22 - Der Heimkehrer (1)
Kurz hinter Grabthal, nachdem sie den Moteem überquert und somit die Westlande betreten hatten, trennten sie sich. Zwei Tage lag dies nun schon zurück. Jeder von ihnen würde auf einem anderen Weg in die Hafenstadt Rinken gelangen. Mendo Warigna teilte die Ansicht, dass es nicht gut sei, wenn sie zusammen gesehen werden. Zu dieser Erkenntnis war ihr Hauptmann jedenfalls gelangt, als sie kurz zuvor eine Rast einlegten, um in einer kleinen Schenke ihre Vorräte aufzufüllen.
Völlig unvermittelt war es dort zu einer Schlägerei gekommen, welche Warigna vom Zaun brach. Rekard Amwaldt trug aus diesem Grund gar eine kleine Platzwunde an der Stirn davon, nachdem er eben dort von einer Holzlatte getroffen wurde. Der ehemalige Söldner und insbesondere Hauptmann Warigna, streckten zusammen etwa sechs oder sieben Männer nieder. Für den roten Odo, Jullen und Pat, die zu spät zum Geschehen hinzugestoßen waren, gab es daher glücklicherweise nichts zu tun.
Der Faustregen den ihre beiden Kameraden auf ihre Kontrahenten niederprasseln ließen, schien dann doch eine beeindruckende Wirkung auf die restlichen, männlichen Gäste gehabt zu haben. Geeint hielten diese sich daraufhin zurück und wandten gar größtenteils ihre Blicke gänzlich von dem Spektakel ab.
Über den oder die Gründe der handfesten Auseinandersetzung ließ ihr Anführer sie ebenso im Dunkeln, wie über seine Motivation für jene überraschende Reise in Pats alte Heimat.
Einzig das Wörtchen „Krieg" war ihm in der Nacht ihres Aufbruchs zu entlocken gewesen, weshalb Pat schnell die Spekulation über eine Reise nach Namun unter seinen übrigen Kameraden teilte.
Es herrschte jedoch Einigkeit, dass dies, schon aufgrund der Seeblockade, ein derart abwegiger Gedanke war, dass man diesen direkt wieder verwarf. Andere, plausiblere Erklärungen gab es jedoch keine und jeder Versuch, das Schweigen ihres Hauptmannes zu brechen, wurde von diesem damit abgetan, dass man gefälligst keine Fragen stellen solle. Er würde sie noch früh genug über den Zweck und das eigentliche Ziel ihrer Reise aufklären.
Sein letzter Befehl beinhaltete, dass sie den Straßen so gut es ginge fernbleiben sollten, was Pat letztlich auch befolgte. Sein nächstes Ziel hieß nun Berwinkel, ein kleines Dorf, etwa einen halben Tagesritt von seiner Heimatstadt entfernt.
Bekannt war es vor allem für das Weingut der Familie Korkun, einer der ältesten Kunden seines Vaters, welche dem größten Teil der Bewohner Berwinkels ein Arbeitgeber war.
Hier würde er einen Platz zum Nächtigen finden und sich anschließend von Westen her seinem vorläufigen Ziel nähern, wo er sich wieder mit dem Hauptmann und seinen Kameraden treffen würde.
Auch hier vermied es Warigna wieder einmal außerordentlich konkret zu werden.
Man solle in einer Taverne in Hafennähe auf ihn oder jemand anderes warten.
Wer mit „jemand anderes" gemeint sein könnte, blieb natürlich ebenfalls unbeantwortet.
Man musste sich schon so langsam fragen, ob Mendo Warigna noch bei klarem Verstand war.
Sein Freund Jullen hatte bereits, hinter vorgehaltener Hand, einen Verdacht in diese Richtung geäußert. Er bezweifelte, dass sie bei ihrem Unterfangen einem konkreten Plan folgten.
Wirkte der Mann an ihrer Spitze doch die meiste Zeit über geistig abwesend, so „als würde er durch eine andere Welt reiten", wie Jullen mit besorgter Stimme anmerkte.
Auch reagierte er überaus gereizt, ja fast schon aggressiv, auf unvorhergesehene Ereignisse, wie etwa eine Pause zum Verrichten einer Notdurft.
In Rinken jedenfalls, würde ihnen kein Empfang, wie im südlichen Venhaven bereitet werden, soviel stand fest. Um eine solche Vorhersage zu treffen, musste man schließlich auch kein Hellseher sein. So führten die Söhne doch keine Banner mit sich, verzichteten auf alles, was sie als Mitglieder der venurischen Stadtwache ausweisen könnte.
Unerkannt und ohne aufzufallen, sollten sie sich durch Rinken bewegen, die Gesichter so gut es ging verdeckt.
„Und du im Besonderen", richtete Warigna das Wort an Pat, „wirst nicht auf die dumme Idee kommen dich mit Bekannten oder gar Familienmitgliedern zu treffen oder zu sprechen!"
Wenngleich Pat aufgrund des Wörtchens „unerkannt" bereits ahnte, dass es darauf hinauslaufen würde, so hinterließ die Bestätigung seiner Vorausschau am Ende doch einen enttäuschenden Beigeschmack. Auch wenn er die Geheimtuerei seines Vorgesetzten für übertrieben hielt, Befehl war nun einmal Befehl und auch daran würde er sich halten.
Die Sonne war schon längst hinter grauen Wolken verschwunden und es roch nach Regen, als er Berwinkel, eingebettet in die riesigen, weitläufigen Weinberge, in der Ferne auftauchen sah.
Dem drohenden Unwetter zum Trotz, konnte er jedoch immer noch vereinzelte Arbeiter zwischen den Rebstöcken erblicken, die dort ihrem Handwerk nachgingen.
Als schließlich die ersten Regentropfen vom Himmel zu fallen begannen, ritt Pat bereits zwischen den beiden Statuen der Kriegshelden Berwinkels hindurch, die an der unbefestigten Straße, welche direkt in das Dorf führte, ihre stumme Wacht hielten. Das ihre Schultern, Häupter, sowie die erhobenen Schwerter fast vollständig mit Moos überzogen waren, schien ihnen egal. Ihre grimmigen Gesichter zeugten von Stolz. Zusammen mit dem großen Palu Venua waren sie einst in den Krieg gezogen und besiegten den damals übermächtig scheinenden Feind aus Namun. Der grüne Anstrich konnte ihrer Würde, ihrer Größe keinen Abbruch tun.
Ob die Zwei es wohl noch erleben durften, als man ihnen die Ehre zuteil werden ließ, sie in Stein zu meißeln? Wie es sich wohl anfühlte, wenn man eine solche Wertschätzung entgegengebracht bekam?
Im Alter von vielleicht fünf Jahren, seine beiden Geschwister waren jedenfalls noch nicht auf dieser Welt, war Pat einst mit seinem Vater hiergewesen, um das große Weingut der Korkuns zu besichtigen, die ihnen eigens hierfür eine Einladung ausgesprochen hatten.
Er glaubte sich erinnern zu können, dass Tore Mohor ihm die Namen der beiden Helden damals genannt hatte, doch waren sie ihm mittlerweile entfallen.
Er erinnerte sich noch genau daran, wie beeindruckt er von der großen Halle mit den unzähligen Weinfässern gewesen war. Speziell ein einzelnes, riesenhaftes Fass hatte es ihm angetan.
Als „so groß wie ein Haus" bezeichnete er es damals als kleiner Knirps und empfand mächtig viel Stolz, als man erklärte, dass Mohor Senior höchstpersönlich die hierfür benötigten Dauben angefertigt und geliefert hatte.
Es war schließlich jener Tag, an dem Pat engültig davon überzeugt war, dass er, wenn er endlich erwachsen wäre, das Handwerk seines Vaters erlernen und irgendwann dessen Nachfolger werden würde.
In seiner kindlichen Naivität konnte er zu jener Zeit ja noch nicht ahnen, dass alles so viel anders käme, als er es sich damals ausmalte.
Roter Ziegel dominierte die Hausfassaden derer, die das ganze Jahr über hier lebten. Etwas abseits der langen, staubigen Hauptstraße befanden sich hingegen einfache Holzbauten für die Tagelöhner, die gerade zur Erntezeit, der sogenannten Lese, in Scharen nach Berwinkel strömen sollten. Die meisten dieser kleinen Bauten standen jedoch den Rest des Jahres über leer.
Beim Erblicken einer Taverne mit dem klangvollen Namen ‚Das nimmerleere Fass' brachte Pat seinen Hengst zum Stehen und hievte sich aus dem Sattel. Auch wenn es die bequemste Art der Überlandreise war, so fühlte es sich doch wunderbar an, endlich wieder selbst einige Schritte tun zu können. Er führte seinen vorerst letzten, übriggebliebenen Weggefährten in einen nahegelegenen Stall, um ihn dort für die Zeit seines Aufenthalts anzubinden.
Während seine, ebenfalls hier untergebrachten, Artgenossen schnaubten und wieherten, legte Pats Gaul eine fast schon stoische Gelassenheit an den Tag. Vermutlich war der Gute einfach nur müde.
Sofort tauchte er seine Schnauze in den nächsten großen Behälter mit Wasser und labte sich daran.
Das würde Pat jetzt auch tun. Einen Humpen Bier oder gegebenenfalls einen Becher Wein, bevor er sich ein warmes Bett nehmen sollte. Endlich wieder ein warmes Federbett und erholsamer Schlaf.
Und wenn die Sonne am Morgen wieder aufstieg, ginge seine Reise auch schon wieder weiter.
Hinter der schönen Fassade des nimmerleeren Fasses verbarg sich zwar im Inneren keine zweite ‚Schwarze Katze', doch das hätte auch nicht seinen Erwartungen entsprochen.
Ein junges Mädchen, möglicherweise etwas jünger als er, versuchte gerade ein Kaminfeuer zu entzünden. Dieser war nur spärlich mit Gästen befüllt. Drei betagtere Damen in grauen Schürzen und mit fleckigen Kopftüchern auf ihren Häuptern, hatten direkt zu tuscheln begonnen, als Pat, sein Schwert am Gürtel baumelnd, über die Türschwelle getreten war.
Von dem großen, runden Tisch direkt neben der langen Theke,an dem acht Männer unterschiedlichen Alters saßen, gab es hingegen nur kurze, weniger interessierte Blicke.
Ihre Aufmerksamkeit galt dem Würfelspiel, mit welchem sie lautstark beschäftigt waren.
Pat suchte die vorläufige Nähe zu dem Mädchen. Aus der Nähe konnte er die roten Haare ihrer wilden, nur halb gebändigten, Mähne genauer erkennen.
Als eine der Dielen unter seinen Füßen zu knarren begann, blickte sie kurz zur Seite und zu ihm auf. Sein Lächeln erwiderte sie mit einem verschämten Blick zurück auf die Feuerstelle, vor welcher sie kniete und die sie nun noch intensiver zu befeuern versuchte.
Er löste seinen Schwertgürtel, lehnte seine Waffe gegen die Wand neben ihm und nahm Platz. Sein Rücken nahm die Stuhllehne dankend an. Insgeheim war er froh, sich nicht länger den Sack wundzureiten und andersrum war sein Gaul wohl auch nicht unglücklich darüber, dass er ihn nicht länger durch die Gegend tragen musste.
Erst als er vor tiefer Erleichterung aufatmete, erblickte er einen weiteren Mann, der einige Tische weiter ebenfalls einsam und abseits der anderen Gäste gegen die Wand gelehnt saß. Dieser war ihm bis soeben gar nicht weiter aufgefallen, was angesichts seines Äußeren normalerweise von drohender Blindheit zeugen musste.
Ein alter, ergrauter Kerl mit wirrem, ungepflegtem Bartwuchs und ebenso stürmischem, ungebändigtem Haupthaar. Er trug einen unauffälligen braunen Mantel und vor ihm auf dem Tisch lag ein waldgrüner, verbeulter Hut. Als ob er spürte, dass Pat ihn gerade anstarrte, blickte er unvermittelt auf. Ihre Blicke trafen sich. Ungläubig riss der alte Mann die Augen auf, so als würde er diesen nicht trauen können.
Just in diesem Moment unterbrach das rothaarige Mädchen ihren kurzen Blickkontakt, indem sie sich aus der Hocke erhob und sich die Schürze an der Stelle ausklopfte, auf der sie soeben noch gekniet hatte. Tatsächlich, es knisterte mittlerweile in dem Kamin.
Mit gesenktem Blick trat sie anschließend an seinen Tisch heran und erkundigte sich mit leiser Stimme, ob er etwas essen und trinken mochte.
„Rieche ich hier Eintopf?", fragte er, was sie bejahte. Noch immer wirkte sie völlig verkrampft, beinahe wie ein schüchternes Kind. Ein zarter Hauch von Rosa lag dabei über ihrem Gesicht.
„Dann geh und bring mir eine Schüssel davon. Und auch einen Krug Bier", schob er hinterher.
Das Mädchen vollführte einen kurzen Knicks und huschte davon, hinter die Theke, wo sie einem Mann, vermutlich der Wirt, etwas ins Ohr flüsterte und anschließend hinter einer Tür verschwand.
Ganz hübsch war sie ja, wenn er es sich recht überlegte, aber was machte er sich vor? Auch wenn das Schwert in seiner Hose mehr denn je nach etwas Hübschem verlangte, so würde er dieses schüchterne Ding doch sowieso nicht herumkriegen. Nicht in der begrenzten Zeit, die ihm noch blieb.
Musste er doch morgen in der Früh weiterreiten, um rechtzeitig sein Ziel zu erreichen.
Ein Schatten schob sich vor das Kaminfeuer und brachte Pat dazu aufzuschauen. Der Ergraute, mit dem er bis eben noch einen äußerst unangenehmen Blickkontakt gehalten hatte, trat an seinen Tisch heran.
„Mein Junge", sagte er nur und lächelte Pat, mit schiefem Mund, auf eine groteske Art und Weise an.
Ungefragt zog er den hölzernen Stuhl der gegenüberliegenden Tischseite unter diesem hervor und setzte sich schwerfällig nieder. Seine dünnen Fingerchen zitterten auffallend und, so schien es, unaufhörlich.
„Kenne ich Sie, mein Herr? Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?", fragte Pat nach. Er war sich sicher, das Gesicht noch nie zuvor gesehen zu haben, dennoch gab es für ihn keinen Grund ihm nicht zunächst einmal mit Freundlichkeit zu begegnen.
„Mein Junge", wiederholte der Alte nur wieder und lächelte weiter vor sich hin, ohne dem Gesagten etwas hinzuzufügen.
Spätestens jetzt hätte Pat ja vermuten können, es hier mit einer alten Saufnase zu tun zu haben, denn nicht viel anders verhielt dieser sich, doch in seinem Atem roch er weder Wein noch Gerstensaft.
Vielmehr stieg ihm ein strenger Geruch von Bitterblatt in die Nase.
Vielleicht mochte er ja auch nur ein paar Münzen von ihm, um sich überhaupt erst ein paar Schluck leisten zu können. Pat, ohnehin nicht in der Stimmung sich weiterhin mit dem Mann zu befassen, kramte daraufhin in dem kleinen Beutel, den er an seinem Gürtel baumeln hatte, um dem Alten ein paar Münzen schenken zu können, um sich so seine Ruhe zu erkaufen.
Von seinem alten Freund und einstigen Weggefährten Kune hatte er gelernt, dass es immer besser war zwei Beutel von dem wertvollen Vorrat mit sich zu führen.
Einen Offensichtlichen für die Beutelschneider, in dem man nur wenig mit sich führte und einen für die eigentlichen Reserven. Diese versteckte er allerdings nicht in einem zweiten Beutel, sondern unter Stoffeinlagen in seinen Stiefeln, was kein auffälliges Klimpern verursachte und andererseits auch seinen Gang nicht beeinflusste.
Gerade in dem Moment, als er seinem Gegenüber drei Münzen überreichen wollte, bemerkte er, dass dessen Lächeln verschwunden war. Stattdessen stierte der Mann mit seinen glasigen, roten Augen ins Leere. Ja, er reagierte nicht einmal mehr auf Pats Gesten, weder auf die Münzen, die er ihm anbot, noch als er mit Auf- und Abbewegungen seiner Hand überprüfen wollte, ob der Alte überhaupt noch etwas von seiner Umwelt wahrnahm.
Hilfesuchend blickte Pat sich um, doch niemand schien sie zu beachten. Schon die Tatsache, dass es zu dieser ungewollten Bekanntschaft gekommen war, empfand er als sehr unangenehm. Da er nun nicht einmal mehr ihr äußerst einseitiges Gespräch fortsetzen konnte, entschloss er sich kurzerhand dazu, an einem anderen Tisch Platz zu nehmen.
„Du musst Nara beschützen", murmelte der alte Mann und ließ Pat, der gerade wieder sein Schwert an sich nehmen wollte, innehalten. Was hatte er da gerade gesagt? Er löste seinen Griff von seiner Waffe und drehte sich zurück, um seinem, aus der Starre gelösten, Gesprächspartner in die Augen zu blicken.
„Wen soll ich beschützen?", hakte er ungläubig nach. Pat kannte nur eine Nara und diese war immerhin schon seit hunderten von Jahren tot.
„Mein Junge", wiederholte sich der alte Mann zum bereits dritten Mal, führte den angefangenen Satz dieses Mal jedoch zu Ende, „Nara braucht dich. Das gute Kind wird uns sonst holen. Oh weh, oh wei, dann ist's vorbei."
Das dümmliche Grinsen kehrte auf sein Antlitz zurück und dieses Mal begann er schließlich laut zu lachen. So laut, dass selbst die Würfelspieler verstummten und sich allesamt neugierig zu Pats Tisch umdrehten.
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