45 - Die Kinder (1)

Seine gefiederten Gäste waren genauso aufgeregt wie Terek, als sich die Tore langsam und träge für seine Kinder aus Rokhejlhor öffneten. So sangen sie ihre Lieder und flatterten, wild mit den Flügeln schlagend, hernieder, wo auch immer sie ein Plätzchen fanden. Hunderte von ihnen ließen die Zinnen der Mauern in den buntesten Farben erstrahlen. Zahlreiche weitere hatten sich in den Palmen und Bäumen, auf Häuserdächern und Balkonen in der Nähe des Stadttores niedergelassen, um zu beobachten. Sie beobachteten, wie die Tore mühevoll aufgeschoben wurden und wie die zahlreichen Doppelspeere, den Einlass der Schutzsuchenden sorgsam begleiten und diese, in geordneten Bahnen, in die Läger am Fluss geleiten sollten. Sie beobachteten die Beobachter auf den Mauern, den Hohepriester der Mutter und dessen engsten Kreis, die Mauerläufer aus Stadtwache und roten Brüdern bestehend. Und sie beobachteten die Geflüchteten. Ganz besonders schienen sie zu beobachten, wie deren vorderen Reihen gemächlich die Gräben und Wälle zu beider Seiten der Straße passierten. Die Händlerstraße. Auch durch sie würde sich der Graben letztlich ziehen, dann wenn die letzten Karren in Tereks Stadt gerollt wären.

„Die Nächsten, die jene Straße entlangkommen, werden wir nicht mit offenen Toren, sondern mit Skorpionstacheln und Pfeilregen, mit Feuer und Tod empfangen", kommentierte Terek, das Gemüt betrübter, als es eigentlich sein sollte. Es waren schlicht zu wenige, die es hierhergeschafft hatten, wie er traurig feststellte. Fünfhundert von Geyon Tes'Mekuraes Lämmern hatten sich ursprünglich in die Hauptstadt aufgemacht. So zumindest hatten es die Reiter der Roten Brüder seinem treuen Gefährten Malto berichtet und dieser hatte es anschließend sofort ihm zugetragen. Nun waren es noch etwas mehr als dreihundert, in Kutten und Roben und Lumpen gehüllt, die Füße wund und aufgescheuert. Auf ihrem beschwerlichen Weg nur noch angetrieben vom Willen zu überleben. Keine kleinen Kinder oder Neugeborene waren unter ihnen. Der alte Sonnengott kannte offenbar keine Gnade, war unbarmherzig und grausam auf ihrem Wege gewesen. Auch jetzt stand er im Westen über dem, sich dahinschlängelnden, Kaposiqi, leuchtend und blendend rot.

Egal wie viele der Rokhejhlori es nicht geschafft haben mochten, im Mutterschoße hinter dem alten Sonnengott würden sie den Frieden finden, den die Schwarzträne ihnen allen, in der diesseitigen Welt, nicht vergönnte.

Entschlossenheit bahnte sich nun wieder seinen Weg durch Tereks Venen. Er würde sich den Kopf des falschen Königs bringen lassen und diesen auf einen Pfahl spießen, über seinen Toren aufhängen und dort verfaulen lassen. Ein schwacher Trost für das viele Leid und jene, die es tragen mussten, doch war es das Mindeste, das er tun konnte. Es war vielmehr seine Pflicht.

Er blickte in Maltos und Hernaks Mienen. Er wusste, dass beide nicht sonderlich einverstanden waren mit seiner Entscheidung. Malto hatte Bedenken geäußert, Terek würde noch weitere Mörder und Feuerleger in seine Stadt holen.

„Steig hinunter und sag es ihnen", wollte er ihm zurufen, „blicke in ihre Gesichter und sag ihnen, dass wegen einiger falscher Ziegen in dieser Stadt, du sie da draußen verrotten lassen möchtest."

Terek blieb stumm.

Hernak hingegen hatte mit den Worten „Vorräte" und „Mäuler" argumentiert.

„Sag ihnen doch, dass sie den Sand zu ihren Füßen fressen sollen, weil wir um unsere runden Bäuche fürchten", wollte er ihn konfrontieren.

Terek ließ es bleiben.

„Und mit Euch habe ich auch noch ein Wörtchen zu reden", sagte er zu sich im Stillen, als er Herzfresser mit dem leuchtenden Rubinauge vor den Mauern erblickte. Der Hauptmann der Blutkrähen saß, hoch zu Pferde, am Rande der Straße. Energisch winkte er die Menschen vorbei, damit sich die schweren Karren, auf dem Straßenstück zwischen den beiden Gräben, hindurchzwängen konnten.

„Hört ihr das?", riss Gosset Terek derweil aus seiner Gedankenwelt. Er spitzte die Ohren, doch er hörte nichts. Und genau das war das Befremdliche. Er blickte sich um und sah die zuvor so lebhaften Vögel schweigend auf ihren Plätzen sitzen. Ihre stummen Blicke jagten Terek einen kalten Schauer über den Rücken. Aus der Ferne ertönte leise ein Horn. Ein langgezogenes „Huuuuuuuuuu" rollte über ihre Köpfe hinweg.

Tereks nächster Herzschlag schien eine Ewigkeit zu dauern, als die Vögel sich laut kreischend und zeternd in die Lüfte erhoben, die Rokhejhlori blitzende Klingen aus Ärmeln und Innentaschen zogen und begannen damit die umstehenden Doppelspeere zu attackieren.

„Nein! Nein!", schrie Hernak und zog surrend sein Schwert aus der Scheide.

„Schließt Tor! Schließt Tor!", brüllte er immer wieder aufgeregt, während er von Tereks Seite wich und den Weg, die Steintreppen hinunter, suchte. Seine laute Stimme ging jedoch in dem Gewirr aus Schreien und Rufen und Fluchen sowie dem Todesröcheln schwer verletzter und sterbender Menschen nieder, die sich in einem undurchsichtigen Gemenge hinter seinen Mauern, hinter seinen sperrangelweit geöffneten Toren, gegenseitig beharkten. Dabei stieß der Hauptmann mit Tereks vier Leibwachen zusammen, die den Weg hinauf auf die Mauer suchten, um den Hohepriester der Mutter mit ihrem Leben zu schützen.

„Bleibt", hatte Terek seinen Männern in den schweren Rüstungen stets befohlen, wenn er auf die Mauer stieg. Sie widersetzten sich seinem Befehl, erkannte er zunächst, bis er sich schließlich selbst einen Dummkopf schalen musste. Sie taten ihre Pflicht, so wie er seine Pflicht getan hatte.

Im Gegensatz zu ihm, versagten sie nicht bei ihrer Aufgabe. Treu und verschwiegen, stumm wie ein Grab, eilten sie an seine Seite.

Einer seiner Männer packte ihn am Arm und riss ihn mit sich. Beinahe wäre Terek ins Stolpern geraten, doch konnte er sich taumelnd aufrecht halten und folgte seinen Beschützern gen Westen, weit weg vom Tor. Und während er den leuchtend roten Sonnengott über den Ufern des Kaposiqi, weit außerhalb der Stadt wahrnahm, erkannte er eine ganze Schar von Reitern, die sich im Schutze des hellen Lichts der Hauptstadt näherten.

„Die Skorpione. Alle Mann an die Skorpione", wollte er rufen, doch auch dort fanden seine Augen nichts mehr, was ihm noch Hoffnung bringen sollte. Auf der Mauer wurde ebenfalls gekämpft. Rote Brüder kreuzten ihre Klingen mit der Stadtwache. Blutkrähen stachen auf alles ein, was sich bewegte, stürzten andere Männer durch die Zinnen in den sicheren Tod. Eine laute Detonation erschütterte die Stadt. Flammen züngelten wie riesige, brennende Türme in die Lüfte und ihr heißer Atem schlug Terek, selbst auf hunderte Meter Entfernung, brennend heiß in sein Gesicht.

Markerschütternde Schreie schnitten sich wie Dolche durch die wabernde Hitze.

Das Ligpix. Sie haben das Lager unterhalb der Mauer angezündet. Befreier. Das mussten Befreier gewesen sein, die Mörder und Feuerleger. So hatte Malto sie genannt.

Malto? Gosset? Waren sie nicht hinter ihm gewesen? Wann hätte er denn hinter sich blicken sollen, fragte er sich sogleich. Ein Speer bohrte sich derweil durch einen herannahenden Krähensöldner, wie ein Messer durch eine reife Frucht. Terek hatte nur dessen geschleuderten Dolch wahrgenommen, welcher wirkungslos an der Rüstung eines seiner Leibwächter abgeprallt war. Ob das Geschoss ihm gegolten hatte? Wen interessierte das noch? Sie zerrten Terek die nächste Treppe hinab, wobei sie ihn mittlerweile an beiden Armen gepackt hatten und wie einen kleinen, unbedarften Jungen durch die Gegend schleppten.

„Meine Söldner, meine Schwerter", klagte er und erschrak, weil die Stimme, die er hörte, zu einem alten, gebrochenen Mann gehörte.

Aasgeier, allesamt Aasgeier. Sie hatten seine Münzen genommen und doch verrieten sie ihn, jetzt wo es ihnen passte.

Das Chaos hatte sich von den Toren, wo noch immer in einem großen, unübersichtlichen Durcheinander gekämpft wurde, bis an die Läger am Ufer des Flusses ausgebreitet, wo es ebenfalls zu Kämpfen und Plünderungen kam. Einige der wenigen Männer unter den Geflüchteten versuchten ihre Familien, Freunde und sich gegen die buntgemischten Söldnersoldaten zu erwehren, riskierten ihr Leben, indem sie sich den scharfen Klingen mit Knüppeln und Steinen in den Händen entgegenstellten. Die überlegenen Waffen derer, die nach Blut gefeierten, behielten stets die Oberhand. Die Aasgeier nahmen sich alles, was sie begehrten. Stoff und Tuch und Nahrung. Aus den wenigen brauchbaren und wertvollen Habseligkeiten, wie Trinkkelchen, Schmuck, Horn, Bücher, Ledersachen, Messer und anderen Werkzeugen bestand ihre Beute. Den Frauen wurden Halsketten und Armreifen entrissen. Ein Fuchs schnitt einem erschlagenen, alten Mann einen Ring vom Finger. Eine Krähe zündete Unterstände mit einer Fackel an. Ein roter Bruder vergewaltigte eine junge Mutter, während ihre kleine Tochter, im heißen Sand daneben lag und herzzerreißend weinte. Doch nicht alle von ihnen waren verruchte Bastarde. Schwerter der Mutter erhoben ihre Krummsäbel für die Schwachen und lieferten sich blutige Kämpfe mit ihren einstigen Brüdern.

Einige von Tereks Kindern flüchteten über die Steinbrücken in den Westen der Stadt und somit in die vermeintliche Sicherheit. Eine trügerische Annahme, waren doch alle Fluchtwege, die aus Emorhor herausführten, versperrt. Schließlich hatte Terek alle Tore verrammeln und vernageln, hatte mit Trümmern und Felsbrocken massive Barrikaden errichten lassen.


Als die ersten Steine und Pfeile angeflogen kamen, Terek konnte nicht einmal sagen, ob sie überhaupt ihnen galten, drückte man ihn mit dem Kopf nach unten und seine Vier rückten noch enger zusammen, nahmen ihn in ihre Mitte wie einen menschlichen Schild. Er konnte nun nichts mehr sehen, nicht mehr beobachten, sondern nur noch hören, was um ihn herum vor sich ging.

Er hörte die Männer in ihren schweren Rüstungen schnaufen, die mit jedem Schritt, den sie taten, ein lautes, metallenes Kratzen und Scheppern von sich gaben. Er roch ihren süßen, beißenden Schweißgeruch, den sie verströmten. Er roch den Rauch, welchen das, vermutlich verheerende, Ligpixfeuer verströmte. Schweiß, Feuer, Rauch und Staub, aber auch Blut und Tod kroch ihm in die Nase. „Der Geruch des Krieges", schlussfolgerte er. Dazu das fatale Lied der Schwerter, welches, scheinbar von überall her, an seine Ohren drang und das Unheil, welches er so sehr vermeiden wollte, fügte sich in einer abscheulichen Perfektion zu einem Ganzen zusammen. Es vermischte sich mit lautem Geschrei. Er hörte Zorn, Angst, Verzweiflung und Raserei aus dem Meer an Stimmen heraus und er hörte das panisch anmutende Geschrei der Vogelscharen über ihren Köpfen, die das Schlachten und Morden und Schänden aus luftiger Höhe zu kommentieren schienen.

Unweigerlich musste er wieder an eine Schrift denken, die ihn, kurz nach dem Fall Haasmehors erreicht hatte. Von einer „Gesangsfehde zwischen Menschen und Vögeln" stand dort geschrieben. Nun glaubte er, die einst als wirres Gekritzel abgetane Botschaft, zu verstehen. Er musste lachen und jeder der ihn hörte, musste wohl annehmen, er habe den Verstand verloren. Vielleicht hatte er das ja. Womöglich war das hier alles nur ein weiterer, konfuser Traum, den er träumte. Leider spürte er zu deutlich, dass er sich in der echten Welt befand, als sein Nebenmann ihn zu Boden riss.

Terek Nam'Atamai landete, mit ihm zusammen, unsanft in Sand und Staub und noch ehe ihn seine verbliebenen drei Leibwachen wieder auf die Beine ziehen konnten, erkannte er, dass ein einsamer Pfeil seinen Weg in den Sehschlitz des Helmes seines Beschützers gefunden hatte. Blut benetzte den warmen Sand. Er war auf der Stelle tot.

Terek erkannte nun auch, wohin sie unterwegs waren. Die Sonnenpyramide. Seine letzte Festung. König Necats Prunkbau. Sicher, seine schwerbewaffneten, wie auch gut gerüsteten, Männer würden den schmalen Eingang möglicherweise mehrere Stunden gegen Angreifer verteidigen können. Aber wollte er das? Wollte er, wie ein verängstigter Hund davonlaufen, während seine Kinder hier abgeschlachtet wurden? Wollte er Gosset Kar'Semdul als den ‚Rückgratlosen' beerben? Er entwand sich dem festen Griff seiner Leibwachen, sodass es ein Loch in den Stoff an der Schulter seiner Robe riss.

„Wir laufen in die falsche Richtung", machte er ihnen klar.

Wann, wenn nicht jetzt, wo ohnehin alles verloren schien, sollte er auf das hören, was sein Herz ihm einflüsterte? Er blickte zurück zu den fernen Stadttoren und sah dort noch immer verbitterte Kämpfe vonstatten gehen. Trotz aller Entschlossenheit hatte Hernak Kreum'Barbero es nicht geschafft, die Tore wieder zu schließen. Währenddessen breiteten sich die Flammen auf der anderen Uferseite langsam aus. Das Feuer hatte derweil auf umstehende Gebäude übergegriffen und loderte beängstigend und bedrohlich gen Himmel. Er war gescheitert. Er war mit allem gescheitert, was er versucht hatte, aber eines blieb ihm jetzt noch.

Als er den verblichenen, grauen Vorhang beiseiteschob, stolperte er beinahe über den umgeworfenen Schemel des Wachmannes. Eine Blutspur führte den schmalen Flur entlang und verlor sich in der Dunkelheit.

„M'Kelya", rief er so laut er konnte, doch nur das Jammern und Stöhnen der Alten, Schwachen und Sterbenden bekam er als Antwort. Er riss den Vorhang zu seiner Rechten zur Seite und blickte in die dunklen Nischen, in denen groteske Schatten tanzten, welche von dem schwachen Licht der Talgkerzen herrührten, die in den Kerzenleuchtern brannten.

Als er seinen Weg in die kleine Kammer bahnen wollte, stolperte er über die, im Dunkeln verborgene, Leiche des Wachmannes und schlug sich dabei schmerzhaft den Kopf auf dem Boden auf. Eine seiner Leibwachen half ihm wieder auf die Beine. Dessen zwei Kameraden sicherten derweil den Eingangsbereich. Erstmals spürte er den schweren Atem seines Gegenübers. Verwunderte es ihn etwa? Seit Ezuhak, der Friedfertige, die traditionelle Leibwache des Hohepriesters aus der Wiege gehoben hatte, wurden diese, als enge Diener der Mutter, dazu ausgebildet, in den engen Fluren und Gängen der Sonnenpyramide zu kämpfen. Eisenharte Verteidiger in Schatten und Fackelschein. Sie waren nicht dazu bestimmt, in ihren schweren Rüstungen über das weite Feld der Stadt zu jagen.

„Arme Seele", dachte er nur über den Toten, „möge er einen Platz im Schoße der Mutter finden."

Obwohl ihm sein Kopf dröhnte, stürmte er, begleitet von dem Doppelspeer, die schmale Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo normalerweise die Waisen, samt ihrer Ammen untergebracht waren. Die Räumlichkeiten, wie auch die Betten und Krippen waren leer. Eilig schienen sie allesamt aufgebrochen zu sein.

„M'Kelya", rief er erneut. Seine Stimme klang zittrig.

„Ich alter Narr, ich dummer alter Greis", schimpfte er und fiel auf seine Knie. Er fasste sich an die Stelle auf Höhe seines Brustbeins. Er konnte es fühlen und ballte eine Faust. Kurze Verwegenheit hatte ihn gepackt, doch dieses Gift würde er nicht schlucken.

„Zet, mein alter Freund", sprach er mit dem kleinen Holztischchen, welches sich gerade in seinem Blickfeld auf Augenhöhe befand. Er konnte seinen alten Weggefährten, welcher hier unter diesem Dach gestorben war, an dessen Stelle, vor sich sehen.

„Ich hätte auf deinen Rat hören sollen, aber ich bin zu schwach. Ich kann es nicht, ich kann es nicht, ich kann es nicht."

Er schlug mit seinen Fäusten auf die hölzernen Dielen, auf welchen er kniete, bis er blutige Abdrücke auf ihnen hinterließ.

„Du kennst die Antwort", hörte er Zets Stimme sagen.

Terek packte sich an seinen schmerzenden Kopf. Der Schweiß an seiner Stirn vermischte sich mit dem Blut an seinen Händen.

„Er ist nicht das gute Kind", sagte er laut, „Er ist ein Wilder, ein Lump, ein Mörder und Kriegstreiber. Ich hingegen bin ein Diener der Mutter, der ihre Wege beschritt, so wie sie es mir zeigte. Ich bin ihr höchster Stellvertreter am Boden, der Hüter ihrer Schafe. Ich bin...kein Sünder." 

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