41 - Der Gerechte (1)

Terek wandte seinen Blick nicht ab, als Herzfressers Blutkrähen einen nach dem anderen in die Höhe zogen, um deren vermeintlich gerechten Tod herbeizuführen.

Behelfsmäßig musste dabei die Stadtmauer als Galgen herhalten, da Emorhor seine Holzvorräte fast vollständig für seine Skorpione aufgebraucht und dafür alles verwendet hatte, was irgendwie entbehrlich war.

Herzfresser hatte ihm ein Versprechen im Bezug auf die vom Weg Abgekommenen gegeben: Wir werden sie umschwirren, sie beobachten und sie letztlich aus den Schatten jagen. Auf das Ihr, oh mein Herr, den Zorn der Mutter auf sie regnen lassen könnt."

Es hatte keine drei Tage gedauert, da hatten die Krähen ihm ihre Jagdtrophäen auch schon präsentiert.

Vierzehn Männer und eine Frau mussten nun im Licht der aufgehenden Sonne ihr Leben lassen. Zweiundzwanzig Menschenleben hatte das Feuer gekostet, für das die Blutkrähen sie verantwortlich machten. Tod und Tod und Tod, mehr schien es nicht mehr zu geben. Die Luft stank förmlich danach.

„Möge die Mutter jene verirrten Seelen in ihrem Schoß aufnehmen", hatte Terek sein Urteil abgeschlossen. Man hatte den Verurteilten die Augen verbunden, sodass sie den Stellvertreter der Mutter am Boden nur hören, jedoch nicht sehen konnten.

Terek hatte ihre Blicke dennoch gespürt. Verachtung war es, die selbst die Leinentücher nicht verbergen konnten. In seinem Rücken riefen Frauen und Kinder nach Gnade, forderten die Liebe der Mutter ein, doch auch in ihr Rufen und Klagen hatte sich Zorn beigemischt.

„Lasst sie am Leben und der Wahnsinn wird niemals aufhören", hatte der Krähenhauptmann zu ihm gesagt und alle hatten sie ihm zugestimmt. Malto, Yilbert, Hernak und letztlich auch Terek selbst.

Er hatte Zweifel anmelden wollen, die Krähen nach ihren Beweisen für die Schuld jener Todegeweihter fragen sollen, doch wollte er auch nicht mehr zaudern. Er sehnte Frieden herbei.

„Wir können keinen Kampf vor und hinter unseren Mauern austragen", war Maltos Meinung hierzu.

„Wir dürfen nicht zulassen, dass die Befreier weiterhin die Autorität der Mutter untergraben, ihre Kinder verhöhnen. Die Männer verlieren sonst ihren Mut", gab Yilbert zum Besten.

„Wir stark. Wir siegen gegen Königskinder", lag Entschlossenheit und Überzeugung in den Worten Hernaks.

„Wir, wir, wir", dachte Terek verbittert, „dabei ist es doch Ich, ich, ich. Ich bin derjenige, der die Entscheidungen fällen muss. Ich bin derjenige, der für alle, sich daraus ergebenden Folgen geradestehen muss. Ich bin der Stellvertreter der Mutter am Boden."

Ein weiterer Mann röchelte und zappelte während seines aussichtslosen Todeskampfes. Einige der Söldner schienen sich regelrecht darüber zu amüsieren, während immerhin Hernaks Männer zumindest ihre Gefühle verbargen.

„Ein Großteil meiner Kinder wird mich hierfür hassen", dachte Terek, der seinen Blick abwenden wollte, jedoch nicht konnte, nicht durfte.

„Die Hälfte von ihnen hasst mich jetzt schon, schließlich kann ich ihnen nicht einmal mehr genug zu essen geben. So bin auch ich das Ziel ihres Zorns."

Hunger. Auch er war allgegenwärtig. Wieso auch sonst hätten seine Kinder am gestrigen Abend die eingetroffene Kolonne der Wüstenfüchse regelrecht überfallen sollen? Ein Mann der Stadtwache und ein Fuchs hatte diese Ausschreitung das Leben gekostet.

Zadar konnte somit den Hinrichtungen ebenso etwas Gutes abgewinnen.

„Ich habe erst kürzlich einen meiner Männer in der gelben Bucht verloren, jetzt schon wieder. Immerhin glaube ich nicht, dass sich dies, nach dem heutigen Schauspiel, wiederholen wird", hatte er Terek noch heute Morgen bei seinem täglichen Rapport mitgeteilt.

„Sieben Neue. Nicht beschweren", hatte Hernak ihm daraufhin entgegnet und dafür ein breites Lächeln des Hauptmannes geerntet, woraufhin dieser erwiderte: „Echten Männern gefällt die Aussicht, das Blut der Krysari vergießen zu dürfen."

Eines musste man den Füchsen lassen. Sie schafften es immer wieder, im Süden neue Männer für diesen Krieg anzuheuern. Dabei war es doch das Gold, Tereks Gold, welches solche Männer in den Norden lockte, weniger das Blut, das es für sie zu vergießen gab.

Als man dem letzten Königskind oder Befreier oder wie auch immer man sie nennen wollte, die Schlinge um den Hals gelegt hatte, rief dieser, passend zu Tereks aktuellem Gedanken: „Sie belügen Euch, oh mein Herr. Bei der Mutter, sie belügen Euch."

Eine der Blutkrähen brachte ihn schließlich, mit einem Schlag in den Bauch, zum Schweigen.

„Messer,.....Schlachten,....König", waren seine letzten erstickten Worte, bevor er langsam aufhörte zu zappeln und nach einigen, ewig scheinenden, Momenten schließlich schlaff und regungslos neben den anderen leblosen Körpern hing, die sie noch bis in die Abendstunden an der Mauer würden hängen lassen.

„Soll es diejenigen abschrecken, die noch immer nicht wissen, auf welcher Seite sie stehen", hatte Herzfresser vorgeschlagen und wieder hatte Terek zugestimmt.

„Öffnet das Tor", ertönte die laute Stimme der Hyäne auf dem Wehrgang, als Terek gerade, wie immer in Begleitung seiner Leibgarde, auf dem Weg zurück in die Sonnenpyramide war. Unter lautem Ächzen öffneten daraufhin mehrere Männer, die inzwischen massiv verstärkten Flügel ihres letzten verbliebenen, sprich nutzbaren, Stadttores.

„Sie werden zu tausenden sterben, wenn sie versuchen dieses Tor zu durchbrechen", dachte Terek stolz, als er beobachtete, welche Anstrengung es die Soldaten mittlerweile kostete, jemanden einzulassen.

Ein Reiter galoppierte in einer Wolke aus Sand und Staub in seine Stadt und brachte seinen Gaul nur mit großem Kraftaufwand zum Stehen. Das Maul des Tieres war voller Schaum, dessen Flanken blutig. Eilig sprang der rote Bruder vom Rücken seines Pferdes herunter, taumelte kurz, ehe er zum Stehen kam und sich hastig in sämtliche Richtungen umschaute, während man sich rasch um sein Pferd kümmerte.

„Rokar! Mein Hauptmann! Holt Hauptmann Rokar hierher", rief er, völlig aufgelöst und nach Atem ringend, jedem und doch niemand Bestimmtem zu. Es dauerte lange, bis er den herannahenden Terek erspähte, was ihn sofort zu einer tiefen Verbeugung zwang.

Der Söldner war vergleichsweise jung, womöglich noch keine zwanzig Lebensjahre zählend, kaum Gesichtsbehaarung, welche sein weiches, rundes Kinn verbergen konnte.

„Wie ist dein Name, Junge?", wollte Terek von ihm wissen.

„Ich heiße Barabo, oh mein Herr", antwortete er rasch und in unterwürfigem Ton, den Blick überwiegend auf die staubige Straße gerichtet.

Tereks Leibwächter hatten bedrohlich ihre Doppelspeere auf den Jungen gerichtet.

„Barabo, sag' mir, was dich so in Aufregung versetzt hat."

„Rokhejlhori", schoss er seine Antwort so schnell ab, wie einen Pfeil.

Geyons Kinder würden also doch noch vor Schwarzträne die Hauptstadt erreichen? Es war die beste Nachricht seit langem.

„Sie sind auf dem Weg hierher? Wie viele? Wie lange noch?", wollte Terek wissen.

Ehe er antworten konnte, kamen auch schon Rokar, der Ältere sowie zwei seiner Männer, schnellen Schrittes, aus Richtung Kaposiqi auf sie zugeeilt.

„Mein Herr", nickte der rote Bruder mit dem verblichenen Umhang dem Hohepriester respektvoll zu, bevor sich dem jungen Reiter zuwandte: „Was bringst du aus dem Norden mit?"

„Die Rokhejlhori passieren die Hügel, sie werden in zwei oder drei Tagen hier eintreffen. Sie sind müde und erschöpft, aber die Aussicht auf Emorhor lässt sie ihre Schmerzen vergessen."

„Wie viele von ihnen?", wollte Terek wissen. Die Antwort erhielt er von Rokar: „Sie werden kaum noch fünfhundert Köpfe zählen. Aber es werden genug sein, um noch mehr Löcher in unsere Vorräte zu fressen."

„Die Füchse werden Euch einen Wagen mit Vorräten beladen", versuchte Terek die unverschämte Bemerkung zu überhören, „und ihr werdet ihnen entgegenreiten, ihnen sicheres Geleit in die Hauptstadt bieten."

Für einen Moment kniff Rokar die Augen zusammen, so als bemühe er sich, nichts Unüberlegtes mehr zu sagen, dann entließ er Barabo mit einer einfachen Handbewegung und sprach zu seinen beiden Mitstreitern: „Sattelt mir ein Pferd. Ich persönlich werde losreiten und zehn meiner besten Männer mitnehmen."

Er legte dem Mann zu seiner Rechten die Hand auf die Schulter: „Malak, ich übergebe dir den Befehl, solange ich weg bin."

Der Angesprochene nickte nur stumm und klopfte sich entschlossen auf die Brust, bevor er und sein Nebenmann abdrehten und ihren Hauptmann zusammen mit Terek und seinen Leibwächtern allein ließen.

„Ich lasse Zadar informieren, dass er Euch eine entsprechende Wagenladung bereitstellt", teilte ihm Terek mit. Er mochte seine Verwunderung über Rokars Einsatz nicht laut aussprechen. Soll der Mann ruhig denken, dass er dies ohnehin von ihm erwartet habe.

„Habt Dank", entgegnete Rokar, „meine Mannen und ich werden anschließend umgehend losziehen."

Es dauerte einen Moment, während der Söldner nachdenklich auf seiner Unterlippe herumkaute, ehe er anfügte: „Entschuldigt, dass ich meinen Unmut laut, im Beisein anderer, geäußert habe."

„Eine Entschuldigung ist nicht angebracht", wiegelte Terek ab.

Er war froh, dass die Söldner mittlerweile das taten, was er von ihnen verlangte. Auf Nettigkeiten legte er keinen Wert mehr.

Vom Wehrgang über dem Stadtor aus, beobachtete er, wie elf der roten Brüder Emorhor schließlich Richtung Norden verließen. Der Wagen mit den beiden Ochsen, würde es schwer haben in dem zerklüfteten, hügeligen Gelände im Norden, doch brauchten seine Kinder da draußen alle Kraft, die er ihnen geben konnte, um diese letzte, kraftzehrende Hürde nehmen zu können. Diese armen Seelen mussten allesamt erschöpft und ausgehungert sein.

Die Wüstenfüchse hatten säckeweise Nüsse und Getreide, aber auch Brot und Käse, sowie vier Fässer mit frischem Wasser für die Flüchtigen verpackt, befüllt und verladen. Einige mochten diese lange, strapaziöse Reise von Rokhejlhor nicht überlebt haben, doch auf dem letzten Teil ihres langen Marsches würde keiner von ihnen mehr sein Leben lassen, das hatte Terek sich geschworen.

Maltos Zähneknirschen ließ ihn den Blick vom Horizont abwenden, wo Reiter und Wagen immer weiter schrumpften und nurmehr so groß erschienen, wie Mäuse: „Zwei bis drei Tage, bis die Rokhejlhori Emorhor erreichen, sagen sie. Wie viele Tage noch, bis Schwarzträne hier eintrifft?"

„Rokhejlhor gefallen", bemerkte Hernak mit bitterem Unterton.

Mittlerweile glaubte niemand mehr daran, dass die südlichere der beiden Nordstädte noch unter der schützenden Hand der Mutter lag. Emorhor war mittlerweile der letzte Schild, der den Süden Namuns schützte.

Ein kleiner Vogel mit blauschimmerndem Gefieder ließ sich derweil auf den Zinnen der Mauer nieder, nur eine Elle von dem Hohepriester und seinen beiden Beratern entfernt.

Terek hatte ein derartiges Exemplar noch nie zuvor gesehen. Es war kleiner als die zahlreichen Sandlerchen, die hier lebten, besaß jedoch einen weitaus längeren Schnabel. Unbeeindruckt von den Männern hüpfte es singend auf dem Stein umher und schlug ab und an mit den Flügeln, so als wolle es den Menschen einen Tanz darbieten. Nur wenige Sekunden dauerte das Schauspiel, da erhob es sich prachtvoll in die Lüfte und glitt auf seinen Schwingen Richtung Kaposiqi davon.

„Vögel suchen Schutz", bemerkte Hernak, deutlich weniger knurrend, als er sich noch zuvor gegeben hatte.

„Solch eine Art gibt es nicht im Norden. Zumindest habe ich sie noch nie zuvor gesehen", wunderte sich Terek.

„Eine Missgeburt womöglich", gab sich Malto achselzuckend, „Auch Missgeburten besitzen manchmal eine gewisse Schönheit."

„Fürwahr", dachte Terek und aus einem ganz bestimmten Grund ließen ihn weder der Vogel noch Maltos Worte in dieser Nacht ruhig schlafen.

Er dachte an M'Kelya, sein süßes Mädchen von damals, an ihre viel zu kurze, gemeinsame Zeit. Oh, manchmal erschien es ihm, als wäre alles eine längst vergangene Geschichte, welche man zeit seines Lebens so oft gehört hatte, dass man dazu Bilder vor Augen sah, die einem vorgaukelten, man wäre dabei gewesen. So träumte er von Tasmanuks großem Feldzug gegen den Norden. Zusammen mit tausenden namunschen Kriegern marschierte Terek dabei durch ein Feld des Feuers. Bäume und Sträucher brannten zu ihrer beider Seiten. Vögel stoben lodernd von den Flammen in die Lüfte und stürzten wieder ab, wie Feuerregen. Der Himmel über ihren Köpfen brannte lichterloh. Der Geruch von Rauch lag schwer in der Luft, Hitze waberte und der Schweiß stand ihnen allen auf der Stirn. Gesichtslose Königskinder rannten vor ihnen davon, doch mit ihren brennenden Schwertern erwischten Tasmanuks Krieger sie alle. Einen nach dem anderen. Auch Terek schlug wild nach allen Seiten. Er trennte einem von ihnen den rechten Schwertarm ab, durchbohrte einen zweiten, der sofort in Flammen aufging und brennend wie sterbend davontorkelte. Er enthauptete einen dritten mit einem einzelnen Hieb und er fühlte sich gut dabei. Terek fühlte sich stark und voller Zorn, so wie er sich seit vielen, vielen Jahren nicht mehr gefühlt hatte. Er schmeckte Blut und Feuer auf seiner Zunge und beflügelt vom gerechten Tod, den er und seine Kameraden über den Feind brachten, begann er loszurennen. Doch er rannte nicht, er flog wie ein großer Vogel mit meterweiten Schwingen über das Schlachtfeld hinweg, wo die Kinder des Hohepriesters siegten.

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