42 - Der heimatlose Junge (1)

Di konnte sich nicht erinnern, jemals so schnell gerannt zu sein. Noch bevor er die Händlerstadt erreichen konnte, verlor er seinen linken Schuh. Er würde jedoch nicht stehen bleiben. Sollte den alten Treter doch haben, wer mochte. Sein Interesse galt schließlich nur dem polternden Söldner, welcher ihn verfolgte und verfluchte zugleich.

„Wenn ich dich erwische, du verdammte, kleine Missgeburt", hatte er geschrieen, seine Drohung jedoch nicht vollendet, als Di durch die Haustüre Gunnet Bohns gerannt war und sich nicht mehr umgeblickt hatte. Der alte Bohns wollte ihn in einen Sack stecken und wegbringen lassen.

„Wie den Glatzkopf", hatte er gesagt und Paky dabei gemeint.

Rekard würde ihn nicht einfach in einen Sack stecken und überhaupt wollte Di auch gar nicht darüber nachdenken, was dieser wildgewordene, vor Wut schnaubende Ochse, vorher mit ihm anstellen würde, sollte er ihn in seine dreckigen Finger bekommen.

Es blieb ihm keine Zeit sich allzu lange mit jenem Gedanken zu beschäftigen. Er musste sich auf seine Schritte, seine Bewegungen konzentrieren. Denn seine Flucht, durch die Menschenmengen der Händlerstadt, glich einem abstrusen Tanz, der so flink absolviert werden musste, wie keine Musik je hätte spielen können. Er wich einer Frau mit Kind aus, versuchte anschließend nicht mit einem alten Mann zusammenzustoßen, der einen schweren Sack über der Schulter trug und Di lautstark verfluchte, da dieser ihn offenbar so sehr überraschte, dass er zusammenzuckte. Di tauchte unter einem Pferd hindurch, das gerade von einem jungen Burschen getränkt wurde. Er rannte blindlings durch die Vorstellung eines Jongleurs, der sämtliche seiner Kohlköpfe fallen ließ, welche er gerade, unter den staunenden Augen einer großen Menschentraube, wild durch die Luft gewirbelt hatte. Auch dieser rief Di einige beleidigende Worte hinterher.

„Es tut mir Leid, es tut mir Leid", dachte er nur, doch würde dem Künstler jene unausgesprochene Entschuldigung auch nichts nützen.

Dis Verfolger begnügte sich nicht damit, jene zu umtänzeln, die sich ihm in den Weg stellten. Immer wieder hörte Di Scheppern und Lärm in seinem Rücken, sowie anschließende, unschöne Beschimpfungen, die sicherlich nicht ihm galten. Wer aber würde hier so mutig sein, einen massigen Mann wie Rekard aufzuhalten, der zudem noch ein Schwert trug?

„Die Stadtwache", dachte Di sofort und versuchte Ausschau nach den Soldaten der Regentin zu halten, die er in den Straßen des Sonnenscheins und im schwarzen Hort noch gewissenhaft umgangen hatte.

Doch würden diese ihm wirklich helfen? Was wenn Rekard, immerhin ein Mann des geachteten Gunnet Bohns, ihnen erzählen würde, dass Di in Wahrheit ein gemeiner Dieb sei, der seinen Geldgeber bestohlen und belogen hatte?

Nein, die Stadtwache sollte er unbedingt meiden. Auf ihre Hilfe konnte er nicht zählen.

Im Rücken einer Gruppe von Musikanten, schlüpfte er mit einer schnellen Drehung in eine schmale Seitengasse und als er nach einigen weiteren Schritten bemerkte, dass der Lärm der Menschen leiser wurde, wagte er einen ersten Blick zurück.

Nichts mehr zu sehen. Er hatte Rekard abgehängt, wie er erleichtert feststellte.

Erst jetzt spürte er den brennenden Schmerz in seinen Waden und seinem unbeschuhten Fuß, sein pochendes Herz in seiner Brust. Nie hätte er gedacht, dass dieser dumme Ochse Rekard einen derart hartnäckigen Verfolger abgeben könnte.

Während er verschnaufte, fragte er sich, wohin er denn nun gehen sollte, denn langsam realisierte er, in was er hier überhaupt hineingeraten war. Er hatte keine Münzen mehr bei sich und nur noch die Kleidung, die er am Leibe trug. Er konnte nicht zurück zu Gunnet Bohns. Den Mann der Regentin hatte er einerseits nie sonderlich gemocht, doch andererseits hatte dieser ihm ein Zuhause geboten. Nein, das war nicht sein Zuhause gewesen, schärfte er sich ein. Sein wirkliches Zuhause war in Klupingen. Hier in Venuris hatte er lediglich Obdach gehabt. Er blickte in den grauen, wolkenverhangenen Himmel hinauf. Kalt und nass würde es für ihn werden, wenn er sich nicht beeilen würde. Es gab schließlich noch einen weiteren Ort. Den einzigen Ort, an den er jetzt noch gehen konnte.

Aufmerksam und mit großer Vorsicht folgte Di den Gassen und Wegen bis in die Straßen des Sonnenscheins. Jedes Mal, wenn er Schritte hörte oder er Menschen in der Ferne sah, begann sein Herz höher zu schlagen. Ständig rechnete er damit, dass Rekard irgendwo auftauchen würde, um ihn erneut durch Venuris zu jagen und so war er stets bereit, erneut die Flucht zu ergreifen.

Aus sicherer Entfernung beobachtete er eine Menschenansammlung, die sich um einen dieser Lumpenprediger versammelt hatte und dessen lauthals vorgetragenen Worten lauschte.

„Finsternis bringt die Regentin über uns", verkündete der Prediger mit erhobenem Zeigefinger, „führt sie uns erneut in einen Krieg. Sind wir nicht besser, als die, denen wir vorwerfen unsere Feinde zu sein, wenn wir deren Schandtaten wiederholen? Ist es gerecht, wenn wir sagen ‚Wir sind gerecht'? Ich sage Nein! Nur der eine Gott ist gerecht und eine Gottlose, vom Blute der Venua, kann sich nicht über den Schöpfer erheben."

Einige Außenstehende lachten über den Mann, andere beschimpften ihn, wiederum andere versuchten ihm zu widersprechen, wurden jedoch von den zahlreicheren und lauteren Stimmen derer übertönt, die dem Prediger offenbar zustimmten.

Di mochte nicht, wie die Lumpen über Lena Venua redeten. Er ging weiter seines Weges. Schließlich wollte er auch keinesfalls in der Nähe sein, wenn die Stadtwache diese Versammlung gewaltsam auflösen würde.

Als er die grüne Tür zum Waisenhaus erspähte, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Kein Rekard weit und breit zu sehen, stattdessen herumtollende Kinder, die barfuß Fangen spielten und dabei laut johlten und lachten. Auch wenn Di gerade eine große Leere in sich verspürte, so schien allein bei ihrem Anblick ein kleiner Funken Freude in ihm aufzuflackern. Er zog seinen rechten Schuh aus und warf ihn weit von sich in die leere Gasse. Was wollte er schon mit nur einem verdammten Lumpenschuh?

Er wusste, dass er stets willkommen war und so trat er, wie bereits etliche Male zuvor, durch die grüne Tür und sog den Duft, der ihm entgegenschlug, tief in seine Lungen. Es roch nach Holz und den Gewürzen, welche er Mama Marika geschenkt hatte. Doch vor allem roch es heute für ihn nach einer unwiderstehlichen Fröhlichkeit. Er musste lächeln.

Für einige Momente vergas er, was ihn hierhergeführt hatte, weswegen er überhaupt hier war.

Die bunten Decken und Teppiche auf dem Boden, die zahlreichen Zeichnungen an den grauen Wänden, sie alle strahlten ihm in all ihren Farben entgegen. Selbst die lange, hölzerne Tafel in ihrem dunklen Braunton, die einen großen Teil des Raums vereinnahmte, sprach stumm ihre Einladung an ihn aus.

„Di, Di, Di", rief die vertrauteste aller Stimmen nach ihm und aus der hintersten Ecke des Raumes kam die kleine Salli auf ihn zugestürmt, sprang an ihm hoch und umklammerte ihn mit allen Vieren.

„Kleine Schwester", dachte Di und schloss sie in seine Arme. Ihre kleinen Freundinnen Nara, Issa und Marey hatte sie ebenfalls mit aufgescheucht.

„Du wolltest doch erst morgen wieder kommen? Hast du uns wieder etwas mitgebracht?", fragte sie, als sie wieder von ihm abließ und blickte ihn erwartungsfroh aus ihren beiden unterschiedlich-farbigen Augen an.

„Dieses Mal nicht", antwortete er wahrheitsgemäß. Nicht einmal wenn er gewollt hätte, hätte er ihnen etwas mitbringen können, ohne es vorher zu stehlen und er hatte wahrlich genug vom Stehlen.

„Warum hast du keine Schuhe an?", wollte Nara wissen.

„Einen habe ich verloren, den anderen weggeworfen", schmunzelte Di und erntete verdutzte Gesichter. Einzig Salli musste lachen und zog sich die aschgrauen Wollstrümpfe aus.

„Di hat Recht. Wir sollten alle barfuß herumlaufen. Das macht viel mehr Spaß."

Issa und Marey taten es ihr gleich, warfen Holzschuhe und Sandalen hinter sich, während Nara sich zierte: „Das ist ein doofes Spiel. Ich mag keine kalten Füße bekommen. Außerdem hat Di uns eine Geschichte versprochen."

Er erinnerte sich an seine eigenen Worte.

„Ich weiß", gab Di sich entschuldigend, „aber ich muss zuerst mit Mama sprechen. Wo ist sie?"

Erneut setzte Salli ihren allseits bekannten Schmollmund auf.

Trotz der Proteste ihrer Freundinnen führte sie ihn, wenn auch etwas widerwillig, zu iher Mama. Marika befand sich in Gesellschaft der beiden Frauen Lina und Gitta in der kleinen Küche. Es roch nach Kohlsuppe und die Luft war heiß und stickig. Die drei Frauen unterbrachen abrupt ihr Gespräch, als sie die beiden Kinder erblickten.

Als er sie sah, übermannte es Di beinahe. Nur mit Mühe konnte er seine Tränen unterdrücken. Dabei wusste er nicht einmal, weshalb sie aus ihm herausbrechen wollten. Traurigkeit? Freude? Oder gar aus einem anderen Grund?

„Lasst uns beide allein. Du auch, Salli", flüsterte Marika mit ihrer leisen Stimme.

Auch wenn Salli kurz zögerte, begleitete sie schließlich doch, auf sanftes Drängen von Tante Lina hin, die beiden Frauen aus der Küche.

„Das ist keiner deiner üblichen Besuche, Dieke. Du siehst aus, als wolltest du mir etwas sagen?"

Er nickte und erzählte ihr schließlich alles. Er beichtete ihr seine Lügen. Das er nicht als Schreiber arbeite, sondern als Auge eines blinden, reichen Mannes. Und dass er die Maus angestiftet hatte, jenen alten Mann zu bestehlen. Und nun sei dieser ihm auf die Schliche gekommen und es gäbe für ihn jetzt keinen Ort mehr, an den er gehen könne.

Den Namen Gunnet Bohns erwähnte er dabei jedoch nicht und er behielt ebenso für sich, was er Mulwig angetan hatte. Verschweigen war ja nicht lügen.

Mama Marika wirkte keineswegs überrascht, nahm ihn, nach seinem Geständnis, tröstend in den Arm.

„Es tut gut, die Wahrheit zu sagen. Nicht wahr, junger Mann? Der eine Gott wird dir vergeben, jetzt wo du Einsicht gezeigt hast."

Di fiel ein Stein vom Herzen.

„Du kannst hier bei uns bleiben, Dieke. Solange du möchtest. Wir haben immer einen freien Platz für dich an unserem Tisch", erklärte sie ihm mit sanfter Stimme.

„Ich habe leider keine Geschenke mehr, die ich geben kann", entschuldigte er sich.

Marika lächelte sanft: „Du musst dir unsere Liebe nicht mit Geschenken kaufen. Aber du könntest mir stattdessen die ganze Wahrheit erzählen, wenn du dafür bereit bist."

Für einen Moment stockte Di der Atem. Wie konnte sie das nur immer wissen?

„Die Briefe, welche dir der Junge ohne Namen hinterlassen hat. Magst du mir erzählen, was es damit auf sich hat?"

Er überlegte rasch. Sollte er die Wahrheit sagen oder erneut eine Lüge sprechen? Was machte es letztlich für einen Unterschied?

„Ich wollte die Briefe übersetzen lassen. Ich vermutete, dass..."

Er erinnerte sich an Bohns' Worte: „Leider gibt es hier eine Person, die mehr weiß, als sie wissen soll" und „Wenn der Sturm den Schöpferzorn bringt, dürfen wir keine Wunden tragen."

Pakys Verschwinden. Bohns und diese beiden dummen Söldner waren daran beteiligt gewesen. Das wusste er nun. Wegen einem dieser verfluchten Briefe. Und sie hätten auch ihn deswegen verschwinden lassen. In einen Sack hatten sie ihn stecken wollen.

„Ich vermutete, dass sie ein Geheimnis bergen. Ein Geheimnis, welches vielleicht von großer Wichtigkeit sein könnte."

Marika musterte ihn genau, doch konnte Di an ihrem Gesichtsausdruck nichts ablesen.

„Ich glaube dir", sagte sie und doch wusste er sofort, dass sie es nicht tat.

„Du bist bleich um die Nase. Du solltest etwas essen."

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