32 - Das Messer (1)

Auch auf ihrem Rückweg in die Straßen des Sonnenscheins blieben die Drei von den Patrouillen unentdeckt, was sie in erster Linie der großen Vorsicht und Vorausschau von Fuchs zu verdanken hatten. Sallis Aufgewühltheit ließ nach, je weiter sie sich von den schwarzen Mauern der Kaserne entfernten. Di hielt ihre Hand die ganze Zeit über fest, beinahe so, als hätte er Angst, er könnte sie verlieren. Ihre kurzen Beine ließen sie schließlich nicht so schnell laufen, wie die beiden älteren Jungen.

Doch sollte er sich nicht lieber Gedanken um jenen Mann machen, den sie blutend in der Lagerhalle der Kaserne zurückgelassen hatten? Selbstverständlich erinnerte er sich an die Drohung, dass dieser ihm die Haut abziehen wolle, so er ihn denn erwischen würde. Auch Salli hegte, wie sie ihm, nach seiner Rückkehr aus dem dunklen Keller aufgelöst mitzuteilen wusste, für eine kurze Zeit die Befürchtung, der Mann, der angeblich zu ‚den Schatten' gehöre, könne ihn töten. Di wusste nicht was es bedeutete, wenn jemand zu den Schatten gehörte. Es spielte für ihn auch keine große Rolle, denn das Bild, welches sich letztlich bei ihm eingeprägt hatte, war der große Blutfleck auf der Hose des Soldaten und dessen verzweifeltes Winseln, während dieser gekrümmt auf dem schmutzigen Boden lag und versuchte seine Schmerzen zu lindern.

Andererseits hatte er den Leichnam Perem Penthuys' und dessen grotesk verformte Gliedmaßen gesehen. Ein Anblick, für den er auch im Nachhinein mehr eine seltsame Faszination empfand, denn Ekel. Auch deshalb war es für ihn schwer zu begreifen, dass ihn das frisch Geschehene so mitnahm.

Lag es vielleicht daran, dass es Fuchs gewesen war, der dem Mann jene Verletzung beigebracht hatte? Dieser junge Bursche? Liebster Freund und Beschützer der kleinen Salli?

Nicht einen Augenblick hatte der stumme Junge gezögert, als ihre Freundin Hilfe benötigte. Während er mutig aus seinem Versteck gestürmt war, harrte Di jedoch in dem seinen aus.

Warum konnte er nicht so mutig sein?

Sie bogen wieder in die altbekannten, grauen Straßen ein und konnten somit endlich wieder ihre Schritte verlangsamen. Auch wenn die Luft hier, im Gegensatz zum schwarzen Hort, von unangenehmen Gerüchen durchzogen war, löste der vertraute, nach wenigen Minuten kaum mehr wahrnehmbare Dunst, ein Gefühl von Sicherheit in Di aus. Es roch hier mehr nach Zuhause, als im goldenen Ring, wo Di eigentlich beheimatet war. Ein Privileg, für das er eigentlich dankbar sein sollte.

Die grüne Tür von Mutter Marikas Haus erstrahlte erneut wie eine Blume inmitten eines Dreckhaufens, kaum das sie in ihr Blickfeld rückte. Jetzt waren sie wirklich zuhause.

Obwohl völlig erschöpft, löste sich Salli von Di und startete noch einen kurzen Wettlauf zur Türschwelle, den sie natürlich mit großem Rückstand gegen Fuchs verlor.

Grinsend erwartete er dort das Mädchen, welches ebenfalls schon wieder zu Lachen imstande war, wenngleich sie immer wieder nach Luft ringen musste.
Di, der hinter den Beiden hergetrabt war, Salli mit Absicht als Zweite durchgehen ließ, konnte sich ebenfalls ein Lächeln nicht verkneifen. So sehr ihn auch wieder seine Gedankenwelt plagte, so ansteckend war die Freude des Mädchens, die doch erst vor kurzem noch mit Angst und Sorge zu kämpfen hatte. Warum konnte er nicht so sorglos sein?

Warum konnte er nicht so schnell vergessen, was gerade passiert war?

„Jetzt habe ich aber Hunger. Und guten Durst. Du auch Di?", fragte sie ihn und präsentierte dabei wieder fröhlich grinsend ihre beiden fehlenden Schneidezähne im Oberkiefer. Di nickte.

Auch er könnte etwas zu Essen vertragen und sei es nur wieder eine von Tante Linas Suppen, in welcher wieder kaum Gemüsestückchen umherschwimmen würden. Vielleicht besaßen sie ja noch ein wenig von der Gewürzmischung, welche er ihnen geschenkt hatte.

Fuchs öffnete die Tür und winkte die kleine Salli gespielt galant hindurch. Ein wenig wirkte er, während jener übertriebenen Geste, wie ein gerupfter, weil federloser, Abklatsch des Schwertes der Ostlande.

Während Salli als Erste in die große Stube hineinmarschierte und sich mit lauter Stimme ankündigte, drängten sich Di und Fuchs im Anschluss gemeinsam durch den Türrahmen.

Und es roch sogleich nach Essen, was nun auch seinen Magen, laut knurrend nach etwas Essbaren rufend, auf den Plan brachte.

Die Meisten waren bereits fertig mit ihrer Mahlzeit. Nur noch die kleine Issa, dieses Mal mit gelösten Zöpfen und daher wilder Mähne, sowie die etwas ältere Nara mit dem silberblonden Schopf, die ihr gegenüber saß, waren noch am Tisch zugegen. Nachdem diese sich strahlend über Sallis Rückkehr gefreut und ihre Freundin lautstark begrüßt hatten, löffelten sie auch schon wieder weiter aus ihren Holzschalen. Lediglich ein wässriger Eintopf, wie Di erkannte, den eine kleine, gedrungene Frau mit dem Name Gitta auf drei weitere Schälchen verteilte und den drei Neuankömmlingen im Anschluss einen guten Appetit wünschte.

„Wir haben Di den Ausguck gezeigt", frohlockte Salli, während sie ihre heiße Suppe schlürfte.

„Oh, haben die Soldaten auch wieder gekämpft?", wollte Nara schließlich von ihm wissen.

Di nickte und lächelte. Einer kämpfte sogar gegen uns...

„Wenn ich ein Junge wäre, würde ich auch in die Kaserne gehen und dort kämpfen wollen", bemerkte Issa beinahe sehnsüchtig. Sie war bereits fertig mit Essen und wartete nur noch auf ihre beiden Freundinnen.

„Ich habe gehört", es war schon wieder nicht die ganze Wahrheit, die Di sprach, „dass das Schwert der Westlande, Millot Menk, eine Frau in seiner Leibgarde hat. Eine Riesin namens Almuth Stein. Du musst also nicht unbedingt ein Junge sein, Nara."

„Ich bin ja aber keine Riesin", empörte diese sich.

„Du bist eher wie die Jungfrau aus Koken", rief Salli mit strahlenden Augen.

Nara besaß glattes Haar und ein schönes Gesicht, da konnte Di nur zustimmen. Aber die echte Jungfrau war so schön gewesen, dass selbst der Gott in der Sonne ihr nicht widerstehen konnte.

Nara errötete: „Ja, auch sie war eine Soldatin und eine Schönheit. Und sie trug meinen Namen. Lieber möchte ich so sein, wie sie."

Und einen fürchterlichen Tod sterben? Di hätte es beinahe laut ausgesprochen, doch stattdessen nahm er lieber noch einen Löffel Suppe zu sich. Wie es schien, hatten die Frauen Brommels Gewürze bereits aufgebraucht, denn echter Geschmack wollte sich nicht wirklich auf seiner Zunge entfalten. Vielleicht konnte er ja irgendwann einmal für sie alle kochen. Immerhin tat er es ja auch zur vollen Zufriedenheit von Gunnet Bohns, der gewiss andere Anforderungen an eine Mahlzeit stellte, als man es hier tat.

Wie gewohnt herrschte wieder viel Lärm im Saal. So wie es immer war, wenn ihrer aller Mama nicht gerade eine ihrer Geschichten erzählte und damit auch den Letzten in ihren Reihen verstummen ließ. Doch Di liebte das. Zwar genoss er gerne die Stille, wenn er sich dabei in eines seiner Bücher vertiefen konnte, doch genauso genoss er die Gesellschaft, den Trubel, der hier um ihn herum herrschte. Es erinnerte ihn immer wieder an seine Zeit unter den Nebeln, seine Zeit mit Suki und mit seinem Vater. Erinnerungen, die in ihm eine sonderbare Mischung aus Traurigkeit und Freude auslösten.

Da Marikas Sessel, von wo aus sie gerne ihre Kinderscharen beobachtete, verwaist war, musste sie wohl wieder in der Händlerstadt unterwegs sein und Lebensmittel einkaufen. Eine Aufgabe, die sie sich selbst in ihrem hohen Alter nicht abnehmen ließ. Mehr als einmal hatte Di sich bereits gefragt, wie sie denn dies alles bezahlen konnte. Sie mochten hier alle ein glückliches Leben führen, aber war es auch ein Bescheidenes. Aber selbst ein bescheidenes Leben wie dieses, konnte man nicht ohne Münzen bestreiten, schon gar nicht, wenn es so viele Bäuche zu füllen gab.

Während er schmunzelnd der Diskussion lauschte, ob Nara, als künftige Jungfrau Venuris', ihr Haar lieber glatt gebürstet tragen oder sich kokensische Brezelzöpfe flechten lassen sollte, erblickte er aus dem Augenwinkel, wie zwei Personen die Stufen jener Treppe, die nach oben in den Schlafsaal führte, hinabstiegen. Sie war also doch nicht gegangen, wie er nun erkennen konnte. Mit vorsichtigen Schritten, mit der rechten Hand das Geländer fest umklammert, arbeitete sich die Herrin des Hauses regelrecht die hölzerne Treppe hinab, deren Knarzgeräusche, die sie für gewöhnlich von sich gab, im sonstigen Lärm jedoch untergingen.

Di führte sich einen weiteren Löffel Suppe zum Mund.

„Fuchsy, du altes Scheusal. Ich dachte schon du würdest wieder unsere Straßen unsicher machen", drang plötzlich eine Stimme durch die Geräuschkulisse bis an ihren Tisch. Eine Stimme, die Di bisher zwar erst einmal gehört hatte, die er jedoch sofort wieder erkannte. Als er seinen Kopf zur Seite drehte, sah er den Jungen mit dem dünnen, roten Haar, der gerade Mama Marika beim Bewältigen der letzten Treppenstufe half. Als der Junge sich ihnen schließlich vollends zuwendete, war auch dessen sommersprossengesprenkeltes Gesicht, mit den unverkennbaren Lachfalten um Mund und Nase, gut zu erkennen.

Er nahm jedoch keine Notiz von Di, da er aufpassen musste, nicht von Salli umgeworfen zu werden, die ihm regelrecht um den Hals fiel.

„Kleine Salli, mein Goldstück", rief er und drückte sie fest an sich. Aus den Tiefen seiner Hosentaschen kramte er etwas hervor und legte es dem Mädchen lächelnd in die Hände.

„Du wirst jedes mal größer und hübscher", lachte er freudig, während er ihr durch das strohige Haar wuschelte.

Die Worte der Maus aus den Gassen klangen jedes Mal wie aus dem Munde eines Erwachsenen gesprochen. Dabei war er nur wenig größer als das Mädchen vor ihm.

Auch Fuchs hatte sein Essen stehen lassen und war zu dem Jungen geeilt, um diesen zu herzen.

Di konnte sich nicht so recht erklären weshalb, doch wirkte Maus hier beinahe etwas fehl am Platze. Nicht, dass er sich optisch irgendwie großartig von den anderen Kindern unterschied, doch irgendetwas an ihm wollte sich nicht so recht in das Gesamtbild fügen.

Selbst nachdem er sich erhoben hatte, blieb Di zunächst unbemerkt und so musste er sich erst bis auf wenige Schritte annähern, ehe er wahrgenommen wurde.

„Bi", platzte es aus dem Munde der Maus, kaum das er ihn erblickt hatte.

„Di", korrigierte der Angesprochene prompt und beobachtete, wie die kurze Verwunderung rasch einem Lächeln wich.

„Natürlich Di. Entschuldige! Dafür, dass wir uns erst das zweite Mal begegnen, war ich doch immerhin nah dran", scherzte er.

„Marika hat mir erzählt, dass ein Junge unbedingt mit mir sprechen wolle. Ich schätze dann mal, dass du gemeint warst?"

Di nickte. Schon seit dem großen Festessen zu Ehren der beiden Schwerter der Regentin war er auf der Suche nach ihm gewesen.

„Ihr habt nicht erzählt, dass ihr euch kennt", mischte sich eine sichtlich empörte Salli in den kurzen Dialog ein, die beinahe ein wenig verärgert die Hände in ihre Hüften gestemmt hatte.

„Lass uns Jungs doch auch mal Geheimnisse haben", gab Maus mit identisch klingender, wenn auch gespielter, Empörung zurück, erntete dafür sogar wieder einen Lacher sowie einen liebevollen Hieb in die Seite.

„Kann ich alleine mit dir sprechen?"

Di wollte seine Bitte nicht vor allen Anderen aussprechen. Und so kam es, trotz leichten Protestes seitens Salli, dass Maus und Er sich vor die Tür begaben, zurück in den Mief der grauen Straßen.

Zunächst musterte ihn der Junge von oben bis unten.

„Du hast dich ein wenig verändert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben", bemerkte er richtig. Als sie sich in der Küche des venurischen Palastes begegnet waren, trug Di keine Lumpen und besaß auch noch einen intakten, linken Eckzahn.

„Dein Gesicht habe ich jedoch sofort wieder erkannt. Der Junge, der durch die Zweitwelt spazierte, hat schließlich bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen", fügte er im Scherz an und begann in den Taschen seiner braunen Stoffhose nach etwas Essbarem zu kramen. Prompt zog er einen kleinen eingedellten, rot-goldenen Apfel hervor, biss genüsslich davon ab und hielt ihn schließlich Di unter die Nase.

„Magst du auch?", fragte er unter lautem Schmatzen, während er nur ein Kopfschütteln entgegnet bekam. Schulterzuckend zog Maus die Hand und damit sein Angebot zurück: „Dann sprich, mein Freund. Was möchtest du von mir?"

Dis Herz klopfte vor Aufregung. Er hatte lange auf diesen Augenblick gewartet und wusste trotzdem nicht so recht, wie er denn sein Anliegen formulieren sollte.

„Du hast mir davon erzählt", begann er langsam und überlegt, „dass ihr damals zusammen als Katz' und Maus in fremde Häuser eingestiegen seid und die Menschen bestohlen habt."

Energisch riss Maus seine rechte Hand in die Höhe, was einem Einspruch gleichkam, denn sofort stoppte Di und schaute dabei zu, wie sein Gegenüber angestrengt seinen letzten Bissen zu Ende kaute: „Ich finde ‚bestehlen' ist ein äußerst hässliches Wort", formulierte er seinen Widerworte.

„Ich habe gelernt, dass wir nur nehmen, was wir benötigen. Das, was für diejenigen, denen es genommen wird, entbehrlich ist. Hattest du ernsthaft gedacht, ich sei ein krimineller Lump?"

Seine Frage klang derart vorwurfsvoll, dass Di beinahe erschrocken zurückwich.

„Nein, ich wollte damit nur sagen, dass...", stotterte er, doch wurde schließlich von einem lauten Prusten und nachfolgendem Gelächter unterbrochen.

„Ich mache doch nur Spaß", entschuldigte sich Maus und klopfte freudig auf seinen beiden Schenkel.

„Natürlich bin ich in den Augen der Stadtwache ein krimineller Lump. Und sie vertreten ja schließlich Recht und Ordnung. Doch eine Maus ist klein, flink und schwer zu erwischen."

„Jedenfalls", fing Di erneut von vorne an und hielt es nun für besser, gar nicht mehr lange drumherum zu reden, „was müsste ich dir bezahlen, damit du für mich in ein Haus einsteigst und dort etwas für mich...beschaffst?"

Dem Blick seines Gegenübers nach zu urteilen, hatte dieser nicht mit einer solchen Frage gerechnet.

Dennoch bekam er nun dessen ungeteilte Aufmerksamkeit. Weit aufgerissene Augen, hochgezogene Brauen, ein nicht mehr kauendes Mundwerk, sowie gespitzte Ohren.

Er schluckte seinen letzten Brocken hinunter, überlegte einen Augenblick und fragte anschließend: „Was soll ich dir denn beschaffen? Und welches Haus schwebt dir vor?" 

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