21 - Aasgeier (3)
Damit hatte er Recht. Terek war zugegen gewesen, als man die beiden Schläger abgeführt hatte. Ja, er war es sogar gewesen, der die Wachen anwies, sie endlich von hier wegzuschaffen. Zu diesem Zeitpunkt nahm er schließlich noch an, dass die Schuldfrage nicht mehr gestellt werden müsse. Doch musste sie das wirklich? Nach den Ausführungen Herzfressers schwebte nun ja immerhin noch eine zweite Darstellung des Vorfalls über seinem Kopf.
Krähen belügen sich nicht. Wie stand es mit dem Hohepriester der Mutter, seinem Auftraggeber?
„Eure Männer haben Euch von der Frau erzählt?", stellte Terek die nächste Frage und hoffte damit eine bestimmte Reaktion des Befragten hervorzurufen. Dessen Mimik blieb unverändert, doch nickte er zumindest, was zu der nächsten, der entscheidenden Frage führte: „Was haben sie Euch erzählt?"
„Es ist nichts Verwerfliches daran zu finden, sich zu einer Hure zu legen", konterte Herzfresser förmlich. Und es schien, als habe Terek den Mann nun endlich da, wo er ihn haben wollte. In der Defensive.
„Die Mutter bezeichnet die Hurerei als eine Sünde", platzte nun wieder Yilbert in das Gespräch.
Damit hatte er nicht Unrecht, doch „Ihre Stellvertreter sind da offenbar anderer Meinung", wie die erwiderte Antwort korrekt lautete. Sande Hoers'Mosmumtu selbst hatte jenes Gebot, kurz nach dem großen Krieg, außer Kraft gesetzt. Eine seiner ersten Amtshandlungen, einst mit Wohlwollen in der einfachen Bevölkerung aufgenommen. Viele, wie eben auch Yilbert und Terek selbst, waren hingegen weiterhin davon überzeugt, dass es lediglich ein geduldetes, da notwendiges, Übel darstellte.
„Ihr mögt richtig liegen", erstickte Terek die erneute Wortmeldung seines Stadtverwalters mit erhobener Hand in dessen Richtung. Yilbert mochte vorrübergehend eine Art Vertreter seiner rechten Hand sein, doch war es Terek sehr recht, wenn er für den Rest dieser Unterhaltung schweigen würde. Yilberts Art der Gesprächsführung führte nämlich zu nichts, wie er nicht erst jetzt bemerkte.
„Dennoch ist es ein Verbrechen, wenn Eure Männer nicht für die in Anspruch genommenen Dienste bezahlen wollen", erklärte Terek noch einmal, was eigentlich für jedermann selbstverständlich sein sollte. Herzfresser war kein dummer Mann. Weshalb also mimte er hier den Ahnungslosen?
„Da ich die Richtigkeit meiner Informationen nicht bezweifle", fuhr Terek fort, „weiß ich, dass die beiden Eingekerkerten tatsächlich von einem Schutzmann der, von ihnen besuchten, Dame attackiert wurden. Allerdings rechtfertigt dies nicht, dass er deshalb beinahe totgeschlagen wird."
Auch wenn man keine sichtbare Veränderung seiner Mimik erkennen konnte, so sah Terek doch in Herzfressers Auge, wie dort leichter Zorn aufflammte. Hatte er wirklich geglaubt, er wisse nicht Bescheid? Der große Malto ließ nicht umsonst in allen Straßen Emorhors wachsam die Augen offenhalten.
„Der gute Mann sollte sich glücklich schätzen, noch am Leben sein zu dürfen", lautet die Antwort, bei der Terek nicht wirklich wusste, ob er nun deswegen überrascht sein sollte.
Er musste sich vielmehr über sich selbst wundern. Für eine kurze Zeit stolzierte er doch tatsächlich mit der Annahme durch Emorhor, er habe lediglich seine Stadtwache aufgestockt.
Tief in ihm drin schlummerte jedoch die ganze Zeit über das Wissen, dass sie alle, egal wie sie sich nannten, ob Krähen, Füchse, Schwerter oder Brüder, sie eben nichts weiter waren als Sünder.
Kriege erfüllten ihre Herzen mit Freude, denn sie brachten Gold und Blut. Ihr Lebenselixier.
Herzfresser, mittlerweile wieder in entspannter Sitzposition, die Lehne seines Stuhles in seinem massigen Körper vergraben, stierte erwartungsvoll in Richtung des Hohepriesters, dessen Antwort erwartend.
Anscheinend wirkte dieser gar so irritiert auf ihn, dass die Krähe sich genötigt sah, seinen soeben geäußerten Standpunkt zu ergänzen: „Die Blutkrähen stehen an Eurer Seite und werden all Eure Feinde besiegen, die da draußen vor den Mauern Emorhors warten. Ich möchte nicht, dass es in diesem Punkt zwischen uns zu Missverständnissen kommt."
Als hätte Terek dies ernsthaft bezweifelt. Die Blutkrähen waren bekannt für ihre Unerbittlichkeit im Kampf. Das entscheidende Kriterium, weshalb er sie überhaupt angeheuert hatte. Mit genau solchen Männern musste er sich gegen Schwarzträne stellen und wenn er sich innerlich noch so dagegen sträubte.
Worauf aber wollte Herzfresser hinaus? Weshalb sein Lächeln? Mit seinen Worten hatte er schließlich nur allzu deutlich gemacht, wie er über Tereks Entscheidung dachte. Dass ihm seine beiden Männer, tief unter der Erde, in einem dunklen Kerker, wenig Freude bereiteten.
Hier stand ein großes Aber im Raum, schwebte über ihren Köpfen wie eine reife Gigantenfrucht, die sich zum Verzehr bereit aus ihrer Baumkrone lösen und einem von ihnen beim Aufprall den Schädel zerschmettern würde.
Der Söldner fuhr sich mit seiner Hand über den massigen Bauch, kratzte sich knapp unterhalb einer der zahlreichen verkrusteten Wunden und bemerkte beinahe beiläufig: „Wollen wir daher ernsthaft, wo wir doch Hand in Hand gegen die Feinde der Mutter zu kämpfen gedenken, über die Bezahlung einer dreckigen, ehrlosen Hure streiten?"
Langsam und schwerfällig hievte er sich im zweiten Anlauf wieder auf die Beine, richtete behutsam seine verrutschte Hose und klatschte sich anschließend zufrieden zweimal mit seiner Rechten auf den nackten Bauch.
„Draußen sollte mittlerweile rabenschwarze Nacht herrschen. Über unseren Köpfen so dunkel, wie in Euren Kerkern. Morgen früh wird sich der alte Gott unserer Vorfahren wieder über den Rand der Welt bequemen und uns erleuchten. Er wird uns seine unbarmherzige Wärme spenden, sowie einen weiteren Tag in unserem Leben schenken.
Und wenn er sein Tagewerk verrichtet und sich wieder in sein Bett unter unseren Füßen verkriechen wird, dann werden meine beiden Männer frei sein. Auf das Geheiß des Stellvertreters des neuen Gottes."
Gerade im Begriff zu gehen, schickte Terek der Oberkrähe eine unmissverständliche Aufforderung zum Bleiben hinterher. Was bildete sich dieser Koloss von einem Mann nur ein? Wen glaubte er vor sich zu haben, dass er so mit ihm redete?
Yilbert, der Großmeister der Empörung, war mittlerweile gänzlich verstummt und anlässlich jener, ja man musste hier schon von einer Drohung sprechen, leichenblass verfärbt.
Auch Terek erhob sich nun von seinem Platz. Seine beiden Wachen stellten derweil mit gekreuzten Speeren sicher, dass Herzfresser den Raum nicht verlassen konnte. Angesichts dessen machte dieser auch keine Anstalten seinen Gang weiter fortzusetzen. Lächelnd drehte er sich zu Terek um, hielt dabei schützend die Hände vor seine Brust: „Wollt Ihr mich jetzt etwa auch in den Kerker werfen, weil Euch nicht passt, was ich sage?"
Die Krähe spottete über ihn, bemerkte Terek. Er benahm sich somit wie seine tierischen Artgenossen, die oft genug die Menschen verlachten.
„Alle Krähen unterm Himmel sind schwarz", mochte Nobossop einst gesprochen haben. Eine der wenigen Einschätzungen, mit denen er im Nachhinein Recht behalten sollte, auch wenn er damals wohl eine andere Menschengruppe damit meinte.
Terek näherte sich dem Mann, der zwar wesentlich breiter daherkam, aber kaum mehr Länge als er selbst maß. Durch seinen forschen Schritt versetzte er die beiden anderen Speerträger, die ihn begleitet hatten, in höchste Anspannung, welche nun drohend ihre Waffen auf den Söldnerhauptmann richteten.
Herzfresser hingegen konnte dies alles nicht aus der Fassung bringen. Nicht Terek direkt vor seinem Gesicht, nicht die vier Speerspitzen, die beinahe bedrohlich in Richtung seines Halses und Kopfes zeigten. Regungslos wartete er ab, was passieren würde. Sein Rubinauge leuchtete hell, schier aufmerksam in seiner Augenhöhle, während sein lebendes Auge ein eher bedrohliches Funkeln offenbarte. An seinem Gürtel glitzerten die blankpolierten Messer.
Terek hatte keine Angst. Sein Gegenüber mochte unverschämt und egoistisch sein. Gefährlich, ohne Zweifel, aber kein unbeherrschter Narr, der in dieser Situation eine seiner Klingen ziehen und in Tereks Fleisch rammen würde, um anschließend sein Herz herauszuschneiden und es zu fressen. So wie er es, dem Gerede zufolge, bei gegnerischen Anführern zu tun pflegte.
Ob er es täte, wären sie alleine im Raum?
„Ich werde Euch nicht in den Kerker werfen lassen", sagte Terek, „doch werdet Ihr sicher nicht einfach so gehen! Wir haben noch Gesprächsbedarf."
Wieder dieses Grinsen, doch wagte Herzfresser es nicht, mehr als seine Gesichtszüge zu bewegen.
„Ihr habt mich vermutlich schon wieder missverstanden, oh mein Herr. Wir haben nichts mehr zu bereden. Wenn Ihr die Hure bezahlen wollt, tut es. Ich werde nicht eine Münze an dieses Weibsbild verschwenden. Ungeachtet dessen sind wir auf derselben Seite, wie wir festgestellt haben. Wir sind schließlich allesamt Kinder der Mutter. Stimmt ihr mir zu?"
Für Terek war es mittlerweile zweitrangig, was die beiden Blutkrähen verbrochen hatten. Dass ihr Hauptmann unverblümt deren Freilassung forderte, erregte sein Gemüt im Moment weitaus mehr.
Ebenso wie sein Gerede über die Mutter, so als könne er damit irgendwelche verspielten Sympathien zurückgewinnen.
„Was passiert, wenn Eure Männer auch die kommende Nacht in den Zellen unter der Erde verbringen? Ihr wollt mir doch nicht ernsthaft Bedingungen stellen ohne mir mit Konsequenzen bei Nichterfüllung zu drohen."
Sein Ton klang schärfer, als noch vor einigen Sekunden. Er spürte wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Wie bei einem wilden Tier, in dessen Revier jemand eindrang. Ein Gefühl, welches er normalerweise verabscheute. Erinnerte es ihn doch an seine sündhaften Tage als junger Mann.
„Ich drohe nicht", lautete die lapidare Antwort der Krähe, während sich ihre Blicke wie Dolche trafen. Ernsthaftigkeit war auf das Gesicht des Söldners zurückgekehrt: „Stellt Euch vor, Ihr ersteht einen Korb mit frischen Datteln auf dem Marktplatz. Ihr esst davon und genießt die Süße. Doch bald erfüllt Fäule Euren Mund. Nicht alle Früchte waren so frisch, wie Ihr es möglicherweise erwartet habt. Was tut ihr? Geht Ihr zu dem Händler und beschwert Euch? Was würde dieser tun? Er würde Euch erklären, dass es völlig natürlich ist auch mal eine faule Frucht zu erwischen und dass er Euch deshalb nicht einen Teil des Preises erstatten wird. In Eurem Zorn, aufgrund unerfüllter Erwartungen, werft Ihr jedoch einen seiner Helfer in den Kerker. Glaubt Ihr nun, dass Ihr daraufhin noch weitere Geschäfte mit dem Händler abschließen werdet? Oder wird er sich künftig auf eine andere Route begeben? In Zeiten des Hungers sind er und seine Datteln schließlich überall willkommen."
Mit Mühe unterdrückte Terek das Brodeln in seinem Kopf, bevor es sich in irgendeiner gewaltigen Form entladen konnte. Nur zu gerne hätte er auch das Oberhaupt der Blutkrähen in ein dunkles Loch werfen lassen. Das Ergebnis eines solchen Handelns war für ihn jedoch schwer bis gar nicht abzuschätzen. Einhundertzweiundneunzig führungslose Krähen in seiner Stadt waren ein nicht einschätzbares Risiko. Nein, er durfte jetzt auf keinen Fall aus der Emotion heraus entscheiden.
Der Weg des geringsten Widerstandes hingegen, war das zu tun, was Herzfresser forderte.
Es war die berüchtigte Wahl zwischen Erbrechen und Durchfall.
„Ihr beleidigt mich, wenn Ihr denkt, dass ich den guten Dattelhändler einfach weiterziehen lasse. Sind doch seine Früchte die Süßesten", gab Terek mit ruhiger Stimme zurück.
Daraufhin hörte er ein japsendes Geräusch hinter sich ertönen, welches seinen Ursprung bei Yilbert hatte. Dieser schien so gar nicht einverstanden mit den Worten, die an seine Ohren drangen.
Wie konnte er auch, wenn er mitanhören musste, wie der Hohepriester der Mutter gegenüber einem schmutzigen Federvieh klein beigab?
Welche Meinung Yilbert Zur'Konyett zu diesem Thema besaß, interessierte ihn im Augenblick ganz und gar nicht. Terek lächelte. Ein Lächeln, welches Herzfresser zu verwirren schien. Er konnte es deutlich sehen.
„Ihr habt zwei Möglichkeiten. Entweder Ihr geht und sucht Euch eine neue Hand, von der Ihr picken könnt. Ich werde Euch nicht aufhalten. Oder aber bleibt hier und Emorhor wird die Besoldung der Blutkrähen, weiterhin sicherstellen. Selbstredend abzüglich Eurer beiden Männer und jedes Weiteren, der bei ihnen landen wird. Doch seid Euch gewiss, dass wenn ihr unser Gespräch als Anlass für Ersteres nehmt, wir dennoch ein letztes Geschäft abzuwickeln haben, so zwischen Dattelhändler und Käufer."
In seinen letzten drei Worten schwang dann leider mehr Spott mit, als ihm lieb war.
Die Irritation blieb dem Söldner ins Gesicht geschrieben. Er mochte ein guter Redner sein, wo auch immer er sich diese Fähigkeiten im Laufe der Zeit angeeignet hatte. Allerdings nutzte Rhetorik alleine nicht viel, wenn man seinen Gesprächspartner, wie in Tereks Fall, unterschätzte und das verbale Ergebnis letztendlich nur ein schön anzusehendes, aber bröckliges, undurchdachtes Konstrukt darstellte.
„Nachdem wir die Krysari aufgehalten und den Zorn der Mutter über den Befreiern ausgeschüttet haben, werden wir uns anschließend ausgiebig den schwarz-gefiederten, blutigen Aasgeiern widmen, die in schwerer Stunde den Entschluss fassten, neue Routen beschreiten und der Mutter den Rücken kehren zu müssen, weil sie keinen Funken Ehre im Leib haben. Und was ganz wichtig ist: Den beachtlichen Sold, den Emorhor ihnen ausschüttet, haben sie anschließend auch nicht mehr in den Taschen. Und wer in Namun bezahlt schon besser als die Stellvertreter der Mutter?"
Zwar versuchte Herzfresser weitestgehend die Fassung zu wahren, doch das nervöse Zucken seiner Mundpartie verriet Terek, dass er soeben den finalen Hieb ausgeführt und den entscheidenden Treffer gelandet hatte. Mit einem gequälten Lächeln deutete die Krähe eine Verbeugung an und wurde anschließend, ohne weitere Worte, von Tereks Wachen nach draußen begleitet.
Yilbert saß währenddessen immer noch wie angewurzelt auf seinem Platz und bekam, vor lauter Staunen, den Mund nicht mehr zu. Der neue Terek schien auch ihn zu überraschen.
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