35 - Krieger der Mutter (3)
Eine Aussicht, die seine Hoffnung wachsen ließ, seine Sorgen milderte. Erst der nächste Morgen wischte diese Milde beiseite, wie ein Handstreich den Staub von seinem Tisch mit den unzähligen Lettern der letzten Wochen.
Einer von Hernaks Männern hatte bei seinen Eingangswächtern darum gebeten, dass Terek dessen Herren umgehend aufsuchen solle, sodass der Hohepriester ohne auch nur einen Bissen gegessen, einen Schluck getrunken oder ein Gebet gesprochen zu haben, in seine Kleidung schlüpfte und den Hauptmann aufsuchte. Wenn Hernak Kreum'Barbero ihn rufen ließ, dann musste er sich ohnehin auf das Schlimmste gefasst machen.
Der junge Mann, den dieser geschickt hatte, erinnerte Terek auf den ersten Blick ein wenig an Quensy. Auf den zweiten Blick jedoch, als er von den schwarzen Locken auf dessen harte Gesichtszüge aufmerksam wurde, relativierte sich diese Einschätzung bereits wieder.
Krähen prägten das Bild, welches sich ihm bot, als er den Marktplatz zu überqueren begann und sein Blick dabei unweigerlich auf das Flussufer fiel. Dutzende von Herzfressers blutiger Schar liefen das riesige Lager der Geflüchteten auf und ab, wachsam wie die Aasgeier. Lautstarke Proteste kamen ihnen, unter den Zelten hervor, entgegen. Aufregung schwang, wie ein heißer Luftstrom, zu ihm herüber. Wut und Empörung hatten sich darunter gemischt. Aber auch Angst.
„Mutterlose Schurken", hörte er einen Mann rufen. Ein Anderer schloss sich mit „Verfluchte Söldnerbrut" an. Alles in Anwesenheit von Kindern.
Zu seiner Verwunderung schienen die Krähen jene Anfeindungen recht gelassen aufzunehmen, verharrten sie doch in gleichbleibendem Abstand vor dem Lager. Bewaffnet zwar, aber wohl eher für den Fall, um einer Eskalation vorzubeugen.
Sie fanden Herank schließlich vor den, beinahe vollständig beseitigten, Ruinen der alten Soldatenunterkunft, umringt von den vier Söldnerhauptmännern.
Herzfresser, der mit verschränkten Armen den Gesprächen lauschte. Der vollständig ergraute Schwertmeister Hurion, der in seinem zerschlissenen, braunen Überwurf, eher einem Bettler, denn einem Söldnerhauptmann glich. Zadar, der große Fuchs, mit seinen blau eingefärbten Haaren und dem Bronzering, den er durch seine Nase trug. Und natürlich Rokar, der Ältere, der gerade das Wort an Tereks Oberbefehlshaber richtete. Was dieser zu sagen hatte, bekam er nicht mehr mit, da er verstummte, als man Terek und seine Doppelspeere näherkommen sah.
„Mehr Tote", empfing ihn Hernak, mit demselben kalten Blick, den er immer aufgesetzt hatte und schickte den jungen Mann, der Terek hergeführt hatte, mit einer unmissverständlichen Handbewegung wieder weg.
Das durfte nicht wahr sein.
„Einer Eurer Doppelspeere hat einen Geflüchteten getötet", klärte Rokar auf.
Auch wenn Terek, die schlechte Nachricht ahnend, in weiser Voraussicht einen entsprechenden, unsichtbaren Schild vorgehalten hatte, so durchbrach der Rote Bruder ihn doch schlagartig mit dem beißenden Hohn in seiner Stimme und dem freundlichen Lächeln auf den Lippen.
Wut stieg unmittelbar in Terek auf und verhinderte, dass er jene Nachricht entsprechend einordnen konnte.
„Wir sollten jeden von diesen undankbaren Maden niederschlagen, die jetzt Ärger machen. Sie werden sich zweimal überlegen, ob sie gegen uns aufbegehren", schlug Wüstenfuchs Zadar vor und es war klar, dass er von den Geflüchteten redete.
„Wir haben jetzt schon weinende Kinder und leidliche Unruhe", merkte Hurion an, der gemächlich wie besonnen fortfuhr: „Das zu mehren, sollte nicht unser Ansinnen sein. Wir müssen die faulen Früchte unter ihnen finden, sie aus dem Korb nehmen und diesem Unfug ein Ende bereiten, den inneren Frieden wiederherstellen."
Herzfresser schwieg zu seinem Stichwort.
„Sie werden uns die faulen Früchte zu Füßen legen, wenn wir ihnen erst gezeigt haben, was passiert, wenn sie dieses Gesindel in ihren Reihen dulden", entgegnete der Große Fuchs wiederum.
Er, der nicht schweigen sollte, fand nun auch endlich zu seiner Stimme.
„Was genau ist nun passiert? Wer ist tot und warum?", wollte Terek wissen. Ungerne hätte er hierzu eine Antwort seines Hauptmannes gehört, die sicherlich wenig neue Erkenntnisse geliefert hätte, doch wäre ihm das allemal lieber gewesen, als Rokar, dem Älteren zuhören zu müssen, der sich erneut, sehr zu Tereks Missfallen, in den Vordergrund drängte: „Wie ich schon sagte, wurde im frühen Morgengrauen Blut vergossen. Einer der Doppelspeere hat einen verlausten, halbstarken Narren durchbohrt, nachdem dieser ihn mit einer stumpfen Klinge im Gesicht verletzt hat."
„Seine Familie sagt, er sei nur auf der Suche nach etwas Essbarem gewesen", warf Hurion ein.
„Und dann ist ihm die Idee gekommen, er könne ja einfach einen Wachmann essen? Die erzählen nur Mist", spottete Zadar und erntete einen kurzen Lacher von Rokar.
„Speer ist unschuldig. Toter war Befreier", bemerkte Hernak nur barsch.
„Das mag ich nicht verleugnen", verteidigte sich Hurion, „nur möchte ich mich dagegen verwehren, von nun an alle über einen Kamm zu scheren oder jeden, der seine Angst in Unmut äußert niederzuschlagen. Wenn die Befreier..."
„Genug!", platzte Terek der Kragen. Dieses Gerede machte ihn wütend und er hasste dieses Gefühl.
„Das Erste, was wir tun müssen, ist damit aufzuhören, über Befreier zu sprechen. Wir werden sie ab sofort als das bezeichnen, was sie wirklich sind: Vom Weg abgekommene, feige Mörder. Sie befreien nicht, sie töten. Doch werden wir sicherlich nicht jeden niederschlagen, von dem wir auch nur im Ansatz vermuten, es könnte sich um einen von diesem Gesindel handeln."
Sein letzter Satz löste Unverständnis aus.
„Wie sollen wir der Situation sonst Herr werden? Sie zünden Eure Häuser an und überfallen Eure Männer.", tönte, die Stimme voller Empörung, der Große Fuchs.
„Deine Füchse könnten sie alle in den Süden schaffen, dann sind wir das Problem los", lachte Rokar.
„Die Surmesischen haben ihre Tore vernagelt. Wie kannst du das nicht wissen? Viel Arbeit werden wir nicht mehr bekommen, jetzt wo sich das hier herumspricht und erst recht niemand mehr die Stadt verlassen möchte."
„Die Verirrten müssen zurück auf den Pfad der Mutter geführt werden. Wir brauchen jeden Mann, wenn der Krysa-Bastard hier aufmarschiert", lautete der Lösungsansatz Hurions.
Sogleich setzte Rokar, der Ältere zu seiner nächsten Spottrede an: „Ach? Und wie willst du das bewerkstelligen, Hurion? Nein, warte, ich höre es bereits: ‚Der Mutter zum Gruße, Fremder! Bist du ein Anhänger des westlichen Drecksgottes? Wenn ja, so nimm dieses Schwert in die Hand und richte es gen Norden, gegen den echten Feind, anstatt gegen uns! Und ist der Krieg erst vorüber, werden wir dir zum Dank die Schwerthand abhacken.'"
„Ajali", lieferte ein näselndes Flüstern prompt den nächsten Vorschlag. Erst als alle Blicke sich auf den Hauptmann der Blutkrähen richteten, der gerade sein langes Schweigen gebrochen hatte, begann dieser zu reden: „Habe viel über sie gehört. Hat Kapolor gut im Griff. Sie hat ihren Feinden Hände und Füße abgehackt, wie man sagt. Eine erfolgreiche Maßnahme, wie mir scheint, denn anschließend hat sich der Ärger vor die Mauern ihrer Stadt verlagert."
„Nur", hakte Rokar sofort wieder ein, „haben wir nicht die Feuerreiter vor den Toren, die den verbliebenen Ärger dort für uns verbrennen."
„Scheiss dir auf die Feuerreiter!"
Zadar spuckte aus: „Sicher sind sie so irre, wie furchtlos, weshalb ich mich nicht mit ihnen anlegen möchte. Aber schaut auf die Mauern. Unsere Skorpione sind tödlicher als berittene, brennende Schwerter. Außerdem liegen zwischen uns und Mezerte zwei Wochen an Wegstrecke."
„Niemand braucht die Reiter, wenn er die Roten Brüder an seiner Seite weiß", betonte Rokar noch einmal mit Überzeugung.
„Ajali, gute Entscheidung", sprach Hernak und blickte zu Terek, der auch hier wieder Hurions prompt geäußerte Meinung teilte: „Die gute Tochter ist eine Heldin dieses Krieges, fürwahr. Aber ihre Methoden sind die, die man von einem jungen Mädchen erwarten würde. Elondo Mes'Alwatu wäre mit seinen Gefangenen nicht so umgegangen."
„Ich möchte meinen, dass er deswegen ein toter, alter Mann ist. Hätte die Anhänger des Westgottes weiterhin bekämpfen sollen, statt sie ignorieren und befrieden zu wollen", wehte erneut auch Kritik von Seiten Zadars.
„Schwarzträne hat das Blutvergießen gebracht, nicht Mes'Alwatu."
„Sicher doch. Und dazu hat er doch glatt all die frommen Anhänger der Mutter rekrutiert."
„Steck dir deinen Spott sonst wohin, Zadar."
„Ihr könnt hier herumsabbeln, wie ihr wollt", warf Herzfresser nun ein, „der Mann, der entscheidet was getan werden wird, der steht vor euch. Er wird auf euer Geschwätz herzlich wenig geben."
Nun wanderten schließlich alle Augen zu Terek. Den Mann, der entscheidet, was getan werden wird. Der Mann, der für alle sprach. Und was würde er sprechen? Welche Entscheidung würde er treffen?
Bis vor wenigen Minuten hatte er sich darüber keine Gedanken gemacht.
Es sah Hernak ähnlich, dass er, den ihn verhassten, Yilbert nicht ebenfalls hatte rufen lassen, doch zumindest der Rat Maltos wäre in diesem Moment äußerst hilfreich gewesen.
Die brutalen Bestrafungsmethoden eines Kindes zu imitieren war sicherlich nicht das, was man von ihm erwarten konnte. Selbst dann nicht, wenn besagtes Kind im Dienste der Mutter stand. Nein, keine abgetrennten Gliedmaßen mit Terek Nam'Atamai. Stattdessen würde bald ein jeder zu sehen bekommen, wie der höchste Stellvertreter der Mutter am Boden, die Feinde vor seinen Toren verbrennen und aufspießen lässt. Als ob dies so viel besser wäre.
Immerhin wusste er, im Falle von Schwarztränes Horde, wen er mit seinem Zorn überschütten musste. Hier, in seiner Stadt, inmitten Hunderter alleine am Ufer des Flusses, wie sollte er da seine Feinde erkennen?
Bei allem Leid, das Kapolor während der blutigen Aufstände ertragen musste, so hatten sie es doch am Ende so viel leichter, sich ihrer Probleme zu entledigen, welche doch wiederum vollständig aus dem Schatten in das Licht der Sonne getreten waren.
„Jeder, der sich mit schlechten Absichten unter die Massen gemischt hat, wird unseren Zorn zu spüren bekommen, sollte er die Torheit besitzen, sich aus dem Schatten zu wagen", antwortete er schließlich.
Schweigend tauschten die fünf Hauptmänner ihre Blicke untereinander.
Sie wirkten wenig begeistert.
„Würdet Ihr es als ‚aus dem Schatten wagen' bezeichnen, wenn man einen Eurer Doppelspeere angreift? Oder muss man sich erst zu Schwarzträne oder dem Westgott bekennen?", trug Rokar wieder einmal mit seinem freundlichsten Lächeln vor, wenngleich es ihm dieses Mal kaum noch gelang, seine Häme damit zu verschleiern.
„Mit Verlaub, oh mein Herr, das ist wahrlich keine hilfreiche Anleitung", gab sich der Große Fuchs da schon etwas zurückhaltender mit seiner Antwort.
Hernak verzichtet gänzlich auf einen Kommentar, doch Terek konnte gut genug aus seiner minimalistischen Mimik lesen, um dort Enttäuschung zu erkennen.
Selbst Hurion wirkte eher verwirrt, denn erfreut und Herzfresser starrte mittlerweile nur noch nachdenklich zu Boden.
Was hatten sie denn von ihm erwartet? Sollte er wahllos Unschuldige verprügeln lassen, wie Zadar es gefordert hatte? Um vielleicht einen unter ihnen zu finden, der die Identität weiterer Feinde der Mutter preisgeben würde? Natürlich musste er seine Formulierung so wählen, wenn er der Willkür nicht Tür und Tor öffnen wollte. Er ertappte sich dabei, wie er in einem der dunkelsten Verstecke seines Gehirns einen winzigen Keimling gedeihen ließ, der ihn dazu verleiten mochte, gemeinsam mit M'Kelya diese Stadt zu verlassen. Vielleicht auf ein einsames, grünes Eiland, der tausend Inseln, umgeben von kristallblauem Meer. Unter klarem, wolkenlosem Himmel, dem Gesang der Möwen und dem Rauschen der Wellen lauschend. Eine schöne Melodie, ohne Gesang über Krieg und Tod und Mord und Totschlag.
„Ich habe verstanden", holte ihn Herzfressers Stimme aus seinem so kurzen Tagtraum zurück in die triste Realität. Was hatte er verstanden? Für einen halben Herzschlag befand sich Terek in der irrigen Annahme, die Oberkrähe hätte Einblick in seine kleine Vorstellung gehabt.
Das Rubinauge glänzte in der Sonne. Begeisterung war es, die in dem roten Stein zu brennen schien.
Die Mundwinkel bahnten sich in dem massigen Gesicht nach oben. Es hatte etwas groteskes, wenn die riesige Blutkrähe lächelte: „Wir werden sie umschwirren, sie beobachten und sie letztlich aus den Schatten jagen. Auf das Ihr, oh mein Herr, den Zorn der Mutter auf sie regnen lassen könnt."
Herzfresser zog sich den riesigen, ledernen Gürtel, in dem seine unzähligen Messer steckten, zurecht, machte auf der Stelle kehrt und ließ die anderen Männer an Ort und Stelle zurück. Sein purpurfarbener Umhang flatterte dabei wie die Schwingen eines übergroßen Vogels hinter ihm her. Wie die einer purpurnen Krähe.
„Fette Ajali", brummte Hernak, als der Krähenhauptmann eine nahe Brücke über den Kaposiqi überquerte und somit außer Hörweite war. Rokar und Zadar lachten daraufhin laut auf und selbst der alte Hurion konnte sich ein übermäßiges Grinsen nicht verkneifen.
Terek indes, konnte nichts Witziges daran finden. Herzfresser war bereits von Wut erfüllt gewesen, als sie die unsägliche, blutige Botschaft dieser feigen Mörderbande entgegennehmen mussten. Einen Verlust des inneren Friedens, wie er gerade drohte, konnte der Söldnerhauptmann nicht zulassen.
So leidenschaftlich er sich ihn auch gewünscht hatte, konnte Terek sich nicht darüber freuen. Er blieb mit einem schlechten Gefühl zurück. Ein Gefühl, als könne er den Ärger nur bekämpfen, indem er neuen Ärger zuließ.
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