48 - Der Fuhrmann und der Streuner (3)
Süßwiesen lag geschützt inzwischen dreier Hügel, nur etwa einen halben Tag vom Moteem entfernt. Es tat gut, endlich mal wieder mehr als drei Gebäude auf einmal zu sehen, einen Hauch von Stadtleben zu spüren. Natürlich verbarg sich hinter den Hügeln keine echte Stadt, sondern lediglich eine Ansammlung von vielleicht dreißig oder vierzig kleinen, eng beieinander stehenden Gebäuden, die wie Pilze um einen kleinen See herum wuchsen, der in smaragdgrüner Farbe schimmerte. Di fühlte sich beobachtet, als sie über die breite Zugangsstraße einfuhren.
„Die Hügel haben überall Augen. Jemand muss hier ja aufpassen", beruhigte ihn Kune, auch wenn er damit eher das Gegenteil bewirkte. Zügig lenkte sich ihre Aufmerksamkeit jedoch auf den Geruch von gebratenem Fleisch, Zwiebeln und Asche und das laute Stimmengewirr, welches bereits, kaum dass sie die schlammige Hauptstraße befuhren, ihre Nasen und Ohren erreichte.
Wie sie schon bald erfahren mussten, hatten sich die Bewohner Süßwiesens am Ufer ihres Sees eingefunden, um den ersten großen Sieg der venuarischen Armee gebührend zu feiern. Ungewöhnlich viele Frauen befanden sich unter ihnen. Junge, wie alte, von dürr bis dick, schöne und weniger schöne. Die allermeisten von ihnen steckten in bunten Kleidern und trugen seltsam geformte Frisuren. Ihre Gesichter waren bemalt, die Lippen rot wie Blut.
Viele von ihnen wuschelten Di durch die Haare, fassten ihn an Armen und Schultern an oder kicherten schlicht in seiner Gegenwart. Andere wiederum fragten, was er denn hier wolle, er sei ja noch viel zu jung, woraufhin Kune nur lauthals lachend erwiderte, dass er bereits ein Mann und außerdem sein treuer Helfer sei. Das war zumindest eine halbe Lüge, wie Di feststellte.
Sie kämpften sich durch die, in Feierlaune befindliche, Menge. Auf einer Bank, an einem schmalen Holztisch im Schatten eines Apfelbaumes, saß eine weitere Frau. Diese trug kein Kleid, sondern schlichte graue Wolle. Das mausgraue Haar war wild zerzaust und wirkte beinahe ungepflegt. Ihr Gesicht, alt und faltig, trug keinerlei Farbe. Mit ihren knochigen Fingern zerlegte sie gerade ein gebratenes Hühnchen.
„Korkun hat mir dich geschickt?", knurrte das alte Weib den Fuhrmann zur Begrüßung an, ohne ihn wirklich anzublicken.
„Korkun weiß, auf wen er sich verlassen kann, meine liebste Gytta", gab Kune zurück, in einem derart galanten Ton, wie Di ihn noch nie zuvor von dem alten Mann gehört hatte.
„Wen hast du da mitgebracht?"
Das alte Weib starrte Di misstrauisch aus ihren miesgelaunten, eingefallenen Augen an.
„Ich bin Dieke", antwortete er wahrheitsgemäß, vermied es aber seinen Familiennamen, den er seit Venuris nicht mehr in den Mund genommen hatte, zu erwähnen.
„Dieke? Einer meiner Brüder war auch ein Dieke. Nur verfault der schon seit Jahren in seinem Grab. Und genau genommen war er auch nie so schmächtig wie du."
Darauf wusste Di keine Antwort.
„Setzt euch", forderte Gytta beide auf und so taten sie, wie geheißen und nahmen ihr gegenüber Platz. „Ich muss sagen", setzte sie schmatzend an und biss ein weiteres Mal von der Keule ab, „das Mädchen des schwarzen Palu überrascht mich. Eine Kriegerin ist sie. Mit dem Schwert an der Spitze der venuarischen Armee. Dabei soll sie schöner sein, als jede meiner Frauen. Überhaupt erzählt man sich, dass sie das schönste Mädel seit den Lebzeiten der silbernen Jungfrau sei. Je schöner sie sind, desto mehr Münzen kannst du mit ihnen verdienen. Stell dir mal vor, Kune, alter Streuner, so eine würde zu meinen Hühnern zählen."
Sie knurrte wie eine angriffslustige Straßenkatze, bis Di erkannte, dass es wohl ein Kichern sein sollte.
„Meine Route würde mich sicher öfter in die süßen Wiesen ziehen", lachte der Alte.
„Ist es euch denn auch bereits zu Ohren gekommen? Die Nachricht ist schon vor über einer Woche hier eingetroffen. Millots Erbe, das Regentenmädchen und ihr handzahmes, ostländisches Hündchen haben doch tatsächlich die Feuerreiter niedergeworfen. Meine Hühner feiern dies bereits den siebten Tag in Folge."
„Die Feuerreiter?"
Di hielt dies zunächst für einen schlechten Scherz. Jedes Kind kannte die Geschichten über die fliegenden Feuerreiter. Die gefürchtetsten Krieger Namuns.
„Köter sind Köter", winkte Gytta ab, „viel mehr Sorgen bereiten mir meine Geschäfte. Krieg bedeutet für mich weniger Münzen in der Tasche."
Sie deutete hinüber zu den feiernden Frauen: „Noch sind sie guter Laune und wohlgenährt, aber je länger dieses unsinnige Scharmützel im Osten dauert, desto mehr werden sie von ihren wohlgeformten Hüften und Schenkeln einbüßen. Nicht alle von ihnen werden den Herbst inzwischen der Hügel erleben. Ich kann sie gar nicht alle durchfüttern."
„Der Krieg ist nicht unsinnig", warf Di ein.
„Natürlich ist dieser Krieg unsinnig", fauchte das alte Weib ihn an, „alle Kriege sind unsinnig. Was hat der Krieg des roten Palu dem einfachen Volk eingebracht? Blut und Tränen. Dieses Mal wird es nicht anders sein. Hunderte, wenn nicht tausende unserer Männer werden fallen und zuhause ihre Frauen, Kinder und Verwandte in Trauer zurücklassen. Für ein wenig eingebildeten Ruhm. In Wahrheit jedoch für die Eitelkeiten der Mächtigen."
Sie warf den letzten Knochen den Hunden zu, die zwischen den Bänken und Tischen umherstreiften und darauf hofften, dass etwas für sie abfallen würde.
„Der rote Palu mag den Glauben an den alten Gott geschwächt haben, aber er wird zurückkehren, da bin ich mir sicher. Und der Eine wird zornig sein. Ein Gast fragte mich vor nicht allzu langer Zeit: Sind wir nicht besser, als die, denen wir vorwerfen unsere Feinde zu sein, wenn wir deren Schandtaten wiederholen? Genau das tun wir gerade. Wir wiederholen die Schandtaten der Köter", sagte sie und wischte sich dabei die Hände an ihrer Hose sauber. Di war sich sicher, dies schon einmal gehört zu haben, aber wusste er nicht wo und nicht wann.
Obwohl sie über weniger Münzen klagte, spendierte sie ihren beiden Gästen je ein frisch gebratenes Huhn. Kune durfte von dem Wein kosten, während Di sich mit einem süßen, warmen Apfelsaft begnügte und wann immer er Nachschlag mochte, so musste er es nur sagen. Zum ersten Mal seit längerer Zeit aß er sich wieder richtig satt. So sehr, dass sein Bauch schmerzte. Kune hingegen genoss die Gesellschaft der Frauen und Mädchen, die abwechselnd auf seinem Schoß und in seinen Armen Platz nahmen. Ihre ‚Hühner' hatte Gytta sie genannt, doch trugen sie allesamt Namen, die man eher nicht mit dem gackernden Federvieh in Verbindung brächte. Ein junges, blondes Mädchen nannten sie etwa Tulpe. Eine Rothaarige mit bleicher Haut riefen sie Mohnblume und eine ältere, braungebrannte Ostländische hörte auf den Namen Nachtschatten. In Kunes rechtem Arm schmiegte sich Apfelbäckchen an dessen Brust, seinen linken Arm hatte er dagegen um Blaue Rose geschwungen. Di hatte den Fuhrmann nie zuvor glücklicher erlebt als an diesem Nachmittag. Anfangs hatte er sich noch gewundert, dass es in Süßwiesen kaum Männer gab, doch mittlerweile hatte er begriffen, was es mit jenem Namen auf sich hatte. Glücklicherweise sprach Kune nicht wieder darüber, Di zu einem ganzen Mann machen zu wollen.
Während Kune lachte und Zoten riss und den Gesängen und Einflüsterungen seiner weiblichen Bankgefährtinnen lauschte, verbrachte Di seine Zeit mit dem Dutzend an Kindern, mit denen er zusammen im See um die Wette schwamm und tauchte, Steine über die Wasseroberfläche hüpfen ließ oder sich, in einer Atempause, Geschichten über den Krieg erzählten. Selbst in diesen Momenten der Unbeschwertheit erinnerte sich Di jedoch wieder an seine Zeit unter den Nebeln. Er fragte sich, warum er nur immer solche Gedanken haben musste? Warum konnte er nicht mehr wie Kune sein, der gerade alle Sorgen zu vergessen schien?
Am nächsten Morgen, Di hatte zusammen mit anderen Jungen und Mädchen im weichen Gras unter dem Sternenhimmel geschlafen, weckte Kune ihn unsanft und forderte ihn auf, ihren Weg fortzusetzen.
„Können wir nicht noch eine Weile hierbleiben?", wollte Di von ihm wissen, während er sich noch den Schlaf aus den Augen rieb.
„Wir bleiben nirgendwo länger, als nötig", erinnerte ihn der alte Mann, „und jetzt lass uns aufbrechen. Habe unseren Karren schon beladen, während du hier das Leben genossen hast."
Er zwinkerte Di zu, verkniff sich jedoch sein lautes Lachen, um die anderen Kinder nicht aufzuwecken.
Sie lebten auf der Straße, in den Wäldern, an den Bächen und Seen, in den kleinen Dörfern zwischen den großen Städten der West- und Mittlande.
Das durfte Di nicht vergessen. Das war nun sein neues Leben.
Auf dem Weg zurück aus Süßwiesen, blickte er etwas wehmütig zurück und sah zu, wie die Hügel langsam hinter ihnen kleiner und kleiner wurden, während vor ihnen die Sonne hinter dem Horizont aufstieg. Neben der Nachricht von einem großen Sieg ihrer Armee, hatten sie aber noch etwas anderes Neues in ihrem Gepäck. „Was haben wir geladen?", wollte Di wissen, als er sich die unzähligen, kleinen Holzkästchen anschaute, die, fein säuberlich verschnürt und gestapelt, unter ihrer Plane versteckt lagen.
„Süßwasser. Eine zweite Münzquelle von Gytta, die wohl erst versiegen wird, sollten auch unsere Frauen in den Krieg ziehen. Hast du schon einmal Süßwasser gerochen?"
Di hatte im Palast von Venuris vielerlei Duftwasser oder eben Süßwasser, wie Kune sie nannte, gerochen. Aber diese Geschichte erzählte er nicht, stattdessen nickte er nur.
„Wir werden diese hier in die Steinfeste, zu Curtos Branner, bringen. Er ist der Haushofverwalter der Feste. Von ihm weiß ich, dass Eisenkiefers Witwe, die Herrin der Feste, verrückt nach den Süßwassern von Gyttas Mädchen ist. Sie duftet angeblich wie ein Korb voller Blumen."
„Ist nicht Magnus Strietkamp der Herr der Steinfeste? Er ist schließlich der Halbonkel unserer Regentin", wollte Di wissen. Der alte Bohns hatte ihm einmal erklärt, dass Strietkamp der letzte lebende Blutsverwandte von Lena Venua war.
„Nein", gab sich Kune kurz angebunden, „die Herrin der Steinfeste ist seine Mutter."
Am frühen Abend erreichten sie die Süßfurt, wo sie wieder in die Mittlande überzusetzen gedachten.
Weit draußen, so klein wie ein Käfer, konnte Di ihre Fähre erkennen, welche gerade das andere Ufer anlief. Es würde somit noch bis in die Nacht hinein dauern, bis sie die Westlande wieder verlassen konnten und vermutlich würde die Sonne erneut über ihnen aufgehen, bis sie schließlich wieder den Boden ihrer beider alter Heimat betreten durften. Das kleine Häuschen des Furtmeisters stand etwas abschüssig am Rande des Abhangs, der hinunter zum Anleger führte. Der etwas bessere Bretterverschlag thronte auf etwa drei Meter langen Stelzen, an denen farbige Markierungen den Wasserstand vergangener Tage kennzeichneten.
Der Furtmeister, ein kleiner stämmiger Mann mit Mondgesicht und schütterem Haar, blickte ihnen aus dem kleinen Fensterchen entgegen, kaum dass er das Rattern ihrer Räder vernahm.
„Zwei Männer, zwei Hengste", rief er ihnen mit quäkender Stimme entgegen, als sie in Hörweite kamen, „kostet euch zwei Silbermünzen."
„Bitte? Wann genau hat der krankhafte Wucher die Süßfurt heimgesucht?", rief Kune ihm voller Empörung zu.
„Wir befinden uns im Krieg, falls ihr Bauern das noch nicht mitbekommen habt. Kaum noch Bewegung hier an der Furt. Meine Männer muss ich aber trotzdem weiterbezahlen. Ihr könnt aber auch gerne euer Glückweiter nördlich oder im Süden versuchen, auch wenn ich kaum glaube, dass man euch dort bessere Preise machen wird."
Murrend zog Kune das Geld aus seinen Schuhen, wo er die großen Beträge aufbewahrte, und warf sie dem Furtmeister zu Füßen seiner Leiter.
„Willkommen an der Süßfurt", ließ er sich von Kunes Geringschätzung in keiner Weise beeindrucken, sondern bückte sich stattdessen, mit seinem freundlichsten Lächeln auf den Lippen, nach den Münzen.
Di aß und Kune lutschte von dem Brot und dem harten Kuchen, den ihnen die Frauen aus Süßwiesen mitgegeben hatten, während sie auf die Fähre warteten. Ersterer sollte mit seiner Einschätzung recht behalten, denn als der Schein der Kohlebecken an Bord langsam von der Größe kleiner Glühwürmchen zu großen Feuervögeln heranwuchs, da versteckte sich der Mond bereits hinter dem wolkenverhangenen, pechschwarzen Nachthimmel. Der Wind blies unbarmherzig über das Wasser hinweg und ließ ihn frösteln, daher freute er sich darauf, sich in Kürze an einem der Becken etwas aufwärmen zu können. In den vergangenen Stunden hatten sich noch weitere Menschen eingefunden, die dem Furtmeister gutes Geld für eine Überfahrt dalassen mussten. Drei alte Männer mit grauen Bärten und scharfen Äxten, vermutlich Holzfäller. Eine alte Frau in Lumpen, in Begleitung eines jungen Mädchens, die ein kleines Kind an der Hand hielt und einem Säugling, der an ihrer Brust saugte. Einen Eselkarren und dessen hagerer Fuhrmann, ein buckeliger, alter Greis, der Bündel von Hafer und Stroh geladen hatte und immer wieder vor sich hindöste. Er erinnerte Di an einen Mann, den sein Vater und er früher einmal gekannt hatten.
Je näher die Fähre der Süßfurt kam, desto unangenehmer das Gefühl, welches Dieke Brahmen beschlich. Das Wasser des Moteems wich bereitwillig dem riesigen Gefährt, welches knarrend und knarzend auf den Rand des Ufers zutrieb. Männer mit langen Stangen koordinierten dessen Auflaufen auf das schlammige Ufer. Di hörte das aufgeregte Wiehern von Pferden und als die Fährmänner die riesige Planke für den Ausstieg herabließen, waren es tatsächlich vierzehn Männer auf vierzehn Pferden, welche die Fähre verließen. Sie trugen keine Banner, doch anhand ihrer einheitlichen Bekleidung erkannte Di sie als Männer des schwarzen Horts.
Wohin wollten sie? Er nahm all seinen Mut zusammen und fragte schließlich den Mann, der als letztes vom Schiff ging. Ein junger Bursche, das Gesicht glatt, die Haare schwarz und zerzaust. Er wirkte nicht so grimmig und blickte auch nicht so finster drein, wie die anderen Dreizehn.
„Ich möchte nachhause. Nur noch nachhause", erklärte der Junge mit heiserer, fast flüsternder Stimme, während die anderen Männer bereits den Hang hinaufgeritten waren und sich nicht mehr umsahen. Erst jetzt erkannte Di, die ausdruckslosen Augen seines Gegenübers.
Der Reiter kramte in seiner Tasche und warf ihm ein zusammengerolltes Stück Pergament entgegen, welches er auffing.
„Ich wollte zuerst meinen Eltern und Geschwistern schreiben, aber...ich werde es ihnen selbst erzählen", brabbelte er in die Leere der Nacht und jagte, ohne Di oder auch irgendjemand anderes noch einmal eines Blickes zu würdigen, auf seiner Stute davon.
Di sah ihm zunächst verwundert hinterher, dann entrollte er die Schrift und begann aufmerksam zu lesen. Als er den unvollendeten Brief wortlos wieder zusammenrollte und seine Arme senkte, trat Kune neben ihn.
„Was liest du da? Was steht da drin?", wollte der Fuhrmann wissen.
Kune konnte nicht lesen, also würde Di es ihm erzählen müssen. Alles in seinem Kopf drehte sich, während es ihm gleichzeitig heiß und kalt vom Bauch über den Nacken bis hinter die Stirn fuhr.
Als er Kune die Zeilen vorgelesen hatte, rieb dieser sich nachdenklich das Kinn. Ausdruckslos hatte er jedes seiner Worte in sich aufgesogen. Eigentlich hatte Di fest damit gerechnet, dass der alte Mann am Ende wutentbrannt ausspucken würde, doch das tat er nicht. Schließlich rang Di sich zu einem gequälten Lächeln durch und durchbrach die Stille: „Wir haben zwei Silbermünzen für die Überfahrt bezahlt. Krankhafter Wucher, wie du gesagt hast. Wir werden daher zur Steinfeste reisen, so wie wir es die ganze Zeitgeplant hatten."
War es sein altes Leben, welches ihn rief oder lediglich ein, lange unterdrücktes, Pflichtgefühl?
Er würde ja nun genug Zeit haben um darüber nachzudenken.
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