46 - Im Sturm der Klingen (2)

Bereits nach wenigen zurückgelegten Metern verdrehte Jullen stöhnend die Augen: „Es tut weh. Pat, Odo, es tut so weh."

Der Gesang der Schwerter und Speere sowie der, dieser verschissenen Federviecher, brandete über ihre Köpfe hinweg. Längst hatten die Kämpfe die Läger am Ufer des Flusses erreicht. Feuer fraß die Zelte und Unterstände, graste die Böschung ab und kletterte die grotesken Spitzblattbäume hinauf. Menschen schrien und flüchteten über die Brücken. Ganz gleich wie sehr Jullen auch lamentieren mochte, sie schleppten ihn weiter, immer weiter vorwärts, bis auch sie eine der Steinbrücken überquerten.

„Meine Glieder, mein Kopf, alles tut weh", beschwerte sich Jullen, als sie die Weststadt erreichten.

Pat hatte sich Jullens Armwunde nicht mehr angeschaut, doch kam es ihm noch immer mehr als fragwürdig vor, dass ein, vergleichsweise lächerlicher, Schnitt mit einem Schwert einen derart großen Schaden anrichten konnte. Hatte der Goldgockel vielleicht – er mochte gar nicht darüber nachdenken.

„Mir ist so kalt, Odo. Warum ist es hier so kalt?", fragte Jullen, als sie der Straße folgten, die am Ufer entlang, Richtung südliche Stadtmauer führte. Und als Odo ihm nicht antwortete, wandte er sich Pat zu: „Pat, mein lieber Freund, bitte mach ein wenig langsamer. Bitte, bitte."

„Wir müssen aus der Stadt raus, solange die Blicke nach Norden gerichtet sind", erklärte Pat ihm, doch wieder klagte Jullen nur über seine Schmerzen und das sie ihn doch lieber hier am Ufer zurücklassen sollten.

„Ich möchte nicht mehr weiter. Bitte, Odo, Pat, lasst mich hier, lasst mich bitte hier zurück", jammerte er weiter, doch war er zu schwach, um sich von seinen beiden Kameraden zu lösen. Pat nahm sich Odo zum Vorbild und ignorierte Jullens Gejammer. Später würde er ihnen danken, dass sie seine abersinnigen Wünsche ignoriert und ihm das Leben gerettet hätten.

Sie erreichten den Bretterverschlag, der ihnen als Schlafstätte gedient hatte, um von dort aus den schmalen Gassen entlang der Mauer zu folgen und um das vermeintliche Gedränge und die vielen Augen der Stadtmitte zu umgehen. Dort trafen sie auf Welpe, Pferd und Knurrer, sowie zwei weitere Füchse, die gerade ihre Sandalen geschnürt, ihre Schwerter gepackt und sich ebenso auf den Weg machen wollten. Auf wessen Seite kämpften sie?

Ihre Blicke verrieten, dass die Ankunft der Shahisapari sie verwirrte.

„Wenn wir hier wieder rausgehen, werden wir nicht länger Wüstenfüchse sein", hatte Warigna ihm gesagt, nachdem er, in dem alten Lagerhaus, seinen eigenen Waffenbruder erschlagen hatte.

Zumindest ihre alten Brüder erkannten sie noch als die ihrigen. Oder doch nicht? Pat verstand einzig das Wort für „Scheisse" aus Pferds Mund. Es galt unverkennbar dem aktuellen Zustand Jullens. Odo übernahm das Reden und recht schnell klärte sich auf, was hier vor sich ging.

„Die Hauptmänner haben uns feierlich zu Königskindern erklärt. Unsere Kameraden hier kämpfen nun gegen die Stadtwache."

„Ich pisse auf König und Priester und Mutter und Vater und diesen ganzen beschissenen Kontinent", beschwerte sich Jullen.

Während Pferd zu Odo sprach, näherten sich auch Knurrer und die anderen beiden ihrer kleinen Gruppe. Ersterer bellte etwas in ihre Richtung, was Pat wieder einmal nicht verstand. Etwas Unangenehmes lag in der Luft und es waren sicherlich nicht die widerwärtigen Ausdünstungen dieser Stadt, die sich mit dem Geruch von Rauch und Flammen vermischte, welcher der sanfte Wind zu ihnen trug. Pat verfluchte sich mittlerweile selbst, dass er die Sprache nicht gelernt hatte, denn nur zu gerne hätte er verstanden, über was Odo mit Pferd und Knurrer redete.

„Die wollen tatsächlich, dass wir mit ihnen kämpfen", übersetzte Odo.

„Das geht nicht. Jullen, wir...", stammelte Pat ungewollt.

Odo schenkte ihm ein kurzes Lächeln: „Ich weiß. Wir haben einen anderen Auftrag erhalten", und beinahe beiläufig fügte er an „Wie gut bist du wirklich mit dem Schwert, Junge?"

„Mit dem Schwert?", hätte er beinahe gefragt und kam sich dabei wie ein Dummkopf vor, denn er erkannte schließlich, worauf sein Kamerad hinauswollte. Sie konnten aber doch unmöglich gegen ihre eigenen Brüder kämpfen. Selbst wenn sie, die Wölfe, ihren Fuchspelz inzwischen abgelegt hatten. Und überhaupt, Odo konnte doch nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, gegen Welpe und Pferd zu kämpfen. Nicht einmal gegen Knurrer, auch wenn Pat dessen Art nicht mochte.

Odos Hand wanderte langsam, aber bedächtig in Richtung seines Schwertknaufs, während Knurrer wild mit seinen Armen gestikulierte.

Es ging alles so schnell, wie ein Blitz, der vom Himmel herabzischte und schließlich wieder verschwand. Knurrer ging auf sein rechtes Knie herab. Im ersten Augenblick hatte Pat sich noch gewundert, weshalb der Fuchs so plötzlich einen Kniefall vollführte. Dann erst erblickte er den Pfeilschaft mit dem weiß-roten Gefieder, welcher zwischen seinen Schultern herausragte. Die Spitze hingegen hatte sich seinen Weg aus Knurrers Brustkorb gebahnt und schimmerte dort so rot und klebrig wie Kirschsaft. Der mürrische Mann war nun plötzlich gar nicht mehr so griesgrämig, sondern schien, im Gegenteil, genauso überrascht, wie seine übrigen Brüder. Seine offensichtliche Verwunderung hielt jedoch nicht sehr lange an, da kippte er auch schon vornüber wie ein Sack Getreide und vergrub sein Gesicht im feinen Sand zu Odos Füßen.

Irgendwo in der Ferne hörte Pat seinen wölfischen Kameraden irgendetwas rufen. Vielleicht war es sein Name, doch Pats wahre Konzentration galt zunächst den weiteren Pfeilen, welche die beiden namenlosen Füchse aufspießten, ehe seine Beine sich wieder vom Erdboden zu lösen begannen.

Gedankenschnell schaufelte Pferd Jullen auf seine beiden starken Arme, wie der Märchenprinz die Jungfrau, und eilte, mit ihm und den drei übrigen Füchsen, in Richtung der engen Gassen. In den wenigen Augenblicken in denen sich jenes Spektakel zutrug, erhaschte Pat einen kurzen Blick auf die reudigen Heckenschützen. Fünf, vielleicht sogar sechs Männer hatten sie, von einem entfernten Dach aus, zur Zielscheibe erklärt. Er glaubte Krummsäbel an ihren Gürteln zu erkennen.

„Mutterschwerter", ging es ihm durch den Kopf. Rekard hatte immer über die fromme Kriegerkompanie gespottet, sie als „Fotzen des Glaubens" bezeichnet und dazu ein jedes Mal ausgespuckt.

Weitere Pfeile flogen über ihre Köpfe hinweg, einer zischte gar nur zwei Handbreit an Pats linkem Ohr vorbei, ehe sie in die nächstgelegene Gasse einbiegen konnten.

Sie rannten so schnell ihre Beine sie trugen, flogen über Sand und Kiesel sowie durch befestigte Gassen und Straßen. An braunen, gelben und grauen Sand- und roten und weißen Backsteinbauten vorbei. Die Straßen waren menschenleer. Türen standen offen. Pats erster Gedanke beschäftigte sich kurzzeitig damit, sich einfach in einem der Häuser vor dem Feind zu verstecken. Sein zweiter Gedanke allerdings brachte die Erkenntnis, dass die Bewohner wohl einen Grund zur überstürzten Flucht sahen. Außerdem war da auch noch der Befehl Warignas, den Odo zu befolgen gedachte. Sie hatten Jullen aus seiner Nische gezerrt und würden nun Rekard Amwaldt treffen, welcher am Treffpunkt auf sie warten würde, um mit ihnen aus dieser Stadt zu flüchten. Ob dieser alte, verschlagene Mistkerl es überhaupt zu jenem Punkt an der Stadtmauer geschafft hatte? Aus irgendeinem Grund mochte Pat nicht glauben, dass Rekard sich, selbst in diesem Durcheinander, ernsthaft in Gefahr wähnte. Hier und da entdeckte ihre Gruppe vereinzelte Schleifspuren aus Blut, als hätte jemand Leichen oder Verwundete weggeschafft. Odo, der folgerichtig ihre Führung übernommen hatte, entschied sich glücklicherweise dagegen, ihnen zu folgen. Trotzdessen, dass sie tief in die Stadt eindrangen, verfolgte sie der Geruch von Rauch und Asche, welcher von Rekards riesigem Feuer herrührte. Die ‚Magie der Feuerreiter' hatte Amwaldt es genannt. Pat war in Surme Zeuge ihrer Kraft geworden. Bilder, die ihn noch immer verfolgten.

Odo stoppte abrupt und kaum das sie alle stillstanden, hörten sie Geschrei aus der, vor ihnen liegenden, Querstraße. Eilig winkte der rote Odo seine winzige Gefolgschaft in ein noch winzigeres, offenstehendes Haus an der Straßenecke und schloss leise die leichte Tür aus Ästchen und einem eigenartigen Rohrgewächs. Keiner wagte einen Mucks. Pferd legte Jullen derweil auf einem Flecken Stroh ab. Der Namunsche schnaufte schwer durch seine Nase und sackte ebenfalls geschafft neben dem Venuari zusammen. Jullen murmelte leise unverständliches Zeug. Pat glaubte ein uraltes Gebet an den einen Gott herauszuhören, zumindest schien ihm der Wortlaut bekannt vorzukommen. Dabei hatte er selbst bestimmt seit über zehn Jahren kein Gebet mehr gesprochen. Das war etwas für Schwache – Kinder und Frauen und alte Männer.

Dicht gedrängt zusammenstehend, lauschten sie dem Lärm, welcher sich rasch von Süden her näherte. Mehrere Männer schienen die Gasse entlangzurennen. Pat hörte Aufregung, vielleicht sogar Angst in ihren Stimmen, deren gesprochene Worte er, wie immer, nicht verstand. Es folgte ein kurzer Aufschrei und ein Poltern, als wäre jemand gestürzt. Noch mehr Männer sorgten für noch mehr Lärm. Schwertklingen prallten aufeinander, Schmerzensschreie mischten sich in das Lied und nur kurz darauf schien der Kampf auch schon wieder vorüber.

Sie lauschten einem kurzen Gespräch zwischen mehreren Männern. Pat glaubte vier verschiedene Stimmen auszumachen. Ein Zahnloser, ebenso ein wohl noch recht junger Kerl, während die anderen beiden Stimmen ähnlich rau klangen, einer jedoch lauter und bestimmter sprach, der andere langsam und träge. Pat vernahme dumpfe Geräusche, ein Schleifen, welches sich langsam von ihrem Versteck entfernte. Auch die Stimmen verstummten, bis die fünf Männer schließlich nichts mehr hörten, was nicht aus der Ferne zu ihnen getragen wurde.

„Was haben sie gesagt?", wollte Pat wissen.

Odo antwortete ihm leise, während er die Tür vorsichtig, einen winzigen Spalt öffnete, um einen Blick auf die Straße zu werfen: „Soweit ich es verstanden habe, hat Hurion seine Männer für einen Gegenschlag in die Straßen, nördlich von hier, gerufen. Ich weiß nicht, wen sie da erschlagen haben, aber ihre Leichen haben sie mitgenommen. Offenbar benötigt Hurion die Leichen. Ich weiß ja nicht, was er mit ihnen vorhat, auf der anderen Seite interessiert es mich aber auch gar nicht. Wir wollen weiter gen Westen und dann zur südlichen Mauer, nicht nach Norden. Kommt, wir müssen weiter, sonst holt uns die Schlacht ein."

Dieses Mal packte Pferd Jullen auf den Rücken und folgte seinen Brüdern – Warigna hätte bei diesem Ausdruck getobt – erneut ins Freie. Vorsichtig bahnten sie sich ihren Weg zu der Südmauer. Unterwegs begegneten sie niemandem mehr, der ihnen das Leben schwerzumachen gedachte.

„Dort, wo der Kaposiqi in Emorhor einfließt", hatte Amwaldt gesagt. Dort wäre der Ort, wo sie über die Mauer gehen würden, solange alle Blicke nach Norden gerichtet waren. Ein turmartiges Gebäude, dessen Zweck sich Pat nicht erschloss, bot ihnen den versprochenen Schutz vor den Blicken, die sich vielleicht dann doch lieber dem Süden zuwandten. Eine Reihe von eng beinander stehenden Bäumen, mit dünnen, weiß-grauen Stämmen und dichten, rosafarbenen Blätterkleidern säumten das große Gebäude. Ihre Äste breiteten sich weitläufig aus, vergruben sich in den Kronen der jeweils anderen und kratzten mit ihren knorrigen Fingern gar an den Fensternsimsen des Turmes und den Wehrgängen der Mauer. Im Schatten der Bäume wirkte selbst der Lärm um sie herum eigenartig dumpf. Ja selbst das Rauschen des nahen Flusses, welcher durch massive, rostbraune Eisengitter, in die Stadt drängte, die hinter einem dünnen, hohen Mäuerchen lagen, welches sich zwischen Mauer und dem Turm erstreckte. Trotz der eigenartigen Schönheit dieses kleinen Fleckchens, war es doch Entsetzen, welches sich in Pat breitmachte. Frische Leichen lagen unterhalb der Mauer in rotem Blut und rosa Blättern. Frauen und Kinder. In einigen Körpern steckten Pfeile, andere schienen lediglich von der Mauer gestürzt oder gestoßen worden zu sein. Pferd sagte etwas dazu, Odo antwortete ihm nickend.

Ihr Anführer schickte daraufhin Welpe voraus, um einen Blick auf die nahen Wehrgänge werfen zu können. Leichtfüßig wie ein Blatt im Wind schlich sich der surmesische Junge zwischen den Leichen und Baumstämmen hindurch zu der Treppe, die auf den Wehrgang hinaufführte. Den Roten Brüdern gehörte dieser nun, doch dem energischen Winken des Jungen nach zu urteilen, war die Luft rein. Rekard war nirgendwo zu sehen, als sie die steilen Stufen empor erklommen. Hatte er es etwa doch nicht geschafft?

Von der hohen Mauer aus konnten sie weit Richtung Westen und Osten blicken. Selbst auf den Wehrgängen wurde gekämpft, wenn auch weit in der Ferne. Wer gegen wen, das konnte Pat nicht ausmachen, doch waren es viele. Sehr viele. Er blickte durch die Zinnen über die, in rötliches Licht getauchte, Ödnis hinweg. Karg und rau und feindlich, doch verlockend mit der Aussicht auf ihre Flucht, erstreckte sich Namun südlich der Hauptstadt bis in eine unendlich weite Ferne und strahlte dabei so etwas wie eine grausame Schönheit aus. Die toten Körper, die am Fuße der Außenmauer lagen, waren hingegen aus keinerlei Blickwinkel als etwas Schönes zu betrachten. Pat wandte den Blick schnell wieder seinen Kameraden zu.

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