39 - Der Kaymo (3)

„Unsichtbar?", hakte Suki erneut nach und erntete einen leeren, nachdenklichen Blick des Kaymo, der sich schließlich wortlos neben sie kniete und mit einer Hand auf der Seitenwand abstützte. Dabei erkannte Suki, dass seine Hände blutverschmiert waren, sich die Abdrücke der beiden hölzernen Griffe in seinen Handflächen abzeichneten.

„Du musst dir keine Sorgen machen, Suki. Diese handvoll Feiglinge werden uns nichts tun", versicherte er und scheiterte bei seinem anschließenden Versuch zu lächeln.

„Weißt du, in einem längst vergangenen Leben hatte ich ebenfalls eine kleine Tochter. Sarya war ihr Name. Ich liebte sie über alles. Sie war das größte Glück, das mir je widerfahren war. Ihre Haare waren rot wie Feuer, ihre Augen strahlten ebenso hell. Du erinnerst mich an sie, Suki."

Das wusste sie nicht. Boko hatte nie mit ihr darüber gesprochen, was vor seinem Leben als Kaymo gewesen war. Sein Vergleich brachte sie ein wenig in Verlegenheit. Als sie in seine müden, eingefallenen Augen blickte, erkannte sie Traurigkeit, was sie ebenfalls traurig stimmte.

Er blickte gen Nebel: „Als man sie den letzten Flammen übergab, erkannte ich es. Ich hatte es hunderte Male gesehen, doch nie wirklich begriffen. Die Flammen verbrennen nicht die toten Körper. Sie ebnen uns den Weg. Sie transportieren uns zu unseren Ahnen. Nur durch sie werden wir zum Nebel des alten Volkes. Das Gara hingegen..."

Er stockte. Seine Hand hinterließ einen blutigen Abdruck auf der Seitenwand.

„Ich habe dir schon einmal die Geschichte von Ko'uken erzählt, dem weißen Wesen, welches alle Kumari fürchten, dessen Schlund ein See aus Flammen sei. Feuer, welches jeden, den es berührt, mit Haut und Haaren auffrisst, ohne einen Weg in den Nebel zu ermöglichen. Ich muss es wissen, Suki. Ich muss es direkt von den Weißen der Kumari hören. Ich muss wissen, wer dieser große Mann aus dem Wasser ist und was es mit diesem Geschenk auf sich hat. Ich habe Angst um meine kleine Sarya."

Als hätte er neue Kraft hieraus geschöpft, packte er erneut die beiden Griffe des Karrens und legte ein Tempo vor, welches Suki seit dem Aufbruch aus ihrer Siedlung nicht mehr erlebt hatte.

Wieso nur hatte er Angst um seine Tochter, die im Nebel über ihnen wachte? Was hatte sie mit dem Splitter zu tun? Er brauchte wirklich dringend etwas Ruhe, etwas Schlaf, entschied sie.

Suki hielt diese Geschichte um das Gara nämlich noch immer für ein Märchen. Sofern dem Splitter tatsächlich etwas innewohnte, so konnte es unmöglich etwas Böses sein, wenn es ihr doch so viel Gutes bereitete. Erneut ließ sie ihre Finger tanzen, um sich schließlich auch restlos davon zu überzeugen.

Als sie die ersten grünen Gräser am Rande der Wege sprießen sah, wusste sie, dass die Berge zumindest für sie beide nicht ewig sein würden. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals so sehr über ein Büschel Gras gefreut zu haben, wie in jenem Moment.

„Die Straße wird bald enden. Unser Vorsprung ist geschmolzen, aber wir werden dennoch als Erste in Moega Uliuli ankommen", kündigte Boko an. Erleichterung schwang in seiner, schwächlich klingenden Stimme mit.

„Eine kurze Strecke durch die Mokoros bleibt uns nicht erspart, aber das wusstest du ja, Suki. Freue dich. Bald werden wir wieder etwas essen können, das uns beiden schmeckt."

„Schlaf", erwiderte Suki nur.

„Ja, ein wenig Schlaf wünsche ich mir wirklich sehr, da hast du recht. Aber zunächst muss ich noch für dich sprechen. Verkünden, was du zu verkünden hast. Ich hoffe nur, dass die Kumari auf uns hören."

Die Mokoro-Sümpfe sollten eine letzte Herausforderung für sie darstellen. Das Fortkommen auf dem weichen Untergrund gestaltete sich teilweise sehr schwierig. Mehrere Male musste Boko den Karren, mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, aus Schlamm und Morast befreien. Eine braune Schicht der zähen Suppe bedeckte seine beiden Beine mittlerweile bis hinauf zu den Knien. Suki kam sich indes noch unnützer vor als zuvor in den Bergen. Sie konnte dem Kaymo aber auch nicht raten, seine Kräfte zu sparen, es langsamer angehen zu lassen. Laut Bokos Schätzungen sollten die Kaysus ebenfalls bereits den Gräserwald hinter sich gelassen haben. Er hoffte darauf, dass sie einen Zwischenstopp in der Narbe einlegen würden, doch Suki bezweifelte das. Ihr Onkel Peseo würde auf dem Weg zur hölzernen Krone keine unnötigen Pausen dulden.

Immerhin boten die Sümpfe mehr Nahrung als die kargen Berge. Von den Mokoropilzen konnte sie noch nicht kosten, doch die Froscheier sowie der dicke, klebrige Saft der Herzbeeren, welche Boko nebenher für sie gesammelt hatte, schmeckten ihr wunderbar. Tausendmal besser als Graubäumchenrinde und Gelbgras.

Fernab der üblichen Wege gewann Suki völlig neue Eindrücke von der Welt der Kumaro.

So führte ihr Weg etwa vorbei an Blumen mit armdicken Stängeln, beinahe so groß wie der Kaymo selbst, in gelb und orange erstrahlend. Da standen sie, aufgereiht wie das gegenwärtige Volk, welches ihrem Kayken lauschte, doch waren in den Sümpfen nur die Frösche und Grillen am Erzählen. Sie passierten kleine Seen, die so grün waren, wie die Gräser im Gräserwald. Auf ihrer Oberfläche trieben Blätter, so groß wie Sukis Karren und auf ihnen thronten wiederum die größten und schönsten Ahnenaugen, die Suki je untergekommen waren.

Am beeindruckendsten aber empfand sie einen Ort, über den Boko sagte, dass praktisch nur er sie noch von ihrem Ziel trenne. Ein überaus ungewöhnlicher Hain, in denen Pilze mit rotleuchtenden Hüten wuchsen, die sich beinahe dem Efeu gleich, an alten, toten Bäumen emporhangelten. So färbten sie Baumstümpfe und aus dem Boden ragendes Wurzelwerk, bis hinauf in das dicke, knorrige Geäst in ein tiefes Blutrot.

„Der blutende Hain", erklärte er Suki.

„Die Kumari nennen ihn auch den gefräßigen Wald. Würden wir unseren Karren hier stehen und eine Weile vergehen lassen, könntest du darauf vertrauen, dass die roten Kahoko, so nennt man nämlich diese Pilze, ihn letzten Endes vollständig unter sich begraben hätten."

„Kahoko", wiederholte Suki, die fasziniert war von dem gefräßigen, roten Pilzteppich.

Es war fast, als würden die unzähligen Pilze anfangen leise miteinander zu murmeln, als Boko begann mitsamt Karren durch sie hindurch zu ziehen. Ein bedächtiges, aber durchgehendes Rauschen, welches Suki nicht behagte. Bei aller obskurer Schönheit, die der blutende Hain bot, sie hoffte dennoch, dass es nicht allzu lange dauern würde, bis sie ihn durchquert hatten. Laut quatschte jeder von Bokos Schritten und es dauerte nur wenige Umdrehungen, da hatten sich die großen Räder des Karrens blutrot eingefärbt.

Sukis Finger begannen leicht zu zucken, als sie plötzlich die Hitze des Geschenks in ihrer Handfläche spürte. Wäre die Vorstellung nicht so lächerlich gewesen, hätte sie glatt behauptet, dass der Splitter ebenfalls Unbehagen verspürte.

Je intensiver sie sich mit dem Rauschen beschäftigte, desto mehr glaubte sie, Zeugin eines Flüsterns zu sein. Und je mehr sie sich auf das vermeintliche Flüstern konzentrierte, desto sicherer war sie sich, einzelne Wörter zu verstehen.

Worte, die zunächst keinen Sinn ergaben, von denen sie nicht einmal sicher wusste, ob diese nicht möglicherweise dem Schatz der Kumari entstammten.

Als sie schließlich das Wörtchen „Kayken" laut und deutlich vernahm, erschrak sie und blickte in den Nebel über ihren Köpfen, in dem sich schemenhaft die roten Äste der toten Bäume zeigten.

Der Karren war zum Stehen gekommen, wodurch eine beängstigende Stille eingetreten war.

„Boko?", murmelte Suki und versuchte krampfhaft sich umzudrehen, um nach dem Rechten sehen zu können. Der Kaymo hatte sich nie einfach von ihr entfernt, wenn sie geschlafen hatte. Wenn er nach etwas Essbarem suchen war, dann immer in Hörweite und nie, ohne Suki sein Vorhaben vorher mitzuteilen.

Gerade als sie es unter Aufwendung all ihrer spärlich vorhandenen Kraft geschafft hatte, sich auf die Seite zu drehen, schellte eine blutige Hand die Außenwand des Karrens hoch und krallte sich an dessen Kante fest.

„Es tut mir Leid, Suki", gab sich Boko beinahe reumütig, als sein rotverschmiertes Gesicht dahinter auftauchte.

Boko sah furchtbar aus. Zwar realisierte sie nun, dass es kein Blut war, welches an ihm klebte, sondern nur Pilzbrei, doch auch ohne diesen wirkte er, wie ein Mann, der endgültig am Ende seiner Kräfte angelangt war. Es tat ihr furchtbar leid, dass sie nichts für ihn tun konnte. Nicht er musste sich entschuldigen. Nicht er war es, der rein gar nichts dafür getan hatte, dass sie ihren Weg bis zum Ende gehen konnten. Sie hatte ja nur da gelegen und nach ihrem Geschenk verlangt.

„Es tut mir Leid", wiederholte er erneut. Er hievte sich auf ein Knie hoch, hob seinen Speer und schneller als Suki aufblicken konnte, schleuderte ihn der Kaymo in Richtung der Bäume, wo er einen Mann zwischen die Brust traf. Dieser hatte seinerseits einen Speer in Händen gehalten, der beinahe geräuschlos in der roten Pilzsuppe landete, während sein Besitzer noch einige Schritte taumelnd in dem dichten, roten Dickicht verschwand.

Drei weitere Männer brachen brüllend aus ebendiesem hervor und stürmten auf den unbewaffneten Boko los. Einer warf seinen Speer, doch verfehlte er den Kaymo denkbar knapp.

Ein Zweiter holte mit einer Steinaxt aus. Sein kräftiger Schwung zischte ins Nichts, als Boko sich, agil wie ein junger Mann, zur Seite drehte, den Speerschaft des Dritten zu fassen bekam und versuchte diesen in seine Gewalt zu bekommen. Es gelang ihm. Mit dem stumpfen Ende schlug er sofort nach dessen ehemaligen Besitzer, sodass Blut aus dessen Nase spritzte und er zu Boden torkelte. Die Steinaxt teilte schließlich Bokos Speer in zwei Hälften. Noch bevor der Axtmann ein drittes Mal Schwung holen konnte, stach ihm der Kaymo die eine Speerhälfte durch den Hals.

Erschüttert kniff Suki die Augen zusammen, als sie die Spitze aus dem Nacken des Mannes heraustreten sah, der prompt leblos zu Boden sackte.

Kaum, dass sich der entwaffnete Dritte wieder aufrappeln konnte, streckte ihn der Kaymo mit einem Tritt ins Gesicht wieder zu Boden. Suki konnte nicht mehr sagen, was nun Blut und was Kahoko war. Der Erste, der den Speer geworfen hatte, war inzwischen wieder in Besitz seiner Waffe und versuchte nun von hinten zu attackieren.

„BOKO", stieß Suki einen schwachen, erstickten Schrei aus.

Dieses Mal traf ihn der Speer zwischen die Schultern, wo er stecken blieb und den Kaymo in die Knie zwang. Rasch packte dieser die Waffe mit seiner rechten Hand und versuchte sie festzuhalten. Er schaffte es nicht. Der hinterhältige Angreifer zog den Speer wieder zu sich, zerschnitt dabei die Hand des Kaymos mit der steinernen Speerspitze. Als er erneut zustechen wollte, fuhr Boko herum und dieses Mal drang die Spitze tief in seine rechte Schulter ein. Doch jetzt hatte er ihn. Boko umklammerte den Schaft und brachte seinen Angreifer mit einem heftigen Ruck zu Fall. Von einem schmerzerfüllten Brüllen begleitet, zog er den Speer aus seiner Schulter und begann, vor Wut schreiend, auf den am Boden Liegenden einzustechen.

Ein wütendes Zetern und Fluchen, welches Suki beinahe mehr ängstigte, als alles was sie bislang gesehen und gehört hatte. Fast so als wäre ein wildes, unkontrollierbares Tier in den Kaymo gefahren und hätte dort angefangen zu wüten.

Kahoko- und blutverschmiert sowie wankend wandte Boko sich schließlich dem letzten noch Verbliebenen zu, der derweil versuchte auf dem Bauch kriechend von dem Karren wegzukommen.

„Nicht! Bitte! Wir führen nur aus, was uns..."

Weitere Worte gingen in einem Röcheln unter, als der Mann begann in seinem eigenen Blut zu ertrinken, welches durch eine große Öffnung aus seinem Hals strömte. Genau dort wo ihm der Kaymo den Speer hineingejagt hatte.

Kaum das er auch den Letzten getötet hatte, blickte sich Boko zu Suki um, die unversehrt in ihrem Karren lag, als wäre nichts gewesen. Sie spürte die Finger ihrer rechten Hand und wie sie zitterten. Bokos Gesicht war das eines toten Mannes auf seinem Totenbett. Ein toter Mann, der in Erwartung der letzten Flammen seine letzte Ruhe unter den Augen des gegenwärtigen Volkes genoss. Er lächelte kurz, ehe er das viele Blut bemerkte, welches an ihm herabfloss. Daraufhin geriet er ins Wanken, verlor schließlich sein Gleichgewicht und landete mit dem Gesicht nach unten in den roten Kahokos. Dieses Mal stand er nicht wieder auf. Auch nicht, als Suki mehrere Male, unter größter Anstrengung und so laut es ihr möglich war, seinen Namen aussprach.

„Boko. Mein Kaymo. Mein lieber, letzter Freund", dachte sie sich nur. Dann brach sie stumm in Tränen aus. Sie wusste, sie war nun verloren. 

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