25 - Welke Blüten (3)
Nichts davon würde passieren, wie M'Kelya ihm klarmachte, ohne dieses Mal auch nur einen seiner Gedankengänge zu erahnen. Was sie erzählte, wollte Terek zunächst gar nicht glauben, doch welchen Grund sollte sie haben ihn anzulügen?
„Manche zeigten sich beschämt, wenn wir sie erwischten, andere wiederum fluchten, beschimpften uns und einer wurde sogar handgreiflich gegenüber Bekersir, schubste ihn zu Boden. Er hat sich dabei den Hinterkopf gestoßen."
Es fiel ihr nicht einfach, diese Worte aus ihrem Mund zu entlassen, denn sie wusste, welche Wirkung sie auf Terek hatten.
Seine Kinder. Diese armen Seelen, die er in seinen Schoß, in seine Stadt geholt hatte, denen er gab, was er konnte. Ausgerechnet aus ihren Reihen sollten diejenigen stammen, die dafür verantwortlich waren, dass nun eine Wache am Eingang des Armenhauses platziert war.
Die Schutzsuchenden aus den nördlichen Siedlungen, aus den hölzernen Befestigungen entlang der Küste, wo einst die Schiffe des westlichen Kontinents und der südlichen Städte ankerten. Welchen Grund würden sie haben die Diener der Mutter, die Helfer der Ärmsten und Schwächsten, zu bestehlen oder ihnen gar Gewalt anzutun? War es Hunger? Gab Terek ihnen etwa nicht genug?
Dabei mussten sie doch alle zurückstecken. Gerade jetzt, da Schwarzträne und sein Gefolge die tote Steppe und somit die längst vergangenen Grenzen des alten Krysa hinter sich gelassen hatten. Zwar mochte auch in Zeiten des Krieges die Sonne am blauen Himmel strahlen, doch den unsichtbaren, bedrückenden Schleier am Boden würde auch deren Licht nicht durchdringen können.
So sprachen bereits die, die an der Seite Tasmanuks die tote Steppe in anderer Richtung durchquerten. Und das obwohl sie den Triumph davontrugen.
„Wir, aber auch unsere Brüder und Schwestern auf der anderen Seite des Kaposiqi, haben bereits Alte und Kranke der Geflohenen bei uns aufgenommen", erklärte M'Kelya ihm, „doch viele ihner Angehörigen sind trotz Allem unzufrieden. Sie müssen an den Ufern des Flusses hausen und..."
„Wir haben keine sonstigen Kapazitäten", warf Terek ein, darauf achtend in keiner Weise vorwurfsvoll zu klingen.
„Das musst du mir nicht erzählen", wiegelte M'Kelya ab und brachte mit ihrer abwehrenden Handbewegung die Flamme der Kerze zum Flackern. Ihre riesigen Schatten tanzten dabei an der Wand und strahlten dadurch eine unangebrachte Fröhlichkeit aus.
„Ich will ihnen keineswegs Undankbarkeit unterstellen", fuhr sie, leise, eher zu sich selbst sprechend, fort, „doch es kann Menschen die Herrschaft über sich selbst kosten, wenn sie zu viel des Leids auf ihren Schultern zu tragen haben. Ich habe viele Frauen und Kinder gesehen. Nicht alle tragen ein Lächeln auf den Lippen. Die Wenigsten um genau zu sein."
Sie suchte Tereks Augen, während er beinahe, wie fremdgesteuert, seinen Blick abwendete.
M'Kelya erhob sich von ihrem Platz, es kostete sie erneut soviel Aufwand, dass Terek Mitleid mit ihr bekam. Sie hatte es einfach nicht verdient, dass ihr die Zeit so zusetzte.
In Krysa, so die Erzählungen, sollen in den dichtbewachsenen Gegenden sogenannte Immergrüne wachsen, die niemals vergingen und deren Wuchsflächen somit eine Art reichlich gedeckte, nimmerleere Tafel für die zahlreichen Tiergattungen darstellten, die sich an ihnen labten.
Den Teil mit dem Gefressenwerden ausblendend, hatte M'Kelya doch verdient ein Immergrün zu sein. Keine Gebrechen, keine Vergänglichkeit. Ewige Jugend, ewige Schönheit, bis die Mutter sich letztlich dazu entschied, sie zu sich zu holen. Schmerzlos, ohne Leid.
Doch lauschte er dem Gewimmere und dem Jammern aus den Nischen hinter den Vorhängen, so wurde er wieder jäh daran erinnert, welch närrische Träume er doch träumte.
Und ungehört ihrer Sorgen, da lautlos leidend, warteten am Flussufer noch weitere von ihnen.
Was sollte er tun?
„Höre dir ihre Sorgen an. Gib ihnen das Gefühl, für sie da zu sein", riet ihm M'Kelya auf seine Frage hin, nachdem sie, ein Stück Pergament in ihre Rocktasche stopfend, wieder hinter dem Tisch hervorkam.
Sie packte ihn an beiden Händen. Jetzt kam er nicht mehr umhin, sie anzusehen. Er sah ihr Lächeln und erwiderte es unfreiwillig.
„Komm ihnen nicht mit der Mutter. Was sie jetzt brauchen ist fleischlicher Beistand. Von der Schöpferin haben sie schließlich noch genug, wenn ihr Leben vorrüber ist."
M'Kelya sah ihm die Verwunderung an und ehe er es bemerkte und zu kaschieren versuchte, lachte sie dieses Mal herzlich auf.
Der Klang ihrer dargebrachten Freude erzeugte bei ihm eine regelrechte Gänsehaut. Wann hatte er das letzte Mal ein derart aufrichtiges Lachen gehört?
Augenblicklich schoss ihm eine Stimme in den Kopf, die vor langer Zeit aus der Dunkelheit heraus zu ihm gesprochen hatte. Als er die Geschenke der Mutter aus ihrem steinernen Gefängnis, tief in den Katakomben der Sonnenpyramide, hob, war es eine Anklage, die an seine Ohren drang und diese lautete wie folgt:
„An dem Tag, als du sie das erste Mal in Händen hieltest, hast du mich losgelassen. In der Dunkelheit hast du einen Teil deiner Seele verloren. Zurückgekehrt ist ein, von jeglicher Freude losgesagter, Mann."
Die Stimme hatte zu M'Kelya gehört, daran bestand kein Zweifel. Und doch war es etwas tief in ihm drin gewesen, das letztlich mit ihrer Zunge zu ihm gesprochen hatte, wohlwissend, dass ein jeder Anderer damit nicht zu ihm durchgedrungen wäre. Nicht aus dem Munde von Quensy oder Zet, nicht einmal aus dem von Sande hätte er diese Kritik ernsthaft angenommen. Nur von ihr. Nur von M'Kelya.
Und doch hatte es eine solch lange Zeit gebraucht, bis es ihm wie Schuppen von den Augen fiel.
Bis er erkannte, dass es die Wahrheit war.
Es mochte sich beinahe fremd anfühlen, fremd anhören, als er diesen einen Stoß Luft aus seiner Kehle bließ, welchen man zumindest entfernt als Ausdruck der Freude betrachten konnte und der in Tereks Kopf für zusätzliche Verwirrung sorgte.
Sanft befreite er seine beiden Hände aus dem Griff der Dienerin der Mutter und wich einen Schritt zurück.
Die kurze Fröhlichkeit, die von den Schatten an der Wand auf sie übergesprungen schien, war mit einem Schlag verschwunden und etwas in ihm drin bereute plötzlich sein Handeln, welches zu diesem Ausgangszustand geführt hatte.
„Rokhejlhors Menschen werden Tunkuns Warnungen ebenfalls erhalten haben", rief M'Kelya ihm nun wieder ins Gedächtnis, was ihm schon zuvor Kopfzerbrechen bereitet hatte.
So kryptisch die Botschaften Haasmehors zum Teil auch zu lesen waren, so wenig Raum für Interpretationen ließen sie letztendlich zu. Geyon Tes'Mekurae, Stellvertreter der Mutter in besagter Stadt, die nun noch zwischen Emorhor und Schwarzträne stand, verfügte nun jedenfalls über weit bessere Argumente seine Mitmenschen endlich dazu zu bringen, gen Süden zu fliehen und sich hinter den Mauern Emorhors in Sicherheit zu wiegen.
„Wir können nur hoffen, dass es ihre Sturheit bricht", wiederholte Terek erneut die makabren Worte Maltos, zweifelte jedoch leise an ebenjenen. Angesichts der bereits jetzt bestehenden Probleme, würden noch mehr Schutzsuchende keineswegs zu einer Verbesserung der Situation führen.
Auch wenn es ihnen womöglich mehr Hände einbringen würde, die einen Speer zu halten und zu führen imstande wären, die eventuell auch die Skorpione bedienen konnten, so würden die hungrigen Mäuler am Ende doch überwiegen.
Ob die Kunde von Haasmehors Fall auch seinen Weg zu Nkemayus Ohren gefunden hatte? Dreizehn Konkubinen des schwarzen Prinzen lebten, laut dessen Aussage, in Rokhejlhor. Ob er sie zur Flucht aufgefordert hatte oder ob er ihnen zu Hilfe eilen würde?
Noch immer hoffte Terek auf die Unterstützung der schwarzen Völker und wartete jeden Tag sehnsüchtig auf eine frohe Botschaft von den tausend Inseln, weit hinter der zerbrochenen Krone des Nordens. Bislang vergeblich.
„Ich weiß, dass dich die Verteidigung der Stadt momentan am Meisten beschäftigt", bekam er zu hören, „doch du darfst dabei nicht die Menschen vergessen, die nicht für dich kämpfen können. Sie sollten nicht nur hinter deinen Mauern, sondern hinter dir stehen. Erst dann werden auch die Zweifler wieder zur Mutter finden."
Sie machte einen Schritt auf ihn zu: „Ich mag vielleicht nicht imstande sein, dir die Ratschläge zu geben, die du dir von Zet erhofft hast, doch wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag es mir!"
Ein gutgemeintes Angebot, doch konnte er sich nicht vorstellen, wie M'Kelya ihrem Angebot hätte Taten folgen lassen.
Er bedankte sich dennoch höflichst, drehte sich zum Ausgang der Schreibstube und stieß noch inmitten des Durchganges auf ein junges Mädchen, anhand ihrer Kleidung ebenfalls als eine Dienerin der Mutter identifizierbar. Sie verneigte sich ehrfürchtig vor Terek und wich, mit gesenktem Haupt zur Seite um den Hohepriester der Mutter vorbeizulassen.
Erst jetzt realisierte er, dass er eine beinahe ebenso gebeugte Haltung angenommen hatte, begradigte kurz darauf seinen Rücken und suchte noch einmal den Blickkontakt mit M'Kelya, um sich angemessen zu verabschieden. Ein Lächeln brachte er dabei nicht mehr zustande. Sie erwiderte seinen Gruß mit erhobener Hand und schon verschmolz sie mit den Schatten an den Wänden, als Terek den Weg zurück an die frische Luft suchte, vorbei an dem beleibten Wachmann, der immer noch beschämt auf den Boden starrte, als er ihn erblickte.
Zurück unter dem freien Himmel, musste er die Augen zusammenkneifen, ob der erbarmungslosen Sonnenstrahlen, die wie Feuer in seinen Augen brannten. Es war die Zeit, zu der sich die Händler auf dem Marktplatz in den Schatten zurückzogen, streng bewacht von Hernaks Männern und einigen Blutkrähen, die unter anderem auch große Teile der Geflüchteten daran hinderten auf den Markt zu strömen. Zumindest diejenigen, die keine Münzen besaßen, da sie in ihren vorherigen Lebensgemeinschaften oftmals gar nicht darauf angewiesen waren, sie dort ausschließlich von Tauschhandel lebten. Nun jedoch befanden sie sich in vollständiger Abhängigkeit von Emorhor.
Terek wusste das es so war. Nun stellte sich ihm natürlich die Frage, ob er es die ganze Zeit über nicht sehen wollte oder es nicht sehen konnte? Egal welcher von beiden Fällen nun zutraf, war es für ihn am Ende doch gleichermaßen beschämend.
Seine vier Wachen urteilten nach Außen hin nicht über ihn. Sie folgten ihm bedingungslos, wohin auch immer er ging, selbst wenn ihr Ziel den Tod bedeutete.
Doch war der im Volksmund als ‚der Rückgratlose' denunzierte Gosset Kar'Semdul nicht ebenfalls davon ausgegangen, dass er nicht durch die Hände eines aufgebrachten Mobs zu Tode kommen würde, während seine Beschützer daneben standen und es teilnahmslos geschehen ließen? Wohl kaum, dachte sich Terek und ließ seinen Blick auf die riesige Sonnenpyramide schweifen, die man von überall in der Stadt aus begutachten konnte. König Necats dekadentes Bauwerk für einen falschen Gott. Und just dieses steinerne Ungetüm musste für jeden Hungernden, für jeden, der seine Heimat verlassen musste, eine Beleidigung darstellen. Wie kann es sein, dass der Hohepriester in diesem Protzbau residierte, während es nicht genug zu essen für alle gab?
Das einfache Volk würde nicht weiter hinterfragen. Es würde nicht sehen, dass die Sonnenpyramide praktisch ein leeres Grab darstellte, bewohnt von einem innerlich Toten.
Ihre Realität lag an den Ufern des Kaposiqi.
Welche Namen wohl für ihn dort kursierten? Und wollte er das wirklich wissen?
Sicher litt Namun noch heute unter dem Friedensvertrag von Nobossops ehemals rechter Hand und zugleich dessen Nachfolgers, der schon zu Kriegszeiten nicht in der Lage gewesen war dem wahnsinnigen Hohepriester Einhalt zu gebieten. Doch auch Kar'Semdul hatte gewiss nur das Beste für sein Volk gewollt, wenngleich er dabei kein glückliches Händchen bewies.
Sein Ende war bekannt und gewiss war dies keines, welches Terek für sich gewählt haben mochte.
In Gedanken hatte er Schwarztränes Armee schon oft vor seinen Toren stehen sehen und schon so einige mögliche Szenarien einer Schlacht durchgespielt. In den seltensten Fällen hatten die imaginären Tore und Mauern standgehalten, weshalb er im Hier und Jetzt sehr viel Wert darauf legte, deren Sicherung voranzutreiben und er war stolz darauf, was die Baumeister, sowie die klugen Köpfe dahinter, bisher geleistet hatten.
Auch für den Fall, sollte Emorhor standhalten, die Krysari aufhalten und gar zurückschlagen, hatte er sich bereits Gedanken gemacht. Sofort würde er seinen Fokus auf den darniederliegenden Osten richten. Er würde die verbliebenen Truppen des Südens zusammenkratzen und jeden einzelnen dieser Befreier aus den Städten der Mutter jagen. Nackt und ohne Verpflegung könnten diese ihre letzten Tage in der toten Steppe verbringen, wo auf sie nur der Tod warten würde und wo ihnen genügend Zeit bliebe, um ihre Sünden zu bereuen.
Und was würde aus ihm werden, sofern ihm dann noch genügend Lebenszeit blieb, um in seinem neuen Namun...dem neuen Namun der Mutter...seine letzten Tage in Frieden leben zu dürfen?
Brächte ihm ein Sieg, sowohl über Schwarzträne, als auch über die Befreier, die Fähigkeit, tiefe Freude zu empfinden, zurück?
Wäre sein Warten auf den Mutterschoß dann wirklich so viel anders, als das der letzten Befreier, deren gerechte, endgültige Strafe er ihnen erteilen würde?
Er und seine Männer tauchten in den großen Schatten der Pyramide ein, deren Spitze nun die Sonne vor seinem Antlitz verbarg. Je näher sie ihr kamen, desto mehr schien sie in die Höhe zu wachsen. Ebenso wie seine Verantwortung proportional zu seinen verlorenen Städten und der schwindenden Anzahl seiner Vertreter anwuchs.
Dennoch führte ihn der Pfad der Mutter in die richtige Richtung. Wenigstens diese Überzeugung ließ er sich nicht nehmen. In diesem sinnlosen Krieg durfte nur er den Sieg davontragen, denn nur mit ihm käme das Blutvergießen zu einem Ende.
Wenn hingegen sein eigenes Ende käme, wenn seine verwelkten Blüten sich von ihrer Achse lösten, würde er kein zynischer, alter Mann sein wollen, wie Zet. Er würde nicht alleine sterben.
Selbst der ewige Friede des Mutterschoßes könnte seinen Gram nicht für immer unterdrücken.
Trotz dieses kurzerhand gefassten Entschlusses, kam es letztlich nicht nur für seine Speere überraschend, als er schließlich abrupt abstoppte und einen letzten Richtungswechsel vorgab.
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