwarz und weiß, gut und böse. Von allem alles. Beide tanzten sie schließlich groteske Tänze mit zwei überlebensgroßen Fischen. Und dann war da noch ein silbrig glänzender Samen, der diesen Traum umkreiste. Er transportierte Hoffnung und Licht, doch sein Licht war schwach, angesichts der Dunkelheit, die sich langsam näherte. Zorn war es, der da am Horizont schwelte und sich wie eine gigantische Wolke aufmachte sie alle zu verschlingen. Ich sah einen Vater, der um seinen Sohn weinte, sah einen Mann, der sich aus blauer Asche erhob, einen Schmetterling, der von einer Spinne gefressen wurde. Ich sah einen traurigen Mann, der zum Sterben in den Wald lief. Dann hörte ich ein Flüstern. Nur ein Wort."
„Was für ein Wort?", wollte Marcos wissen, der derweil neugierig zugehört, aber dennoch nichts verstanden hatte.
„Schöpferzorn", zitierte Zitze das vermeintlich Gehörte aus seinem Traum.
„Was soll das bedeuten?", fragte Marcos.
„Ich weiß es nicht, aber ich bin mir sicher, dass damit nicht der eine Gott gemeint war, sondern etwas Altes. Etwas, das älter ist als die Götter, die die Menschen benannt haben."
„Was wenn es einfach nur ein dummer Traum war? Ein Traum, der nichts zu bedeuten hat?"
„Es fühlte sich anders an."
„Wie?"
„Als ob mir jemand genau dies alles zeigen möchte. Im Moment bin ich mir lediglich sicher, dass es mit dem Krieg zwischen Venua und Namun zu tun haben muss. An dem Rest des Rätsels werde ich wohl noch einige Zeit zu tun haben."
Marcos' Zunge fühlte sich trocken an. Warum sollte auch nur irgendjemand einem verfluchten Eingangswächter ein solches Rätsel stellen und dann noch durch einen Traum? Er gab Zitze keine Antwort mehr. Stattdessen dachte Marcos kurz an Grilles Weinschlauch, wusch den Gedanken jedoch rasch beiseite. Stark bleiben! Er nahm stattdessen einen Schluck Wasser. Nahe der Palisade entsprang eine kleine Bergquelle, die die Wächter immerzu mit kühlem Trinkwasser versorgte und deren sanftes Plätschern sie in ruhigen Nächten in den Schlaf wiegte. Wenn sie einen nicht, wie in Marcos ersten Nächten, beinahe in die Verzweiflung trieb. Da klang die Quelle für ihn nämlich noch nach Wein, der sich endlos aus einem riesigen Fass ergoss.
Marcos Gutthrunk verbrachte den restlichen Nachmittag damit sein Schwert zu schleifen und dessen Klinge zu ölen. Nicht, dass er seine Waffe hier oben jemals einsetzen müsste, aber im schwarzen Hort hatte ihn der alte Dell, ein Veteran des Krieges, immer eingeschärft, die Klinge einsatzbereit zu halten. Dabei hatte er sein Schwert, daheim in Venuris, eigentlich schon zu Münzen gemacht. Einen Krug Wein war ihm dieses unnütze Stück damals wert gewesen. Sein Kamerad Rutleff Daber höchstselbst hatte ihm sein Schwert schließlich zurückgekauft und ihn gewarnt, nie wieder eine solche Torheit zu begehen. Nicht, dass Marcos Angst vor der verdammten Hakennase gehabt hätte, doch schaffte er fortan einfach andere Wertsachen aus dem schwarzen Hort, um durch sie seinen Durst zu stillen.
Dasging jedenfalls so lange gut, bis dieser morsche alte Pferdestall in Flammenaufgehen musste.
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