22 - Der Heimkehrer (2)

Das rotschöpfige Mädchen kam plötzlich herbeigeeilt, knallte die Schale Eintopf, sowie den Bierkrug auf den Tisch, sodass ein kräftiger Schluck auf die Holzplatte schwabbte, und packte den Mann beim Arm: „Großvater, sei still! Komm mit!"

Heftig schlug dieser zweimal auf den Tisch, verschüttete noch mehr von dem guten Gerstensaft. Sein zuvor doch recht amüsiert klingendes Lachen war mittlerweile zu einem beinahe hysterischen Gejaule verkommen. So sehr das Mädchen auch an ihm zerrte, kurz darauf auch unterstützt durch ihren Vater, den Schankwirt höchstpersönlich, noch immer galt der Blick des alten Mannes nur Pat: „Tausend Hände werden ins Nichts greifen, der Schöpferzorn auf uns niederprasseln."

Endlich verlor er die Bodenhaftung und so gelang es den Beiden, Wirt und Mädchen, den halb lachenden, halb weinenden Mann hinter die Theke und durch jene Tür zu ziehen, hinter der der Rotschopf zuvor schon verschwunden war, um den Eintopf zu holen.

Bald darauf war seine Stimme endgültig verstummt und auch der Raum selbst mit unbehaglicher Stille gefüllt.

Rasch kehrte der Wirt zurück, entschuldigte sich ausgiebig bei den Würfelspielern für die kurze Unruhe und stellte ihnen gar zwei Krüge Bier auf den Tisch, womit er deren Schweigen auch schon wieder brach und die Männer dazu brachte, ihrer bisherigen Beschäftigung weiter nachzugehen.

Auch Pat begann langsam in seinem noch dampfenden Fleischeintopf herumzurühren, ehe er sich schließlich einige Bissen einverleibte. Oh, es war das Beste, was er seit langer Zeit zu sich nehmen durfte. Doch auch, als er fertiggegessen hatte und sich gesättigt zurücklehnen konnte, musste er noch an seine seltsame Begegnung zurückdenken. Es war weniger das wirre Gebrabbel des Mannes, als vielmehr der Ausdruck auf seinem Gesicht, der ihm weiterhin im Kopf herumspukte. Die nackte Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben und Pat verstand schlichtweg nicht, weshalb oder wovor er sich so fürchtete. Tausend Hände, Schöpferzorn, dann das Gerede von der Jungfrau Nara. Ganz sicher war er ein wenig weich in der Birne und redete deswegen einen derartigen Blödsinn daher, doch seine Angst war keine Einbildung, diese war real gewesen.

Er zuckte regelrecht zusammen, als das Mädchen wieder an seinem Tisch auftauchte. Prompt entschuldigte sie sich dafür, ihn erschreckt zu haben und lief dabei wieder rot an.

„Ich möchte mich auch für das Benehmen meines Großvaters entschuldigen. Er weiß oft nicht mehr, was er redet", erklärte sie mit ihrer leisen Stimme.

Gerade im Begriff zu gehen, hielt Pat sie an ihrem Handgelenk fest. Peinlich berührt und mit hochrotem Kopf wendete sie sich ihm zu und schien nicht so recht zu wissen, wie sie darauf reagieren sollte.

„Dein Großvater erzählte, ich solle Nara beschützen. Meinte er damit wirklich die Jungfrau aus Koken?"

Er ließ ihre Hand los und zum ersten Mal blickte sie ihn direkt an. Ihre Augen waren so blau und so tief wie das Meer. Sie vergrub ihre Hände in der weißen Schürze, die sie trug und antwortete: „Ich weiß es nicht!"

Sie überlegte kurz, man sah es an ihrem erneut verstohlenen Blick zur Seite, doch dann entschloss sie sich zu bleiben und redete weiter: „Er spricht viele wirre Gedanken aus, doch seit einigen Wochen erzählt er immer wieder von der Jungfrau, die an der Spitze ihrer Armee in den Krieg marschierte. Es seien die alten Geschichten aus seiner Kindheit, sagt mein Vater. Ihr solltet Euch darüber nicht den Kopf zerbrechen."

Diesen Rat zu befolgen, würde kein Problem für Pat darstellen, denn inzwischen war es ein völlig anderer Gedanke, dem er anhing und den er nun unbedingt zu Ende denken wollte.

„Wie heißt du eigentlich?", fragte er.

„Anbritt", antwortete sie und lächelte.

Am nächsten Morgen waren es nicht die ersten Sonnenstrahlen, die ihn wachkitzelten und auch nicht das muntere Gepfeife und Gesumme seines Kameraden Odo.

Der Himmel war noch immer verhangen und es roch nach Regen, der sich, nach schier endlosem Geprassel durch die Nacht, wohl gerade eine Pause gönnte. Kein schöner Tag um die Reise nach Rinken fortzusetzen, dachte sich Pat.

Schon gar nicht nach dieser Nacht. Die Süßeste seit einer gefühlten Ewigkeit, was nicht nur daran lag, dass er endlich wieder in einem weichen Bett schlafen durfte.

Anbritt verkörperte den entscheidenden zweiten Grund seiner schönsten Nacht seit Langem.

Am Vorabend hatte sie sich nach getaner Arbeit zu ihm auf das Zimmer geschlichen, nachdem sie beide ihr begonnenes Gespräch, noch ein wenig vertiefen konnten. Zumindest solange, bis der Wirt, im Übrigen ihr Vater, sie wieder zur Arbeit aufforderte. Gegen einen fairen Preis bot er Pat später auch eine Schlafgelegenheit in einem Anbau des nimmerleeren Fasses an.

Pat war mehr als überrascht gewesen, als sie plötzlich vor seiner Tür stand, hatte er doch ernsthaft nicht mit soetwas gerechnet. Ihre vorgeschobene Frage, ob sie ihm noch irgendetwas bringen könne, stellte sie ihm ohne dabei wirklich glaubwürdig zu wirken. Ihre wahre Intention konnte sie nicht verbergen und unlängst war es ja auch die seine gewesen.

Noch ein letztes Mal sog er ihren wunderbaren Geruch in sich auf, so tief, dass ihm die Lunge dabei schmerzte, ehe er langsam und nahezu lautlos aus dem Bett kroch, seine Sachen zusammenklaubte, sich ankleidete und auf leisen Sohlen das Zimmer verließ. Ob Anbritt wohl Ärger von ihrem Vater bekäme, wenn dieser herausfände, was sich letzte Nacht in jenem einen Gästebett abgespielt hatte?

Wenn es denn soweit käme, dann läge Berwinkel schon hinter Pat. Sollte er sich deswegen also weiter sorgen?

Auf der, vom Regen aufgeweichten, Straße hatten sich bereits unzählige große, wie kleine, braune Wasserpfützen gebildet.

Vereinzelte Ringe, die gerade wieder auf deren Oberflächen auftraten, deuteten darauf hin, dass der nächste Schauer folgen sollte. Doch waren diese ersten Tropfen nur die Vorboten des großen Regens, der ihnen nachfolgen sollte. Bevor er den letzten Abschnitt seiner Reise antrat, hüllte er sich in seinen erdbraunen Mantel, der bis zu seinen Knöcheln reichte und zog sich dessen schwere Kapuze ins Gesicht. Das Gewand gehörte eigentlich Odo Lanzkamp, doch angesichts der Tatsache, dass Pat mehr als jeder andere von ihnen Wert darauf legen musste, unerkannt zu bleiben, wechselte das Kleidungsstück kurzerhand den Besitzer.

Die nächsten Stunden peitschte der tobende Wind Pat und seinem Gaul das Nass regelrecht in die Gesichter. Einzig die Aussicht Rinken zu erreichen, so wie es ihr Hauptmann befohlen hatte, hinderte ihn daran seine frierenden Knochen zu schonen und irgendwo Unterschlupf zu suchen.

Den übrigen Söhnen Venuris' würde es schließlich gerade nicht anders ergehen und von ihnen verschwendete sicherlich niemand auch nur einen Gedanken daran, wegen dem bisschen Regen, einen unnötigen Halt einzulegen.

Er dachte an Jullen, der es absolut nicht ausstehen konnte, wenn durchnässte Kleidung wie eine zweite Haut an ihm klebte und dessen Laune deswegen wohl gerade am Tiefpunkt angelangt sein musste. Pat konnte sich ein leichtes Grinsen daher nicht verkneifen.

Aufgrund des ohnehin wolkenverhangenen Himmels konnte er nicht so recht abschätzen, wie spät es bereits war, als er in der Ferne endlich die westlichen Mauern Rinkens auftauchen sah. Das Grollen des Donners begleitete ihn nun schon seit gut einer Stunde und wurde lauter, je näher er sich der Küste näherte.

Früher liebte er es, den gewaltigen Wellen des Meeres zuzuschauen, wenn sie ob der Unwetter tobten und tosten. Nicht selten stellte er sich dabei vor, wie es wohl gewesen sein musste, bevor die ehemaligen Stadtherren Rinkens die große Schutzmauer errichtet hatten, welche die Stadt vor der Gewalt und der zerstörerischen Natur der Wassermassen schützte.

In der Zeit davor soll es nicht selten zu Überschwemmungen gekommen sein, bei denen stets viel Schaden im bald darauf folgenden Sonnenschein zur Begutachtung zum Vorschein kam. Eine Unzumutbarkeit für die Bürger Rinkens, die jedoch lange Zeit keine Beachtung fand.

Erst als sich das Meer den Sohn eines der oberen Herren krallte und diesen nicht wieder hergab, interessierte man sich anschließend auch im großen Herrenhaus für das Problem, woraufhin der Mauerbau nicht mehr lange auf sich warten ließ.

„Eine gerechte Strafe des einen Gottes", kommentierte man zu dieser Zeit den Auslöser des Baus hinter vorgehaltener Hand. Heute hingegen sprach man es frei heraus. Das Herrenhaus, wie auch deren Bewohner, stellte schließlich nur noch einen Zeitabschnitt der langen Vergangenheit dar.

Die roten Rebellen hatten dafür gesorgt, dass das prunkvolle Gebäude in Flammen aufgegangen war, die so hoch züngelten, dass man damals befürchtete, die Wolken würden ebenfalls zu brennen beginnen.

Sein kleiner Bruder Mak liebte diese Geschichte, als er noch ein kleiner Knirps war. Er, wie auch seine jüngere Schwester Serea. Pat vermisste sie beide. Ebenso wie auch seine Mutter. Mit jedem Schritt seines schnaubenden Pferdes, welches er nun in einem leichten Galopp auf die Tore zusteuerte, kam er ihnen wieder ein wenig näher. Und doch würde er sie meiden müssen, so wie es Mendo Warigna ihm befohlen hatte. Nicht nur sie, auch jeden anderen, den er kannte.

Die hohen Mauern aus den gelblichen, wie bräunlichen Steinen, die allesamt aus dem großen Steinbruch in Falkberg am Fuße der Grauen Berge stammten, wirkten durch den starken Regen um ein vielfaches dunkler und uneinladender, als dies bei Sonnenschein der Fall war.

Dennoch klopfte sein Herz schneller als normal beim Anblick der Befestigung Rinkens.

Zunächst hatte er sich noch gewundert, dass die Tore unbewacht waren, doch als er näher kam, erkannte er die drei Torwächter, welche dicht gedrängt in ihrem Holzverschlag an der Mauer Schutz vor den unbarmherzigen Ergüssen des Himmels suchten. Sichtbar verärgert über den unerwarteten Reiter zu später Stunde warf sich einer der Dreien, wohl der Jüngste, eine wollene Decke über den Kopf und stapfte auf den sich nähernden Fremden zu. Mit jedem seiner Schritte spritzte das Wasser bis zu den Schienbeinen an seiner Hose hoch.
Der Wächter erhob die rechte Hand und machte Pat damit deutlich, dass er zum Stehen kommen sollte.

„Ihr habt Euch eine beschissene Zeit ausgesucht in unsere Stadt zu kommen", rief er ihm in unfreundlichem Ton entgegen.

So gut es durch den Regen und unter seiner Decke hervor möglich war, musterte er Pat.

„Davon abgesehen seht Ihr nicht so aus, als wärt Ihr ein Gast, den wir Willkommen heißen sollten."

Der anschließende Blick galt ganz eindeutig dem Schwert, welches Pat gut sichtbar an seinem Gürtel trug.

Eine Einladung. Pat kannte diese Spielchen bereits aus Erzählungen. Somit standen ihm nun zwei Wahlmöglichkeiten offen. Er könnte die Nacht irgendwo hier draußen verbringen und sich vom Regen durchweichen lassen, denn an den anderen Toren würde es für ihn, aller Voraussicht nach, nicht besser aussehen. Er entschied sich für das ‚Oder' und kramte drei Münzen aus seinem ebenfalls bereits durchgeweichten Beutel und reichte sie dem Mann, der diese mit schelmischen Grinsen entgegennahm.

„Öffnet das Tor", rief er aus voller Kehle, während er flugs auf dem Absatz kehrt machte, um mit seiner durchnässten Decke in den Holzverschlag zurückzukehren. Es dauerte einen Moment, da hörte Pat das rasselnde Geräusch von Fallgittern, die hochgezogen wurden und einen weiteren Augenblick später schwang das große Holztor zu beiden Seiten auf, um Pat auf seinem Gaul Einlass zu gewähren.

Was denjenigen, die die Schwertbanner oder Wappen Venuas zur Schau trugen, um diese Zeit erspart blieb, mussten die normalen Seelen zumindest hier in Rinken über sich ergehen lassen. Es war ein offenes Geheimnis, dass die Torwächter seiner Heimatstadt den Beinamen „Goldzecken" trugen.

Es war für Pat kaum vorstellbar, dass Stadtverwalter Malus Bell nicht davon wusste, weshalb er annehmen musste, dass das Gebaren der Goldzecken von Oben her toleriert wurde. Wer den stets hochnäsig umherschreitenden Bell schon erlebt hatte, konnte sich über diese Vorstellung auch nicht wundern. Er hätte wohl prima zu der Zunft der alten Stadtherren gepasst.

Die Straßen Rinkens waren wie leergefegt, was angesicht des Wetters nicht verwunderte. Seinem Befehl folgend, begab sich Pat schnurstracks auf den Weg in Richtung Hafen, wo er sich eine Taverne suchen würde, um darauf zu warten, dass entweder Warigna selbst oder, so die Worte des Hauptmannes, „jemand anderes" ihn abholte.

Vorhin schon hatte er es leise in der Ferne vernommen, doch je näher er dem Hafen kam, desto deutlicher war das vertraute Zetern seines alten Freundes zu hören. Sein alter Freund, das Meer, die nördliche See, die grundsätzlich rauer und wütender war, als ihr Vetter im Süden, so erzählte man.

Spätestens jetzt fühlte es sich richtig nach Heimkehr an, auch wenn ihm die Schönheit Rinkens bei Tage wesentlich besser gefiel. Sein treuer Begleiter schnaubte laut neben ihm. Auch er würde bald seine wohlverdiente Rast bekommen. Zumindest solange, bis man ihnen ein neues Ziel vorgab.

In Hafennähe konnte er sein Pferd gegen eine kleine Summe bei einem Züchter unterbringen. Ein buckliger, kleiner Mann, der nicht sehr erfreut darüber war, dass Pat ihn bei diesem Unwetter aus seinen warmen vier Wänden zerrte, aber ansonsten durchaus freundlich auftrat. Sieben Münzen als Anzahlung für eine Woche, je fünf weitere für den Beginn jeder Folgewoche.

Pat hoffte nicht, dass er seinen Gaul länger als diese eine Nacht hier unterbringen musste. Generell erwartete er, dass er bald wieder mit seinen Kameraden vereint sein und sie ihre Reise fortsetzen würden. Sein restlicher Münzvorrat reichte, seiner Einschätzung nach, nämlich noch für maximal zwei Tage, wenn er nicht vorhatte zu hungern und zu dursten.

„Wenn du deinen Klepper, nach einer Woche und ohne weitere Zahlung, nicht bei mir abholst", gab ihm der kleine Mann noch mit auf den Weg, „dann gehört er mir. Ich habe erst kürzlich die Gäule von drei Reitern aus der Hauptstadt verkauft. Ein alter Mann und seine Gefährten. Die haben mir auch erzählt, dass sie bald zurückkehren werden und haben trotzdessen für einen Monate im Voraus bezahlt. Danach sind Wochen ins Land gezogen und niemand von ihnen kam zurück. Wenn du also nicht im Voraus bezahlst, musst du nicht denken, dass du bei mir auf ewig deponieren kannst."

Zurück im Regen, vollbepackt mit den wenigen Habseligkeiten, die er in seiner Satteltasche verstaut mit sich führte, steuerte er schnurstracks auf die nächstbeste Hafenschenke zu.

Den kaum erkennbaren Namen des Hauses ignorierend, stieß er die Tür, mangels freier Hände, mit seinem Knie auf und fand sich in einem völlig überfüllten Schankraum wieder.

Die ersten Atemzüge schmeckten wie der typische Muff, der von nassen Stoffen herrührte. Immerhin war es hier drinnen warm und, was noch viel wichtiger war, es regnete nicht. Bald darauf sollte der erste wahrgenommene Duft von dem von Schweiß und einem dampfenden Kessel voller Zwiebelsuppe überlagert werden.

Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen und somit die wenigen Blicke, die offensichtlich weniger ihm, als der unerwarteten, wie unerwünschten Frischluftzufuhr galten, sich abwendeten, bahnte er sich seinen Weg durch die eng zusammenstehenden, bis auf den letzten Platz vollbesetzten Stühle.

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