42 - Der heimatlose Junge (2)

Sie ließ Di eine Schale von der Kohlsuppe bringen, deren Duft die Küche erfüllte.

Kaum das er sich an den langen Tisch gesetzt hatte, saß bereits wieder seine kleine Schwester neben ihm und stierte ihn an: „Du sprichst immer so oft und so lange mit Mama. Was habt ihr euch denn immer zu erzählen?", wollte sie wissen, während Di sich an seinem ersten Löffel Suppe beinahe die Zunge verbrannte.

„Ich werde ein wenig länger als sonst hierbleiben", erklärte Di und nur einen Augenblick später war die kleine Salli näher an ihn herangerückt: „Was heißt hier länger als sonst?"

„Das heißt, dass ich vielleicht ein paar Tage oder länger hierbleiben werde."

„Das ist ja", antwortete sie freudestrahlend und schien kurz nach einem passenden Wort zu suchen, ehe sie mit „wunderbar", schloss.

Ja, „wunderbar" war der richtige Begriff. Di verdrängte rasch die vielen schlechten Gedanken, die in seinem Kopf umherschwirrten. Seine kleine Schwester ließ ihm schließlich auch gar keine Zeit dazu.

Den Rest des Abends spielten sie mit hölzernen Figuren die Schlacht der Jungfrau Nara gegen die schwarzen Teufel von den tausend Inseln nach.

„Die Regentin wird die bösen Hunde von Namun ebenfalls mit Feuer überziehen", strahlte Salli, deren rechte Hand in einer grauen Socke steckte, welche die Jungfrau höchstpersönlich darstellen sollte.

Lena Venua war gewiss nicht mit einem Gott aus der Sonne liiert, wie Di wusste, und somit würde sie die Namunschen wohl eher mit Pfeilen und Schwertern überziehen. Gleich wie, am Ende würde ebenso der Tod für Venuas Feinde stehen.

„Ja, man wird sie danach besingen, wie wir es heute mit Nara tun", entgegnete Di stattdessen und schmunzelte.

Sallis Freundinnen waren ebenso begeistert wie sie, dass Di die nächste Zeit bei ihnen verbringen würde und auch der stumme Junge Fuchs strahlte über beide Ohren. So ließ sich Di, ohne großen Widerwillen, letztlich auch zu seiner versprochenen Geschichte drängen. Dieses Mal erzählte er ihnen von den Leuten seiner Heimat, den Klupingschen. Vom Stadtgründer Melo, dessen Söhnen Kai und Conreth bis hin zum legendären Schwertkämpfer Frenk Kluping. Die Geschichten aus seiner Heimat kannte er bestens und konnte sie bis in das kleinste Detail hinein ausführen. Gespannt hing seine Zuhörerschaft an seinen Lippen, bis auch er sich schließlich vom Gähnen der Kleinsten anstecken ließ und kurz darauf den Wunsch verspürte, sich ebenfalls nach oben in den Schlafsaal zu bequemen.

„Ich bin ja auch so müde", gähnte Salli einmütig mit, auch wenn sie noch vor wenigen Augenblicken hellwach gewirkt hatte.

Marika hatte Di eine Decke und ein weiches Kissen nach oben bringen lassen, damit auch er einen eigenen Platz zum Schlafen hatte. Außerdem hatte man ihm ein sauberes Nachthemd bereitgelegt, welches fast ein wenig zu klein für ihn war und das Versprechen, ihm ein paar dicke Wollsocken zu nähen, stand ebenfalls im Raum. Di legte sein Hemd und seine Hose beiseite und warf sich sein Nachtkleid über. Einige Kinder schliefen bereits, andere, die ihn nach oben begleitet hatten, waren ebenfalls dabei sich bettfertig zu machen. Nach und nach, Di hatte sich bereits in seine Decke eingehüllt, füllten sich schließlich auch rasch die noch übrigen Schlafplätze und die letzten Kerzen erloschen. Eine friedliche Stille legte sich wie ein Schleier über das sonst so laute und lebendige Waisenhaus.

Erst jetzt dachte er wieder an die Briefe, die Fuchs in seiner Matratze verstaut hatte.

„Ich muss damit zu Hennis Krug. Jetzt erst recht", dachte er sich und erschrak, als plötzlich jemand seine Decke anhob und zu ihm darunterschlüpfte.

„Ich wollte nicht, dass du die erste Nacht allein bist. Viele weinen in der ersten Nacht", flüsterte Salli schlaftrunken und leise in sein Ohr, umschlang ihn mit dem rechten Arm und kuschelte sich fest an ihn heran. Ein merkwürdiges, warmes Gefühl durchfuhr ihn, dann packte er ihre Hand und bemerkte, dass seine kleine Schwester bereits eingeschlafen war. Er genoss ihre Nähe, die Wärme ihres Körpers, den Hauch ihres Atems in seinem Nacken. Starr wie ein Kanninchen, welches jemand im Genick gepackt hatte, lag er da und hörte auf seinen eigenen Herzschlag und den seiner Schlafpartnerin. Er dachte plötzlich an Suki. So merkwürdig es ihm auch vorkam, er fühlte sich glücklich. Dann schlief auch er ein.

Er träumte von seltsamen Zeichen, von Panon dem Sohn der Sonne, der mit seinem riesigen, magischen Hirschgeweih auf dem Kopf durch die Straßen der Hauptstadt stolzierte und dort reudige, jaulende Hunde vor sich her jagte. Hunde, die die Köpfe von Rekard und Mulwig auf den Schultern trugen. Erst jetzt erkannte Di, dass er selbst Panon war und sein langes Schwert nichts weiter als ein blutiges, kleines Messer in seiner Hand. Er erschauderte, als er das Blut sah, in welches seine Hände getaucht schienen. Dicke, rote Tropfen fielen wie pausbäckige Äpfel von seinen Fingern und zerplatzten auf dem grauen Asphalt unter seinen Füßen, tauchten die Straßen in jene unheilvolle Farbe. Ein Fluss aus Blut trug ihn davon. Keine Möglichkeit irgendwo Halt zu finden. Unkontrolliert wirbelte Di in der roten Strömung umher, bis diese ihn in ein helles, weißes Licht spülte, welches ihn letztlich aus seinem Traum aufweckte.

Die Sonne schien bereits und fiel durch das große runde Fenster in den Schlafsaal. Salli war ebenfalls schon munter und blickte ihn mit wachen Augen an.

„Ich habe geträumt, du würdest jetzt bei uns wohnen", schenkte sie ihm ihr breitestes Lächeln, „und als ich aufgewacht bin, habe ich gemerkt, dass es gar kein Traum ist. Das ist doch mal ein schöner Morgen, findest du nicht?"

Auch Di konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen: „Ich hatte schon lange keinen derart schönen Morgen mehr", antwortete er ihr.

„Und du bleibst wirklich hier bei uns?", fragte sie ihn, so als würde sie daran zweifeln.

„Wieso fragst du mich das? Ich habe es dir doch gestern schon einmal gesagt?"

„Und wenn ich das auch nur geträumt habe?", erwiderte sie noch immer skeptisch.

„Das hast du nicht geträumt. Ich werde länger hierbleiben. Siehst du, jetzt hab ich es wieder gesagt. Und es ist auch ganz bestimmt kein Traum. Soll ich dich zwicken?"

Jetzt grinste sie wieder. Irgendwie mochte Di die Lücke in ihrem Lächeln, dort wo ihr die beiden Schneidezähne fehlten.

„Komm mit! Lini hat Frühstück für uns", rief sie und versuchte Di aus seiner warmen Decke zu zerren.

Fuchs schlief noch. Di würde erst später mit ihm über die Briefe sprechen können.

„Er ist ein Langschläfer", beklagte sich Salli, während Di sich die Hose zuschnürrte, bevor er sein Hemd vom Boden aufhob um sich auch dieses anzuziehen.

Sie setzten sich zu Marey und Nara, die hartes Brot und Käse miteinander teilten. Während Salli von einer wässrigen Suppe aß und von besagtem Brot hineintunkte, entschied sich Di für einen faden Hirsebrei. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, was er am alten Bohns, wenigstens an dessen reichhaltig bestückter Vorratskammer, hatte.

Salli stieß ihn mit ihrem Ellenbogen an und flüsterte ihm zu: „Sollen wir heute Nachmittag wieder von dem leckeren Honigkuchen essen?"

Gerne hätte er das getan, doch von welchen Münzen sollte er es denn bezahlen?

Er setzte ein vorsichtiges Lächeln auf, schüttelte dann aber langsam den Kopf.

„Ich fürchte, ich mag heute keinen Honigkuchen. Vielleicht ein ander Mal", flüsterte er zurück.

„Schade", erwiderte das kleine Schwesterchen und schob sich, dennoch vergnügt, ein weiteres Stückchen von ihrem Brot in den Mund.

Als sie fertig gefrühstückt hatten, Salli war bereits vor Di vom Tisch aufgesprungen, winkte Mutter Marika ihren Gast zu sich herüber. Sie saß wieder in ihrem zerfledderten Sessel, der aussah, als würde er jeden Moment unter ihr zusammenkrachen.

„Schau, was ich dir gestern Nacht noch gestrickt habe, mein Junge."

Sie überreichte ihm zwei dicke, graue Socken aus warmer Schafwolle und eine ebenso graue Wollmütze, worüber er sich sehr freute und sogleich seinen Dank aussprach.

„Ich werde sicher noch festes Schuhwerk für dich auftreiben. Solange musst du dich damit begnügen. Für die Mütze haben wir noch nicht das Wetter, doch wird es nicht mehr lange dauern, bis die Herbststürme zu wehen beginnen", sprach sie in leisem Ton. Kaum das Di zurück zum Schlafsaal gehen wollte um endlich Fuchs, diesen unsäglichen Langschläfer, aufzuwecken, sprang Salli an seine Seite.

„Oh, das ist aber eine schöne Mütze", frohlockte sie.

„Probier sie an, probier sie an", rief sie mit quäkender Stimme.

Just als Di lächelnd ihrem albernen Wunsch nachkam, klopfte es zweimal laut und fest an der Tür, ehe diese langsam aufschwang.

Zwei Männer in abgenutzten braunen, schlecht sitzenden Kutten standen im Türrahmen. Einer von ihnen, ein langer Rothaariger mit schiefer Nase und wulstigen Lippen hielt einen großen Jutesack in Händen. Der andere, ein eher kurz geratener Blonder mit unscheinbarem Gesicht und schlechten Zähnen, hielt seine Hände in den langen Ärmeln seiner Kutte versteckt.

Irgendetwas an den beiden Männern gefiel Di nicht.

Letzter durchsuchte den großen Raum mit seinen Blicken und machte erst bei Mama Marika Halt, die er, offenbar erfreut darüber sie zu sehen, ansprach: „Der eine Gott blickt nach wie vor lächelnd auf Euch herab, meine Dame."

„Für eine Dame bin ich zu alt und zu arm", sprach sie im gleichen Flüsterton, mit dem sie auch immer zu ihren Kindern sprach, „aber wer bin ich schon, euch von dieser Form der Anrede abzuhalten?"

„Eine Dienerin des einen Gottes, wie auch wir", sprach nun der Rothaarige mit dem Jutesack, ehe er als Erster ungefragt eintrat, während der Zweite es ihm schließlich gleich tat und die Tür hinter sich schloss.

„Wer sind die?", frug Di die kleine Salli im Flüsterton.

„Die guten Männer", antwortete diese ihm ebenso leise. Sie musste sich dafür auf die Zehenspitzen stellen und bis an sein Ohr recken, da Di alle Aufmerksamtkeit den beiden Fremden entgegenbrachte.

„Was habt ihr mir mitgebracht?", wollte Marika wissen und winkte mit sanfter Handbewegung den Rothaarigen zu sich her, der ihr prompt den Sack aushändigte, welchen sie zwischen ihren Beinen, auf dem Boden, abstellte.

„Rüben und Zwiebeln. Wie immer Rüben und Zwiebeln."

Marika inspizierte dessen Inhalt mit prüfendem Blick.

„Richtet den Großen meinen aufrichtigen Dank aus. Möge der eine Gott über uns alle wachen", sprach sie, ehe sie den Sack wieder verschloss und dieser von Tante Lina in die Küche befördert wurde.

„Komm, lass uns Fuchsy wecken", drängte Salli ihn, doch Di beharrte darauf weiter beobachten und zuhören zu können.

Marika hatte sich derweil wieder den guten Männern zugewandt: „Eurem Verharren entnehme ich, dass ihr mir eines oder mehrere Anliegen der Großen zutragen möchtet?"

Der Blonde mit den verborgenen Händen sprach nun: „Wie schafft Ihr es nur immer wieder unsere Vorhaben zu durchschauen?"

„Meine Augen mögen trüb sein, aber das Offensichtliche lässt sich schwer übersehen", antwortete sie mit leiser Stimme, was beide Männer zu einem breiten Grinsen verleitete.

„Auf Bitten unserer Großen halten wir Ausschau nach einem diebischen Kind, welches auf den Namen Dieke Brahmen hört. Zehn Jahre alt, schwarzes Haar. Ihr habt keinen solchen Jungen in Eurem Bestand?"

Blondschopf ließ seinen Blick erneut durch den ganzen Raum schweifen.

„Ich bin kein Viehhandel", antwortete Mutter Marika ihm freundlich, „demnach, habe ich auch keine Bestände, die ich euch aufzählen könnte."

„Ihr wisst, was ich meine."

„Das tue ich. Doch wie oft kommt es in unserer Welt zu Missverständnissen, nur weil wir nicht die richtigen Worte wählen, nicht richtig zuhören?"

„Kennt ihr den Jungen nun oder nicht?"

„Ich kenne den Jungen, den ihr sucht. Gewiss hat er uns schon mit seinen Besuchen beehrt. Nicht alle Kinder bleiben hier, wie ihr wisst. Einige suchen ihr eigenes Glück in den Straßen von Venuris."

Eine Antwort, die dem Blonden nicht gefiel.

„Ihr werdet uns benachrichtigen, sobald ihr etwas über seinen Verbleib wisst."

„Ich bin eine Dienerin des einen Gottes. Wenn die Großen nach diesem Jungen verlangen, werde ich mich ihrer Bitte nicht verschließen. Möge der eine Gott über Sie und euch wachen, so wie er auch über meine Kinder, meinen Frauen und mich wacht."

Di konnt es an der grimmig dreinschauenden Miene des Blonden ablesen, dass dieser keineswegs erfreut über die Aussage Marikas war. Dennoch deuteten beide eine leichte Verbeugung an und verschwanden wieder durch die grüne Türe.

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