41 - Der Gerechte (3)
„Wir sollten sie alle aufhängen. Herzfresser, Rosen, Zadar...", sprach Terek und sogleich nutzte Malto dessen kurze Pause aus, um seinen Satz für ihn zu beenden: „Und damit Emorhor ins Chaos stürzen?"
„Natürlich nicht. Ich kenne die Konsequenz", verdeutlichtete Terek noch einmal und schob nach:
„Mit noch mehr Blut und Tod werden wir nichts erreichen."
„Vermutlich ist es auch keine gute Idee", merkte Malto an, „noch weitere hunderte Unbekannte durch unser Tor zu lassen. Wie viele weitere Mörder und Feuerleger werden wir uns dadurch in die Stadt holen?"
Terek wusste das es stimmte, was Malto sagte und dennoch: „Wegen einer handvoll Bastarde können wir nicht das Leben von zahlreichen Unschuldigen aufs Spiel setzen. Wir sind nicht Surme", gab er klar und deutlich zu verstehen.
„Geoyi Jun'Ilie,", entgegnete Malto, „wir haben übrigens nach wie vor keine Antwort von ihm diesbezüglich erhalten. Er scheint jedoch Erfolg damit zu haben, die Tore Surmes zu verschließen. Er hat die Befreier hinrichten lassen und seitdem Frieden in der Stadt."
Terek antwortete nicht. Vermutlich wäre es besser, würde er fähigeren, gütigeren Mann im weißen Garten platzieren. Jemand, der gerecht und nicht feige ist. Aber welche fähigen Männer blieben ihm noch, denen er die weiße Stadt anvertrauen konnte?
Er dachte an die junge Ajali und wurde sich noch einmal bewusst, dass er nicht einmal ihr Gesicht kannte, geschweige denn, welche Aufgabe sie zuvor im großen Tempel Kapolors innehatte. Wenn er ehrlich war, glaubte er nicht einmal, dass Elondo Mes'Alwatu sie wirklich gekannt hatte.
Sie erreichten die Sonnenpyramide und Terek verabschiedete sich von Malto mit der Anweisung, er solle zum Nachmittag alle zusammenrufen, die noch von Bedeutung seien. Hernak und Schwertmeister Hurion, auch Yilberts rechte Hand Gosset solle er rufen.
„Welch ein erbärmlicher Haufen", dachte er sich, als er sie namentlich alle aufgezählt hatte.
Hohepriester Sande hatte damals einen Mann wie Zet zur rechten Hand, den belesenen Agosto Sul'Makamo oder den surmesischen Altpriester, und zuvor bei Nobossop Sek'Modun in Ungnade gefallenen, Gozimo Pal'Palenga sowie eine handvoll weiterer Helfer und Berater, die ein am Boden liegendes Volk aufzubauen hatten und diese Aufgabe mit all ihrem Herzblut angegangen waren. Nach Tereks Meinung war ihnen dies auch außerordentlich gut gelungen.
Große Namen, große Männer aus längst vergangenen Zeiten. Besseren Zeiten, die er selbst miterleben durfte.
Seine Gedanken kreisten die nächsten Stunden wieder um M'Kelya, was ihn selbst beschämte. Er sollte an Yilbert denken, seinen ermordeten Stadtverwalter. Diesen ehrbaren, tugendhaften Mann mit dem Herzen am rechten Fleck. Ein guter Freund und Ratgeber. Ermordet in seinem eigenen Zuhause von Feiglingen, die ihr Gesicht verbargen und in der Menge untertauchten.
„Ich werde jeden zur Rechenschaft ziehen. Über jeden einzelnen werde ich Gericht halten", schwor er sich immer wieder, ehe er endlich wieder in den Schlaf fand.
Auch die Zusammenkunft ihres Rates brachte zunächst keine echten Lösungen, wie sie den „Weg der Gerechtigkeit" beschreiten könnten. Hernak schwieg, während Hurion und Malto viel und doch nichts sagten. Der alte Hauptmann der Schwerter sah in dem erneuten Feuer einen Racheakt für die zuvor von Terek veranlassten Hinrichtungen.
„Antworten wir nun mit Gewalt, wird ihre Antwort das Echo der unsrigen sein", befand er.
„Antworten wir nicht", war hingegen die Meinung Maltos, „werden sie es uns als Schwäche auslegen. Ein Opfer, welches sich nicht wehrt, wird immer wieder Opfer sein."
Es war Gosset, der Terek erstmals aufhorchen ließ. Der junge Mann mit dem kahlgeschorenen Kopf und dem Allerweltsgesicht, einst als Schreiber im Dienste Mezertes, deutete an, weshalb Yilbert ihn wohl zu seiner rechten Hand gemacht hatte: „Wir dürfen den Menschen keine Gelegenheit mehr geben Feuer zu legen und zu morden und sie gleichzeitig einem nützlichen Zwecke dienen lassen."
„Schwach. Wollen keine Speere tragen", wandte Hernak ein, doch Yilberts Mann winkte ab und wusch den Einwand des Hauptmannes beinahe unverschämt beiseite: „Stadtverwalter Zur'Konyett hat diesen Vorschlag einst abgelehnt. ‚Gosset, mein Junge', hatte er gesagt, ‚die Mutter wird solche Unvernunft für ihre armen Kinder nicht dulden.' Ich sagte ihm, dass ich einige Männer der Bruderschaft gut kenne und ich daher auch allerlei über ihre Kriegskunst weiß."
„Kriegskunst", wiederholte Hurion in spöttischem Ton, „als ob die Feuerreiter auch nur eine Kunst außer der des, zugegeben, perfektionierten Wahnsinns beherrschen."
Hernak machte mit einem überaus freimütig vergnügten Glucksen seine Zustimmung deutlich.
Gosset hingegen ließ sich von den beiden Männern nicht beirren: „Als Mezerte sich den wiederholten Plünderungen durch die Haywan ausgesetzt sah, war meine Heimat noch nicht als ‚Stadt der Flammen' bekannt und die Bruderschaft ein zu vernachlässigender Haufen freier Krieger, im Geheimen der krysarischen Vielgötterei zugeneigt."
„Wir sind mit Mezertes Vergangenheit und der der Feuerreiter vertraut, Gosset", beendete Malto rasch die kleine Geschichtsbelehrung und forderte den jungen Mann auf, endlich seinen Punkt zu machen.
„Gräben", antwortete dieser prompt.
„Tiefe Gräben, Wälle und Pfähle werden Schwarzträne einen Angriff erschweren. Emorhor musste sich nie gegen einen Feind erwehren, weshalb seine Verteidigung schwach ist. Hohe Mauern, Skorpione, Ligpix und rund achthundert Verteidiger sind gut, aber das könnte alles noch viel besser sein. Das frühe Mezerte hat jeden Mann und jede Frau, die dazu in der Lage waren, für den Aufbau ihrer legendären Verteidigungslinien eingesetzt. Niemand, nicht einmal Schwarzträne würde es wagen Mezerte anzugreifen. Oh mein Herr", er wandte sich nun direkt an Terek, „alle diese Geflüchteten sind hier um Schutz zu suchen. Ich sage, auch sie sollen ihren Teil dazu beitragen. Die roten Brüder vermuten, dass uns wohl nicht mehr allzu viel Zeit bleibt, doch diese möglicherweise wenigen Tage sollten wir noch nutzen. Vor und nach der Mittaghitze sollten wir sie alle aus ihren Lägern vor unser einzig verbliebenes Tor schicken und für ihren eigenen Schutz arbeiten lassen, Seit an Seit mit allen Männern, die auch wir entbehren können."
„Ihr wollt diese armen, ihrer Heimat beraubten, Seelen für uns arbeiten lassen? Hat euch der Wahnsinn befallen?", empörte sich Hurion sogleich
„Wir werden niemanden zwingen", erklärte Gosset sofort, „doch wenn wir ihnen im Gegenzug anbieten, ihre Essensrationen aufzustocken, werden es sich einige von ihnen sicherlich gründlich überlegen. Der Krieg ist nahe. Vor und hinter unseren Mauern. Wir müssen alles tun, um beide zu gewinnen."
„Vorräte knapp. Belagerung lange, wir verhungern", merkte Hernak richtig an.
„Der Krysa-Bastard ist bislang nicht durch Belagerungen aufgefallen", bemerkte Gosset richtig, der erneut widersprach. Manche mochten es unverschämt und aufsässig nennen, wie sich der junge Mann gebarte, doch Terek erkannte darin eine Form forschen Mutes. Ein frischer Wind, den sie alle nötig hatten.
„Der junge Gosset hat Recht", sprang Terek ihm bei, „wir werden ihnen das Angebot unterbreiten. Hoffen wir, dass sie es wohlwollend annehmen."
Und sie nahmen es wohlwollend an. Zu seiner Überraschung machten sich noch am frühen Abend Hundertschaften von Männern und Frauen auf den Weg vor die Tore, um mit den Arbeiten zu beginnen.
Unter Aufsicht der Baumeister, die Terek kurzerhand Gosset unterstellt hatte, gruben die Männer und Jungen an einem langen, breiten Graben vor der Nordmauer, schütteten direkt dahinter das Erdreich zu einem Wall auf, während die Frauen und Mädchen mit Krügen voller Wasser umhergingen, um die durstigen Arbeiter zu versorgen.
„Verweigerer sind verdächtig. Beobachten sie", versicherte Hernak.
Und es gab tatsächlich einige wenige Kräftige, die sich von der Arbeit fernhielten. Gleich welche Gründe es waren, die sie verweigern ließen, so wusste Terek doch, dass Hernak recht hatte.
Vielleicht würden sie auf diese Weise tatsächlich noch einige faule Früchte aussortieren können.
Wer wusste das schon?
Wieso nur waren er oder einer seiner Berater nicht schon vorher auf diese Idee gekommen?
Er kannte die Antwort. Noch vor wenigen Wochen hätte er dieselben Worte gesprochen, wie der alte Schwertmeister.
Die meisten seiner Kinder mochten keine Speere in die Hand nehmen, das konnte er ihnen nicht verdenken. Doch wenn er ihre Kraft dafür nutzen konnte, Schwarzetränes Mannen das Leben auf andere Weise schwer zu machen, dann musste er dies tun.
Eine Nacht ohne Feuer, ohne Mord verging und der nächste Morgen entfaltete sich in rotgoldenem Gewand. Auch wenn ihm seine Mahlzeiten noch nicht wieder so recht munden wollten, so begann er den Tag doch ohne Gram und ohne Zorn, wie er es in seinem morgendlichen Gebet von der Mutter erbeten hatte. Man geleitete ihn zum Nordtor, wo er über die steinernen Treppenstufen den Wehrgang erklomm, um seinen Kindern dabei zuzuschauen, wie sie ihre Arbeit angingen. Es erfreute ihn, sie bei guter Laune zu sehen. Der Großteil von ihnen schien mehr Freude an der körperlichen Arbeit zu finden, als an dem tatenlosen Herumsitzen am Ufer des Kaposiqi. Der Graben war bereits breit und tief. An einigen Stellen gar breiter und tiefer, als man es in der kurzen Zeit hätte erwarten können.
„Was wäre nicht alles zu bewerkstelligen gewesen, hätten wir früher gehandelt? Wenn wir solche Überlegungen nur früher zugelassen hätten?", fragte er sich angesichts des raschen Fortschrittes.
Müsige Gedankenspiele, wie er wusste.
Immer wieder glitt sein Blick zum Horizont, zu den Bergen in der Ferne, wo er hoffte dort bald die Rückkehr der Söldner und die gleichzeitige Ankunft seiner Kinder aus Rokhejlhor erblicken zu dürfen.
Ein Tag. Es war erst ein Tag vergangen. Er würde sich noch gedulden müssen, wusste er.
Währenddessen schwebten immer mehr Vögel über seinen Kopf hinweg. Sie alle suchten in seiner Stadt einen Platz zum Ruhen. Bunte Schwärme voller ungewöhnlicher Tierchen, die sich in diesen Teil Namuns verirrt hatten. Ob sie aus der Weite im Osten oder dem hohen Norden kamen, wusste er nicht zu sagen.
„Ein wenig Buntheit und fröhliche Lieder können uns nicht schaden", hatte Gosset gestern Abend zu ihm gesagt. Kurz darauf hatte sich ein wunderschönes, goldgelbes Exemplar auf einem der Skorpione niedergelassen. Es gab den Männern ein kurzes Liedchen zum Besten, um schließlich wortwörtlich auf ihren großen Pfähler zu scheißen und davonzufliegen. Wenn sich ein einfacher Mann wie Gosset an deren Anwesenheit erfreuen konnte, dann würde dies auch für viele andere gelten. Und ein wenig Freude war das, was sie gerade alle dringend brauchten in diesen so freudlosen Zeiten.
Während Gräben und Wälle sich vergrößerten wie zwei gigantische, unersättliche Würmer, genoss Terek das Treiben vor seinen Mauern. Manchmal schloss er dabei die Augen und fühlte sich an bessere Zeiten erinnert. Noch nicht allzu lange war es her, als er noch unbeschwert durch die Menschenmassen schreiten durfte, die sich um und zwischen den zahlreichen Händlern drängten, die ihre Stände auf dem Marktplatz in unmittelbarer Nähe zur Sonnenpyramide aufgeschlagen hatten.
Zustände, die er wieder herstellen würde.
Am frühen Abend des zweiten Tages war es schließlich soweit. Als er nach einem Besuch bei Hernak und seinen Rekruten, die allesamt große Fortschritte machten, wieder die Treppe zum Wehrgang über dem Stadttor emporstieg, empfingen ihn dort bereits Malto und Gosset, aufgebracht wie zwei Jungfrauen.
„Seht, oh mein Herr", rief ihm Letzterer auf halber Wegstrecke bereits entgegen und deutete in die Ferne. Terek sah.
Pferde und Wägen sowie hunderte von Menschen strömten wie ein zähfließender Fluss entlang der schmalen Pfade der zerklüfteten Hügel des Nordens. Ein grau-brauner Menschenstrom umrahmt von den Pferden der roten Brüder.
Die Ersten vor seinen Mauern legten bereits ihre Arbeit nieder, als auch sie bemerkten, wer sich dort aus der Ferne näherte. Die Nachricht verbreitete sich rasch unter seinen Kindern, ja selbst die schutzsuchenden, fremden Vögelchen sangen aufgebracht ihre Lieder und zogen, hoch über allen Köpfen, ihre Bahnen. Terek konnte die Erleichterung und die Freude spüren, die sich breitmachte. Ein Gefühl, welches wie eine gigantische Flutwelle über die Mauern Emorhors schwappte und ihn, nein, sie alle, umhüllte.
„Sie kommen", strahlte er, „meine Kinder, sie kommen und sie scheinen wohlauf."
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