46 - Im Sturm der Klingen (1)

Sie stahlen sich aus dem Hinterhof und folgten eilig, eine mannshohe Sandsteinmauer entlang, der Straße nach Süden. Schlachtenlärm verfolgte sie währenddessen wie ein Schwarm unheilvoller Insekten, welche sich an ihre Fersen geheftet hatte. Als sie sich am Ende jener Begrenzung, in vermeintlich sicherer Entfernung, aus ihrer Deckung hervorwagten, erblickten sie nur Chaos. Schwerter kreuzten sich mit Doppelspeeren. Soldaten des Hohepriesters, Söldner und Geflüchtete tummelten sich in der unübersichtlichen, kämpfenden Masse vor den, sperrangelweit geöffneten, Toren Emorhors. Die Kutten- und Lumpenträger aus dem Norden stürzten sich gemeinsam, wie im Rudel jagende Wölfe, mit Messern auf ihre Feinde, stachen ihnen in den Rücken, in die Rippen, in die Hälse. Den Stadtwächtern indes bereitete es sichtbare Probleme, auf derart beengtem Raum, mit ihren Speeren zu agieren. Pat kannte die Nachteile der Fernwaffe im Kampf genauestens aus seinen Übungseinheiten, im schwarzen Hort, unter Lukwan Grauwasser. Es schien Ewigkeiten her, doch konnte er sich noch an vermeintlich jeden Schritt erinnern, den er einst, unter den Augen seiner Kameraden und des Ausbilders, getan hatte.

„Krieg ist kein Spiel", ertönte urplötzlich die Stimme seines allerersten Lehrers in seinem Kopf. Im Schatten eines Apfelbaumes hatte Hellman Karth ihn den Umgang mit dem Schwert gelehrt und ihm jene Weisheit immer und immer wieder eingeschärft. Worte, die nur Wind für den Jungen aus Rinken waren. Unter einem dürren, namunschen Laubbaum schließlich, schien Pat diese Worte nun zum ersten Mal wirklich und vollumfänglich verstanden zu haben.

Während er das Treiben beobachtete, drängte sich dort ein stämmiger Mann, mit Vollbart und schulterlangem Haar, in den Vordergrund. Pat hatte diesen bereits auf dem Wehrgang, an der Seite des Hohepriesters, erspäht. Er wirbelte mit seinem Breitschwert durch die Gegnermassen und brachte einen nach dem anderen zu Fall. Wie ein riesiger, wütender Stier, ließ er sich augenscheinlich durch nichts stoppen. Selbst als er einen Speer in den Rücken bekam, kämpfte er weiter, streckte die nächsten beiden Angreifer nieder. Als er dann aber von einem Pfeil getroffen wurde sowie noch einem und noch einem, torkelte er nur noch dahin, ließ es sich jedoch nicht nehmen, einem weiteren Kuttenträger den Arm, bis zur Schulter, abzuschlagen und sein Schwert anschließend noch durch die Brust eines anderen zu stoßen. Eingekreist von sechs Mann ging er dann aber doch noch zu Boden und ließ seine Waffe in den Staub fallen. Erst da fielen seine Gegner schließlich regelrecht über ihn her und begruben ihn unter Schwerthieben und Speerstichen, bis er sich nicht mehr regte.

Ein lauter Knall erfüllte plötzlich die Luft und ließ die drei Wölfe zusammenzucken. Ein mächtiges Feuer, das größte, welches Pat in seinem Leben je gesehen haben mochte, ragte plötzlich, weit in der Weststadt, gen Himmel. Seine Zungen peitschten gen Himmel, so als wollten sie sich mit der rotglühenden Sonne vereinen.

„Rekard", murmelte der rote Odo mit einem Anflug von Entsetzen, angesichts des Brandes.

„Wir holen Jullen und gehen zum Treffpunkt", drängte Pat aufgeregt. Ihre geplante Flucht war schließlich nicht ohne Risiko. Jetzt, wo hier auch noch gekämpft wurde, schon zweimal nicht.

„Wo ist der Priester? Ich gehe nicht, bevor der Priester nicht tot ist", war das einzige, wofür sich Warigna interessierte.

„Mach' die Augen auf", antwortete Pat, verwundert über den Zorn, den er in sich brodeln fühlte, wo es doch eigentlich Angst war, die ihm das Schauspiel hinter den Toren der Stadt bereitete. Er deutete auf das Kampfgeschehen.

„Die schlachten sich gegenseitig ab. Der Hohepriester ist wahrscheinlich längst tot."

Unvermittelt packte Warigna ihn am Kragen, schleuderte ihn kraftvoll gegen die Bretterwand des Lagerhauses und drückte ihm seinen Dolch gegen den Hals: „Du nichtsnutziger Sack voll Hundescheiße, ich hätte dich auf unserer Überfahrt einfach ins Meer werfen sollen."

Pat hatte ihn vorher schon für einen Wahnsinnigen gehalten, jetzt war auch jeglicher Restzweifel ausgeräumt, als er in dessen wilde Augen blickte. Odo versuchte zu intervenieren, doch Warigna wies ihn barsch ab: „Halt dein Maul, Odo. Wir haben diesen ganzen Weg auf uns genommen, haben alles geopfert, damit dieses Schwein hier uns alles zunichte macht? Er hatte nur einen Pfeil abzuschießen. Nur einen verfluchten Pfeil. Nicht, dass er sein Ziel verfehlt hätte, nein, er hat ihn nicht einmal abgeschossen."

„Wenn der Rattenkönig jetzt angreift", Odo blieb ruhig, sprach ohne Hast, „und danach sieht es aus, wird der Priester sterben. Pat hat recht, Mendo. Mach die Augen auf. Die Tore stehen offen, seine Söldner wenden sich gegen ihn. Es wird genau das geschehen, was Rekard gesagt hat, genau das, was wir bewirken wollten. Der Süden wird in diesen Krieg eintreten und die Hunde werden sich gegenseitig abschlachten. Venua ist sicher. Sei vernünftig, Mendo, bitte."

Das Narbengesicht ließ den Dolch sinken und löste seinen Griff von Pats Kragen. In seinen Augen blitzte immer noch der Zorn, doch auch eine Leere hatte sich in deren Spiegelung geschlichen, die ihn mehr und mehr vereinnahmte. Pat taumelte einige Schritte rückwärts und legte seine Hand auf den Schwertgriff. Noch einmal würde er diesen Irrsinnigen nicht an sich heranlassen. Wut stieg auch in ihm herauf und ehe er sich versah, öffnete er den Mund: „Du miese Drecksau."

Odo schien genauso überrascht wie Mendo Warigna.

„Du hast uns hierhergeführt", klagte er ihren ehemaligen Hauptmann an, „Nicht auf Befehl der Regentin, sondern weil du nach Ruhm und Ehre gestrebt hast. Wir hätten dich auch einfach in dein Verderben laufen lassen können, aber das haben wir nicht. Wir sind an deiner Seite geblieben, für die Mission, für Venua. Du hast mir erzählt, ich sei dein Feind und dass du mir den Kopf abschlagen wirst, wenn ich herumerzähle, dass du dich mit jungen Huren abgibst. Da! Jetzt habe ich es Odo erzählt. Schlag mir doch den Kopf ab, du verfluchter Hurensohn. Ich..."

Noch ehe Pat seine Tirade beenden konnte, fing der Wahnsinnige an zu lachen. Er lachte so laut, dass man es beinahe mit der Angst zu tun bekommen konnte.

„Du hast recht", war die Antwort, die für noch mehr Verwirrung unter seinen verbliebenen Kameraden sorgte.

„Huren", zischte Warigna kichernd.

Er zog sein Schwert aus der Scheide und sofort tat Pat es ihm gleich. Dessen Hände waren feucht vom Schweiß und sein Herz klopfte bis in seinen Hals hinauf. Die Angst schnürte ihm förmlich die Luft ab. Seine Knie waren weich wie nasses Brot. Was hatte er nur gesagt? War er es jetzt, der den Verstand verloren hatte?

Doch Mendo Warigna attackierte ihn nicht, wie er zunächst angenommen hatte. Stattdessen klopfte dieser Odo brüderlich auf die Schulter: „Holt den Jungen und trefft euch mit Rekard. Das ist ein Befehl. Ich übertrage dir hiermit die Führung, Odo. Verstanden?"

Lanzkamp nickte, ohne auch nur irgendetwas zu hinterfragen, während sich Warigna an Pat wandte.

„Nichts für ungut, Mohor. Ruhm gibt es hier keinen, aber meine Ehre möchte ich behalten."

Und während das Narbengesicht sich, schnellen Schrittes, das Schwert in der Hand, in Richtung der Stadttore aufmachte, packte der rote Odo Pat am Oberarm: „Steck dein Schwert weg, Junge. Wir holen Jullen."

Pat war zunächst irritiert, doch tat er wie geheißen und während sie sich eilig auf den Weg machten, suchte er nach Erklärungen dafür, was gerade passiert war. „Meine Ehre möchte ich behalten", rauschte ihm durch den Kopf. Der Wolf hatte wieder einmal bewiesen, dass er seinen Verstand eingebüßt hatte, doch ließ es Pat kalt. Für Mendo Warigna empfand er mittlerweile gar nichts mehr. Sollte er doch in seinen selbstgewählten Tod rennen. Direkt vor ihm landete Vogelscheiße auf der Straße.

„Ja", dachte Pat, „genau so viel bist du mir wert, Mendo."

Sie erreichten Wohngebiet. Viele der Bewohner flohen gen Osten, in Richtung Haus der Sonne, nur wenige orientierten sich nach Westen, wo der braune Fluss die Stadt teilte. Alte Menschen, Frauen und Kinder. Sie wurden ebenso aufgeschreckt durch das Erschallen von Kriegshörnern in der Ferne. „Die Ratte mit der Krone auf dem Kopf kommt tatsächlich und man hat ihm auch noch großzügigerweise die Tore geöffnet", dachte Pat. Wie eine Frau, die bereitwillig ihre Beine spreizte gebierte sich Emorhor. Er dachte wieder an Anbritt und ihr rotes Haar.

„Du musst Nara beschützen", hallte es derweil zwischen seinen Ohren. Er schüttelte seine nutzlosen Gedanken ab, als das Armenhaus vor ihnen auftauchte, in welchem Jullen untergebracht war.

„Der Wachmann", erinnerte Pat sich laut. Odo nahm es offenbar lediglich zur Kenntnis. Auch als der fette Kerl, in dem schief sitzenden Lederharnisch, ihnen erneut den Weg versperrte, blieb sein Kamerad die Ruhe selbst, redete auf den Mann ein. Man musste nun wirklich nicht viel von der Hundesprache verstehen, um dem Gespräch folgen zu können. Allein die Körperhaltung der Wache, mit dem breitbeinigen Stand, dem herausgestreckten Wanst und den verschränkten Armen, dem herablassenden Blick aus den eingefallenen Augen, die aus dem teigigen Gesicht herausstarrten. Diese Sprache musste man nicht erst ins Venuarische übersetzen, um sie verstehen zu können. Dennoch dauerte Pat das alles viel zu lange.

Rekard wartete vermutlich bereits auf sie und diese fette Töle stand da wie festgenagelt in diesem schmalen Flur und würde keinen Fuß von der Stelle weichen.

Silbern glänzte des fetten Hundes Klinge zwischen den rötlich-braunen Rostflecken des Krummsäbels, an dem rissigen Ledergürtel, der an dessen zerschlissener Hose baumelte.

„Er soll endlich zur Seite gehen", entfuhr es Pat in gereiztem Tonfall und machte eine obszöne Geste in Richtung des Wachmannes. Eigentlich war er viel wütender auf Mendo Warigna, denn auf den namenlosen Namunschen. Er hätte dennoch nicht damit gerechnet, dass der Wachmann derart wütend werden würde. Plötzlich hörte das Teiggesicht nämlich damit auf, den roten Odo mit endlosem Kopfschütteln zu bedenken und adressierte stattdessen zorniges Gebell in Richtung Pat.

„Halt die Schnauze und lass uns vorbei", bellte dieser zurück, „Wir holen unseren Freund und danach hast du deinen verdammten Flur wieder für dich allein."

Was dann passierte ging so schnell, dass Pat sich im Nachhinein nicht mehr an den genauen Ablauf erinnern konnte. Der Hund zog plötzlich sein Schwert. Ob, um ihnen zu drohen oder sie anzugreifen, sollte sein Geheimnis bleiben. Odo jedenfalls, schneller als ein zuckender Blitz, zog das seine und versenkte dieses beinahe vollständig in dem riesigen Bauch seines Gegenübers.

Der fette Mann ließ seine Waffe fallen und fasste sich ungläubig an die große, blutende Wunde auf seiner Vorderseite, ehe er rückwärts in den dunklen Gang torkelte und dort, mit lautem Gepolter, zu Boden ging. Nicht ein Schmerzensschrei, kein weiteres Wort, war mehr aus seinem Mund gedrungen. Vielleicht hatte Pat es aber auch einfach nur vergessen.

Nur wenig später hatten sie die Ärmchen dieses blassen, dürren Halbtoten um ihre Schultern gelegt, von dem Odo behauptete, es sei Jullen Fenske. Pat hatte es zuerst nicht glauben wollen. Der schöne Jullen Fenske, der daheim, in dieser fernen, grünen Welt hinter dem Meer, stets durch sein gepflegtes Äußeres, seine wohlgewählte Kleidung aufgefallen war. Sein drahtiger, blonder Bart war nur noch an seinen Spitzen von der dunklen Farbe Amwaldts überzogen. Sein Haupthaar, ein Gemisch aus schwarzverblassten, blonden und weißen Strähnen, spröde und feucht auf seiner Stirn und im Nacken klebend. Seine Augen stierten derweil fiebrig ins Leere. Und doch glaubte Pat, dass das Männlein gelächelt hatte, als es in die Gesichter der beiden Venuari blicken durfte. Odo hatte es in einer der vielen dunklen Nischen gefunden, in diesem schrecklichen Muff aus Krankheit und Tod, der sich in dem Raum hinter dem Vorhang ausgebreitet hatte und gegen den selbst die zahlreich brennenden Kerzen nichts ausrichten konnten.

„Du irrst dich. Das ist nicht Jullen", hatte Pat zuerst entgegnet, doch auf den zweiten Blick kamen Gewissheit und Entsetzen im Gleichschritt. Was war nur, innerhalb dieser wenigen Tage, aus seinem Freund geworden? Diese alte Frau hatte ihm doch versprochen, ihn wieder auf die Beine zu bringen, ihn gesund zu machen. Ganz und gar nicht gesund wirkte der frische blutige Auswurf, nur leicht angetrocknet, der auf Höhe der Brust, auf dem grauen, kratzigen Überwurf Jullens klebte.

„Gehen wir nachhause?", hatte er gefragt, was Odo mit einem schlichten „Ja" beantwortete.

Als er versucht hatte aufzustehen, waren Jullens Beine unter ihm eingeknickt, wie zwei dünne Ästchen, die ihr Blätterkleid nicht mehr zu tragen vermochten. Seine Finger wirkten steif und verkrampft, als Pat ihn an der Hand fasste, um ihm wieder vom Boden aufzuhelfen.

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