47 - Feindesland (3)
Während Moos umgehend nach dem obersten Berater der Regentin schicken ließ, wagte diese einen Blick über die Reling und wusste zunächst nicht, wie sie sich nun fühlen sollte. Mezerte war plötzlich viel näher, als noch bei Nacht und bot keinen schönen Anblick. Die Südseite der Stadt stellte ein Gewirr aus losen Steinen und rauchenden Trümmern dar. Eingestürzte Häuser und Türme. Hunde streunten auf den riesigen Geröllhaufen herum. Die Mauer, die sie und die Menschen einst geschützt hatte, konnte man nur noch erahnen. Auf den Mauerresten der Westwand waren venuarische Drei-Schwert-Banner entrollt worden, welche auch dem Letzten zeigten, wer sich als Sieger jener Schlacht bezeichnen durfte. Das erleichterte die Regentin für einen kurzen Moment, ehe sie die weiteren Eindrücke einfing, die auf sie hereinprasselten. Der Hafen etwa, bot ein noch entsetzlicheres Bild als die südliche Stadt. Verkohlte Gebäude, von denen bestenfalls noch schwarze Skelette übrig waren, bildeten das Panorama für völlig ausgebrannte Schiffwracks, die zu einem großen Teil unterhalb des Meeresspiegels lagen. Mancher Mast, der da aus dem Wasser ragte, schien gar noch zu schwelen. Schwarze Aschehaufen entpuppten sich als Leichen, die auf dem Kai verteilt lagen, wie Streusel auf einem von Saebyls Kirschkuchen, Hunderte verbrannter Männer. Ob Freund oder Feind spielte keine Rolle mehr.
An dem breiten, sandigen Uferstreifen lagen dutzende und aberdutzende von Landungsbooten, mit denen man ihre Truppen an Land gebracht hatte. Die Ufersperre, zwei lange Steinmauern an einem steilen Hang, hatten ihre Bestien ebenso mühelos in Stücke zerfetzt, wie die Mauern der Stadt. Unzählige Breschen, durch welche die venuarischen Soldaten geschlüpft waren. Reges Treiben herrschte nun an dem Strand. Männer verluden Säcke und Fässer auf die Boote, karrten diese auf Wägen aus der Stadt herbei. Östlich des Strandes hatte man ein großes Loch ausgehoben, in welche man tote Körper hineinwarf. Ein Grab für ihre Gefallenen. Zumindest für diejenigen, die man noch begraben konnte.
"Wie ich sehe, genießt Ihr unseren Sieg", erklang die Stimme des Tais freudestrahlend hinter ihr.
Er trug ein prächtiges Kleid aus blauen Federn, doch seine Augen waren gerötet und wirkten noch müde. "Wir haben tatsächlich die Feuerreiter besiegt", antwortete sie und musste Acht geben, Gesagtes nicht als Frage, sondern mehr als eine Wiederholung ihrer festen Überzeugung zu formulieren.
"Das haben wir ganz offenbar", lachte er und ließ seine Goldzähne aufblitzen.
"Ein süßer Sieg. Lasst uns gemeinsam an Land gehen und den Sieg für alle Beteiligten noch süßer machen. Zudem müssen wir das weitere Vorgehen mit den Kapitänen und Befehlshabern abstimmen."
Die 'Blaue Palu' drängte sich zielsicher und gekonnt zwischen den anderen Schiffen hindurch, die draußen, nur unweit vor der Küste, vor Anker lagen. Von anderer Seite, als Verteidiger jener fremden Stadt, musste ihre Flotte einen mehr als beeindruckenden, vielmehr einen furchteinflößenden Anblick abgeben. Als sie selbst den Anker warfen, stieg sie zusammen mit dem Tai, Kal Zigel, Merett Moos, Maron Greff sowie den beiden Soldaten Frenk Urig und Olmos Korn in eines ihrer Beiboote, welches unter sanften Ruderschlägen auf dem kristallklaren Wasser Richtung Strand glitt. Die Sonne kitzelte die Regentin währenddessen im Gesicht und glitzerte wild verspielt in den Wellen ihres Fahrwassers. Schwärme kleiner, bunter Fische flüchteten vor ihrem Boot, zerstreuten sich und formierten sich anschließend neu. Aus irgendeinem Grund erinnerte sie sich an die kleinen Teiche der Steinfeste, in den Gärten ihres Großvaters Bertel Strietkamp. Ein Gedanke eines kleinen, dummen Mädchens, den sie schnell wieder beiseite wusch. Sie waren schließlich mitten in einem Krieg, auch wenn diese jene Schlacht nun erfolgreich geschlagen war.
"Habt ihr alle denn bereits gefrühstückt?", erkundigte sich Fisi bei ihr, was sie mit einem Kopfschütteln verneinte. Sie hatte keinen Hunger und erst recht nicht auf Zwieback und Salzfleisch.
"Ganz sicher werden wir uns aus den Vorratskammern der Mezerti bedienen können. Eine nette kleine Abwechslung für den drögen Fraß der letzten Wochen."
Während den Männern, angesichts jener Aussicht auf gutes Essen, das Wasser im Munde zusammenzulaufen schien, bedachte Kal Zigel dies nur mit einem stummen Nicken. Ihm merkte man die Freude über den Sieg, den sie hier errungen hatten, nicht wirklich an. Das Oberhaupt der venurischen Waffen wirkte, im Gegenteil, nachdenklich und in sich gekehrt.
Am Strand erwartete sie Horas Horn und eine Handvoll hochrangiger Offiziere der West- und Ostländischen. Als die übrigen Soldaten, die gerade am Strand anzutreffen waren, bemerkten, wer sich da gerade zu ihnen gesellte, stoppten sie ihre vielfältigen Tätigkeiten und brachen allesamt in einen wahren Jubelsturm aus. "Ein Hoch auf die Regentin" oder "Es lebe Lena Venua" ertönte und mündete in einen einstimmigen, lautstarken Sprechchor aus "Venua, Venua"-Rufen. Sie alle verneigten sich, als ihre Regentin einen Fuß auf namunschen Grund setzte. Tai Fisi hatte ihr zuvor, galant wie immer, aus dem Boot geholfen.
"Meine Regentin, der Sieg gehört Euch", begrüßte Horn sie, ohne auch nur den Anflug einer euphorischen Gefühlsregung, beinahe so als hätte er ihr gerade das Leid einer Magenverstimmung geklagt. Wer mochte es ihm, angesichts der Toten, verdenken?
"Die Banner waren, auch von unserem Schiff aus, schwer zu übersehen, werter Horn", entgegnete ihm der Tai.
"Erzählt uns doch stattdessen etwas, was wir noch nicht wissen."
Der Blick des Steinfurt'schen verfinsterte sich. Seine Augen blitzten, so als wolle er dem Schwert der Ostlande an die Gurgel gehen, was er natürlich vermied. Lena hatte schon daheim in Venhaven erkennen müssen, dass Horn kein Freund ihres obersten Beraters war – und offensichtlich würde er es, spätestens jetzt, auch nicht mehr werden.
"Nun, zu Beginn unserer Anlandung waren wir noch dem Pfeilregen der mezertinischen Verteidiger ausgesetzt. Unsere eigenen Bogenschützen haben diese beschäftigt, während Schwerter und Speere die Katapultnester attackierten. Leo Belao und seine Männer haben uns hierbei tatkräftig unterstützt, uns sicher durch das, ihnen bereits bekannte, Gelände geführt. Die Nester waren durch Geheimgänge mit der Stadt verbunden. Die Kämpfe waren kurz und heftig. Als wir in die Stadt strömten haben sich die Verteidiger vor unseren Männern in den Sand geworfen und um Gnade gewinselt. Doch ich möchte ehrlich mit Euch sein, meine Regentin, wir hatten es hier nicht, wie zunächst angenommen, mit Soldaten oder gar Feuerreitern zu tun, sondern mit einfachen Männern, die notgedrungen, auch in Anbetracht ihrer bröckelnden Mauern, zu den Waffen griffen. Die wenigen Feuerreiter, die in der Stadt waren, sind überstürzt ins Landesinnere geflohen, mindestens fünfzig berittene Krieger, welche ihre Pferde auf der staubigen Straße Richtung Norden trieben. So haben es uns Belaos Männer jedenfalls berichtet, diejenigen, die die Feuertürme hielten."
Das war nicht wirklich das, was Lena erwartet hatte. Ihr glorreicher Triumph, über Nacht, fühlte sich plötzlich so ganz und gar nicht mehr glorreich an. Sie konnte nicht mal sagen, ob es sich überhaupt noch wie ein Sieg anfühlte.
„Wie viele Männer und Schiffe haben wir verloren?", wollte Kal Zigel von Horn wissen.
„Sieben Schiffe. Die Besatzungen der ‚Fischerkönig', der ‚Hammerschlag', ‚Meerkatze' und ‚Schwarze Lissy' sind bei dem Angriff auf den Hafen wohl allesamt ums Leben gekommen. Unsere schwersten und zahlreichsten Verluste. Die ‚Weißer Schwan' wurde auf dem offenen Meer versenkt und die ‚Blutstein' und ‚Liebreizende Darea' zumindest irreparabel beschädigt. Es gab noch kleinere Schäden, aber diese sind rasch zu beheben und werden unsere Weiterreise nicht behindern. Bei den Kämpfen vor und innerhalb der Stadt haben wir sechsundzwanzig gute Männer verloren. Ich gehe daher von zweihundertfünfzig bis dreihundert Toten aus, auch wenn wir das, wie gesagt, noch nicht abschließend feststellen können."
„Wie sieht die Situation in der Stadt aus?", erkundigte sich der Tai, als jemand anderes, anstelle von Horas Horn antwortete.
„Die Stadt ist unter unserer Kontrolle", erklärte Palu Menk, der gerade, gefolgt von einer zehnköpfigen Eskorte, die Bresche durchschritt, welche die Bestien in die Mauern der ehemaligen Ufersperre gerissen hatten. Bei seinem Anblick schlug Lenas Herz sofort höher. Er trug Kettenhemd und Halbhelm, ein Langschwert an der Hüfte. Er sah aus, wie ein echter Krieger. Auch Joran Mehr, Menks bester Freund, war wieder an dessen Seite. Dieser wirkte hingegen fast ein wenig durcheinander, so als wäre er mit seinen Gedanken irgendwo anders.
Palu Menks Lächeln schnitt sich durch die Männer hindurch, welche die Regentin umgaben und traf sie mit Wucht. Ein Lächeln, welches nur ihr galt. Sie erwiderte es.
„Das war nicht die Antwort auf meine Frage", erwiderte Tai Fisi leicht spöttelnd.
„Ich habe Euch auch nicht geantwortet, hochverehrter Tai"
Palu Menk schritt, zwischen den Offizieren hindurch, direkt auf seine Regentin zu und deutete eine Verbeugung an: „Ich freue mich Euch hier zu sehen. Es war eine kurze Schlacht, die einige Heldentode gefordert hat, aber unsere Truppen haben Mezerte in Eurem Namen eingenommen. Ich habe mit vielen von ihnen bereits gesprochen. Sie sind allesamt stolz auf das, was hier erreicht wurde."
Die ihn umgebenen Offiziere nickten zustimmend.
Menks Augen suchten nun direkt die der Regentin, weshalb ein Kribbeln ihren Hals ergriff.
"Möchtet Ihr Euch vielleicht selbst ein Bild machen? Ich wäre hocherfreut, Euch Eure Errungenschaft zu zeigen, Euch durch die Straßen Mezertes zu führen."
„Verzeiht, aber das ist unverantwortlich", fuhr Kal Zigel dazwischen. Er klang mehr erschrocken, denn empört, über die Worte Menks.
„Ihr braucht nur einen bewaffneten Hund übersehen zu haben. Möglicherweise warten die Feuerreiter nur darauf, dass unsere Regentin in ihre Mitte tritt. Eine wohlvorbereitete Falle dieser Schlächter."
Fisi war ebenfalls das Lächeln aus dem Gesicht gefallen: „Eure jugendliche Unerschrockenheit in allen Ehren, doch wir sollten die Stadt leerplündern und anschließend dem Feuer übergeben. Keine Sentimentalitäten an diesen Haufen Steine verschwenden."
Menk beachtete den Tai nicht. Seine meerblauen Augen leuchteten nur für sie.
Liebend gerne hätte sie Palu Menks Angebot angenommen. Noch viel lieber hätte sie sich ihm jedoch an den Hals geworfen, ihm mit den Fingern durch die goldenen Locken gestrichen, süße Küsse seinen vollen Lippen entlockt. Und mehr, oh, noch so viel mehr. Doch nein. Das grenzte an Wahnsinn. Zumindest hier, zumindest jetzt. Ihre Vernunft musste und würde siegen.
"Liebend gerne würde ich Euch in die Stadt begleiten, liebster Menk", antwortete sie ihm und konnte dabei genau beobachten, wie das Funkeln in seinen Augen verblasste, "jedoch bin ich an Land gekommen, um unser weiteres Vorgehen zu planen. Wenn die Feuerreiter ins Landesinnere geflohen sind, wird sich die Nachricht von unserem Angriff noch schneller verbreiten, als wir geplant hatten. Wir können uns daher nicht erlauben, länger als nötig zu verweilen."
Menk nickte verständnisvoll, doch spiegelte sich sichtbare Enttäuschung in seinen Augen.
"Es tut mir so leid", dachte sie sich, aber sie würde kommen. Ihre Zeit der Zweisamkeit würde kommen, das schwor sie sich ganz fest. Sie hatte bereits davon geträumt. Von einem gemeinsamen Kind, einem goldenen Kind. Im echten Leben würde sie dieses jedoch nicht mehr loslassen, wie in ihrem dummen Traum geschehen.
Der Tai hatte derweil sein Lachen wiedergefunden. Breit grinste er über beide Ohren, während sein Schmetterlingsbart beinahe freudig über seiner Oberlippe thronte: "Meine Herren, es wird Zeit das wir gemeinsam unser nächstes Ziel ins Auge fassen. Wir werden Namun keinen schmerzhaften Stich mehr versetzen, wie wir es hier vor Mezerte getan haben. Nein, wir werden dem Hohepriester und dem Lumpenkönig fürchterliche Schmerzen bereiten, wenn wir ihnen die weiße Stadt entreißen."
Surme. Nicht einfach nur eine Stadt, sondern das Handelszentrum mit der höchsten Bevölkerungsdichte in Namun. Manche bezeichneten diese als das wahre Herz des Kontinents. Ein großer Sieg wartete dort auf sie, viel größer als dieser hier, das war ihr zuvor bereits bewusst gewesen. Die Eroberung Surmes würde vermutlich nicht über Nacht von statten gehen.
Und doch dachte sie an die Zeichnungen des weißen Gartens, die sie, während ihrer Unterrichtsstunden zuhause, in den alten Büchern gesehen hatte. Ein Platz, der einer Regentin würdig war. Ein Palast, der keine Fenster und Türen kannte, der eins war mit den Blumenbeeten und Teichen, den Obsthainen und Wiesen, den Statuen und Springbrunnen. Wenn sie ihren Brückenkopf errichteten, würde sie die weißen Gärten unterhalb der beiden surmesischen Zwillingstürme zu ihrer Residenz machen. Und sie wusste bereits, wen sie sich dort an ihre Seite holen und in welche enttäuschten Augen sie wieder ein Glitzern zaubern würde.
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