33 - Die Mission der Söhne (1)
Lubyra Zamani hauste in einer dunklen, stinkenden Höhle aus weißem Stein, der sich im fensterlosen Inneren der Behausung bis in beinahe unkenntliche Schwärze hinein verdunkelte. Ein winziges Feuer loderte in einer vertieften Aushöhlung des schwarzen Erdbodens inmitten des weitläufigen, einzigen Raumes. Darüber ein vermutlich kupferner Kessel, aus welchem ein müdes Brodeln zu vernehmen war, der zwar einen penetranten Duft verströmte, sich aber nicht alleine für den herrschenden, beißenden Geruch verantwortlich zeichnete. Überhaupt war die Luft hier drinnen erfüllt von einer dicken Suppe, welche einem das Atmen massiv erschwerte und die einen gar noch träger werden ließ, als es die eigentliche Hitze Surmes bereits tat. Dumpf hatte Pat, noch bevor er eintreten konnte, einen monoton gesäuselten Gesang vernehmen können, welchen er nun grob in der vor ihm liegenden Düsterkeit der Heilerstätte verorten konnte.
Mehrere Personen waren hier anwesend, wie er nun erkannte. An die nackten Wände angelehnt, saßen vereinzelt, größtenteils zusammengesunkene Gestalten auf dem Boden, deren Gesichter er nicht richtig erkennen konnte. Manche lagen auf Decken oder Stroh. Da sie sich auch nicht regten, als Amwaldt und er weiter in den Raum hineinschritten, schien es sie entweder nicht zu stören oder sie nahmen erst gar keine Notiz von den beiden fremden Männern.
Immer wieder musste er seltsamen Pflanzenbüscheln und allerlei anderem Undefinierbarem ausweichen, wenn er jene Gegenstände, die da an dünnen Hanfseilen von der Decke hingen, nicht in seinem Gesicht spüren wollte. Auch deren Ausdünstungen verteilten sich im Raum. In dem schwach glimmenden, roten Schein der Feuerstelle, konnte Pat einen Blick zur, ansonsten schwarzen, Decke erhaschen, die von seltsamen, geschwungenen Mustern überzogen war. Fast war es ihm, als würden jene Malereien pulsieren, beinahe so, wie es ein menschliches Herz tat, doch schnell hatte er diesen Eindruck als Einbildung abgetan. Auch in Namun gab es schließlich derlei Dinge nicht.
„Zamani", bellte Amwaldt, zwar in gemäßigtem Ton, jedoch derart unvermittelt heraus, dass Pat erschrocken zusammenzuckte. Das leise Lied, welches durch die dicke Luft drang, verstummte und gerade als seine Augen sich an das Dunkel zu gewöhnen schienen, erhob sich eine schwarze Gestalt aus den Schatten und trat mit flinken, kleinen Schritten an den Rand des schwachen Feuerschiens. Ein befremdlicher Anblick, der sich Pat da bot, der nur deshalb nicht irritiert zurückwich, da sein Begleiter mit absoluter Gelassenheit auf das Auftauchen jenes kleinen Geschöpfes reagierte. Dieses war von einer Art schwarzem Fell überzogen, nicht viel größer als ein Kind und doch von wesentlich kräftigerer Statur. Selbst dessen Augen waren nur durch das sich darin spiegelnde Rot der Flammen zu erkennen.
Es sprach. Ob in derselben unverständlichen Zunge der Surmesischen oder einer anderen, das konnte Pat nicht sagen. Dazu klang ihm hier alles zu fremd. Doch immerhin sprach es mit normaler, wenn auch etwas belegter, Stimme. Es konnte sich somit wohl eher nicht um eines jener Wesen handeln, über die Jullen immer gescherzt hatte. Von den absonderlichsten Kreaturen, den wirresten Alpträumen entsprungen, handelten dessen Erzählungen stets. Namun, eine Welt vollgestopft mit den abstrusesten, misslungenen Schöpfungen des einen Gottes, die in ihrer Einfältigkeit gar ihre eigenen Götter ersannten und fortan zu ihnen beteten, bis gar die Menschen es ihnen gleich taten. Der Grund, weshalb sie hier alle in der Hitze schmachteten, während in Venua ein unbeschwerliches Leben möglich war.
„Und wir inmitten von ihnen", dachte er sich und während er dabei die immer klarer werdenden Konturen von seinen Augen zu Bildern zeichnen ließ, erkannte er ihn schließlich.
Jullen lag genau dort, gebettet auf Decken am Boden, wo zuvor das Fellwesen, genannte Lubyra Zamani, zugange gewesen war. Gut zu erkennen an dem wirren Haar auf seinem Haupt und im Gesicht. Kaum das Pat sich seinem Freund nähern wollte, stellten sich ihm drei Jünglinge in den Weg, die ihn wohl aus dem Dunkel heraus beobachtet hatten und aus eben diesem in Erscheinung traten. Ihre Körper so dünn und zerbrechlich aussehend, dass er sie vermutlich alle Drei, trotz der dicken Knüppel, welche sie bei sich trugen, auf einen Streich hätte aus ihren, nicht vorhandenen, Stiefeln hauen können. Ganz ohne sein Schwert, welches er ja bei Warigna und Lanzkamp zurückgelassen hatte.
„Bleib hier", sprach sein Kamerad zu ihm, der dafür abrupt seine Unterhaltung unterbrach und ihn mittels ausgestreckten Armes an seinem Platz hielt, „niemand nähert sich Zamanis Gästen, ohne ihre Einwilligung."
„Ich wollte", versuchte Pat ihm zu antworten, da warf der ehemalige Söldner ihm auch schon ein, wieder im Tonfall gemäßigtes, jedoch bestimmtes „Halts Maul und tu was man dir sagt, Junge", entgegen.
Tu, was man dir sagt! Diese Worte von genau Demjenigen, der die letzten Tage mit allem Möglichen zubrachte, nur nicht mit dem, was ihm sein Hauptmann aufgetragen hatte. Besoffen hatte er sich, das war offensichtlich, stank er doch wie ein ausgelaufenes Weinfass der Korkuns aus Berwinkel. Und wie hoch würde wohl Pats Einsatz ausfallen, müsste er wetten, dass sich Amwaldt zwischenzeitlich auch wieder zwischen den Schenkeln unzähliger Huren eingefunden hatte? Aber wer würde sich da schon finden, der in dieser Sache gegen ihn wettete?
Mochte sein, dass der ‚Shahisapar' ihn vor womöglich Schlimmem bewahrt hatte, als er sich vorhin für ihn gegenüber den Stadtwächtern einsetzte. Mochte sein, dass er ihn hierher und somit zu seinem Freund Jullen geführt hatte, doch war er letztlich ja auch für alles verantwortlich, was passiert war.
Dieser eitle, alte Saufkopf hätte sie allesamt in ihren kargen vier Wänden, in dieser stinkenden Stadt, krepieren lassen. Warigna war ein Narr und Dummkopf ihm zu vertrauen, so einen Mann zu den Söhnen Venuris' zu holen.
Dieser unerträgliche Gestank hier drinnen. Die Luft war so dick, dass es ihm beinahe vorkam, als könnte er sie nach dem Einatmen hinunterschlucken.
Pats Gedanken schienen in seinem Kopf zu rotieren. Vieles vermischte sich zu einem wirren Einerlei.
Und noch immer standen diese drei Gestalten vor ihm und hinderten ihn daran zu Jullen vorzudringen. Ihre Augen versteckten sich tief in den Höhlen ihrer knochigen Köpfe, die in dem Glutschein des Feuers wie die Fratzen toter Menschen auf ihn wirkten. Er lächelte bei dem Gedanken über drei Tote, die ihm den Weg zu versperren gedachten.
„Junge", riss ihn eine Stimme zurück ins Hier und Jetzt. Erst jetzt bemerkte er den festen Griff Amwaldts an seiner rechten Schulter: „Das Weib hier sagt, dass dein Freund bald wieder auf den Beinen sein wird. Ihm fehle nichts, er sei nur ein wenig erschöpft."
Er deutete auf ihren Kameraden und mit jenem Fingerzeig bewegten sich nun auch die drei Jungen zur Seite und ließen die beiden Männer schließlich passieren.
Im nunmehr Halbdunkel, hatten sich ihre Augen mittlerweile doch langsam aber sicher an die Schwärze gewöhnt, wirkte Jullen beinahe ebenfalls wie eine Leiche, doch war seine Haut warm. Bereits von den Alten aus Rinken wusste Pat, dass man erkaltete, wenn die Verstorbenen vor das letzte Gericht treten mussten. Auch wenn er sich nicht sicher war, was mit einem passierte, wenn man hier auf dem Köterkontinent sein Leben ließ, so waren sämtliche Bedenken beiseite gewischt, als der ausgemergelt wirkende Venuari zu krächzen begann.
„Wasser", forderte er kraftlos und prompt drängte sich ein weiches Fell zwischen Pat und Rekard Amwaldt. Lubyra Zamani hob mit ihrer ebenfalls fellbedeckten, linken Hand Jullens Kopf an und flößte ihm etwas aus einer unförmigen Schale ein, die gänzlich in ihrer kleinen Handfläche Platz fand. Als Jullen zu würgen begann, hielt sie ihm den Mund zu, gefolgt von leisem Gemurmel ihrerseits. Eine seltsame Art Gesang in fremden Worten, begleitet von glucksenden Geräuschen des hilflosen, immer wieder zuckenden Jullens, der sich aber bereits nach wenigen Augenblicken wieder beruhigte.
Erst jetzt fiel Pat auf, dass die Heilerin keinerlei Duft verströmte. Er roch sich selbst, wie auch Jullen, nahm den schweren Dunst wahr, der in der Luft lag und vereinzelt erwischte er sogar einen Hauch von Amwaldts anhaltender Fahne. Lubyra Zamani hingegen kniete da zwischen ihnen und doch schien sie gar nicht da zu sein.
„Wir warten", durchbrach Amwaldt sofort die Stille, nachdem Jullen zur Ruhe zurückgekehrt war.
Die seltsame Frau sang auch weiter ihr leises Lied, als sich die beiden Männer wieder aufrichteten, und ließ dabei vom Erdboden aufgekratzten Staub auf den Bewusstlosen niederrieseln.
Draußen auf der, sich eng durch den weißen Stein schlängelnden, Kieselsteinstraße angekommen, sog Pat zunächst gierig die nun vergleichsweise frische Nachtluft in seine Lungen. Plötzlich kam ihm Surme unter dem freien Himmel nur noch halb so heiß vor, wenngleich seine vom Schweiß durchtränkte Kleidung das Gegenteil sprach. Und das obwohl er seinen Kapuzenmantel bereits abgelegt hatte. Mit angewinkelten Beinen ließ sich sein Begleiter an der weißen Steinwand der Behausung nieder und warf erneut einen prüfenden Blick auf seinen leeren Trinkschlauch. Genervt realisierte er wieder, dass er ihn erst kurz zuvor geleert hatte.
„Hast du was zu saufen?", knurrte er in Richtung Pat, der verneinend den Kopf schüttelte.
„Außer es besteht ein Interesse an Pisse, denn davon können die Anderen und ich ausreichend ausschenken", erklärte er mit leicht spöttischem Unterton.
Er erntete ein Grinsen. Es war weit weniger Hohn darin zu finden, als erwartet.
Amwaldt lehnte den Kopf zurück an den, im Mondlicht hell leuchtenden, weißen Stein und blickte gen Nachthimmel: „Wir mussten früher oft unsere eigene Pisse trinken. Je weiter du Richtung Norden marschierst, desto rarer werden die Flüsse und Bächlein, an denen du dich laben kannst. Erst Krysa, das alte Königreich bietet dir wieder schönere Ansichten, so munkelt man. Ich selbst war noch nie dort gewesen."
Als Amwaldt spürte, dass Pats Verlangen nach alten Geschichten gerade Richtung Tiefpunkt tendierte, wechselte er das Thema.
„Ich habe meinen Kontaktmann getroffen", erklärte er, griff in seine rechte Westentasche und holte etwas Seltsames hervor, das auf den ersten Blick aussah, wie ein zusammengepresster Dreckbatzen.
Immerhin eine gute Nachricht. Rekard Amwaldt hatte seine Zeit also nicht nur mit Wein, Huren und dem Beiwohnen von Hinrichtungen zugebracht.
Genüsslich biss dieser ein Stück seines handgroßen Dreckhaufens ab und während er große, schwarze Krümel in seinen kurzen Bartstoppeln kleben hatte, bot er Pat ebenfalls ein Stück an.
Erst jetzt bemerkte er wieder, wie groß sein Hunger eigentlich war. In den letzten Tagen hatte sein Magen gelernt, das Verlangen nach etwas Essbarem größtenteils auszublenden und mit den winzigen Rationen zu leben, die sein Besitzer ihm gönnte. Doch nun, im Angesicht von etwas Essbarem, was auch immer es sein mochte, meldete er sich mit wildem Gezeter aus dem Halbschlaf zurück.
Auch wenn es mit einem unangenehmen Gefühl verbunden war, etwas von dem alten Mann anzunehmen, das Vertrauen in ihn war schließlich noch immer sehr gering, so schluckte Pat doch diesen falschen Stolz herunter und nahm ein zweites Stück der undefinierbaren Speise entgegen. Auf der Zunge fühlte es sich wirklich an, wie ein Klumpen Dreck. Ein erdiger Geschmack entfaltete sich nach und nach, doch blieb am Ende überraschenderweise eine beinahe süßliche Note. Wie ein halb verhungerter Köter schlang er den Brocken in sich hinein. Sein Hunger war einfach zu groß und es schmeckte auch zu gut, um sich darum zu scheren, wie er dabei aussah. Als ob Rekard Amwaldt andererseits auch nur einen nassen Furz darauf gab.
„Eine surmesische Spezialität", lachte Amwaldt, der ihm, mit einem Anflug von Vergnügen, beim Zermalmen der kleinen Mahlzeit zusah.
„Am Anfang ist das Essen der armen Leute hier etwas gewöhnungsbedürftig für Fremde, erst recht für einen reichen Schönling wie dich, aber so wie du frisst, hättest du dich wohl auch mit einer toten Ratte zufrieden gegeben."
Pat ignorierte seinen Spott.
„Ich mag in Venua geboren und aufgewachsen sein, doch unter der Sonne Namuns ist mein Zuhause, Junge. Noch vor wenigen Wochen hätte ich nicht im Traum daran gedacht, eines Tages wieder hierher zurückzukehren."
„Hattest du denn überhaupt vor, noch einmal zu den Söhnen zurückzukehren?", fragte Pat, ohne sich allzu große Mühe damit zu machen, den schnippischen Unterton in seiner Frage zu unterdrücken.
Amwaldts erwartete Reaktion blieb aus. Er schien die Frage völlig wertfrei aufgenommen zu haben:
„Es hat seine Zeit gebraucht. Der Mann, mit dem ich mich getroffen habe, ist nicht so einfach zu finden, wie ihr euch das vielleicht denken mögt. Ich habe Warigna schon am Tag meines Aufbruchs erklärt, dass es Zeit brauchen würde. Ich weiß, wie besessen unser Hauptmann von seiner Mission ist. Wenn es sein müsste, hätte er für sein Ziel wohl auch einen Monat ohne zu Murren in einer Schlangengrube ausgeharrt."
Den letzten Bissen zerkauend, ließ sich Pat, nach diesen Worten, zunächst einmal auf den steinigen Boden nieder. Das Geraune der Menschenmassen, die der Hinrichtung der Befreier beigewohnt hatten, war nunmehr kaum noch zu vernehmen. Die Zuschauermenge musste sich größtenteils wohl wieder aufgelöst haben.
„Welche Mission? Von welcher Mission ist der Hauptmann so besessen?", wollte Pat wissen.
„Er hat es euch immer noch nicht gesagt? Dir und Jullen?", gab sich der Befragte geradezu verblüfft. Er seufzte kurz, rieb sich scheinbar mit dem Handrücken die Müdigkeit aus den Augen.
„Sein Ziel ist die Hauptstadt. Emorhor. Er möchte dort den Hohepriester der Mutter töten. Mendo erhofft sich dadurch ein Ende des Krieges, bevor dieser überhaupt erst beginnen kann. Der Hohepriester ist der Kopf hinter dem zerbrochenen Frieden. So spricht es ein jeder in Surme, wenn er denn spricht. Ihn zu beseitigen scheint somit, in der Tat, die richtige Lösung."
Das musste Pat zunächst einmal sacken lassen. Den Hohepriester der Mutter töten?
„Das ist glatter Selbstmord", rutschte ihm sein erster ausformulierter Gedanke über die Zunge.
Der mächtigste Mann Namuns würde umringt sein von Leibwachen, wenn er sich ihnen denn überhaupt zeigen würde. Selbst die Regentin Venuas hatte er schließlich nie zu Gesicht bekommen und das obwohl der Palast von Venuris gar nicht mal allzu weit von der schwarzen Kaserne entfernt stand. Er erinnerte sich daran, wie man in der Kaserne herum erzählt hatte, mit welch großem Aufgebot das junge Mädchen alleine an das Grab ihres Vaters aufmarschiert war.
Wie es wohl erst aussehen müsste, wenn sie die komplette venuarische Armee hinter sich scharren würde?
„Richtig. Das werden wir nicht überleben", stimmte der alte Söldner ihm zu.
„Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass wir ihn mit einem guten Plan und etwas Glück tatsächlich hinauf in den Mutterschoß schicken können. Aber ich glaube, die Chancen stehen höher, das mezert'sche Feuer zu überleben, als ein solches Attentat. Und von diesem Feuer bist du vorhin Zeuge geworden, Junge."
Für einen Augenblick sah er wieder die Flammen vor seinen Augen auflodern, die die vier Befreier regelrecht aufgefressen hatten.
Zu gerne hätte er jetzt einen Schluck Roten mit seinem Kameraden geteilt. Einen großen Schluck, der ihm helfen würde diese Aussicht auf ihr Vorhaben irgendwie bekömmlicher werden zu lassen, doch Amwaldts Trinkschlauch war leer.
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