20 - Der Mann in Lumpen (2)

Sie leitete die Sitzung mit einer Rede über Münzen und Arbeitskräfte ein und dass das Eine nicht ohne das Andere zu haben wäre. Solche Themen langweilten Di. Viel lieber spitzte er bei den Diskussionen um den fremden König aus Namun die Ohren. Geschichten über ihn und seinen Verbündeten, den Hohepriester der Mutter, klangen für ihn, wie geradewegs einem Buch aus Gunnet Bohns' Sammlung entsprungen.

Doch er war heute nicht das Gesprächsthema und so tauchte Di wieder in die Welt der tausend Inseln ein. Neben zahlreichen Berichten der Seemänner, fanden sich auch einige Zeichnungen zu fantastisch anmutenden Tieren und Pflanzen darin wieder.

Vögel mit Schnäbeln, größer als ihr Kopf. Katzenartige Wesen mit riesigen Zähnen, die wie Hörner aus ihren Mäulern ragten. Sie waren dargestellt unter baumartigen Riesen, die Blätterkleider trugen, welche augenscheinlich aus kleinen Speeren zu bestehen schienen und manche von ihnen wuchsen offensichtlich nicht gen Himmel sondern neigten sich seitwärts in die Länge, wie übergroße Arme.

Auf den Bildern wirkten die Inseln wie eine ‚Zweitwelt' über den Nebeln.

Sehr interessant fand er auch die Aussage des Kapitäns des ostländischen Handelsschiffes ‚Salzmaid', der neben seinem langen und komplizierten Geburts- auch den kurzen Rufnamen ‚Möwentöter' trug. Dieser erzählte kurz vor seinem Tod von einem riesigen, feuerspeienden Dämonen, der weit draußen im Ozean auf einem Eiland lauere. Als sein Schiff in einen heftigen Sturm geraten und mehrere Tagesreisen zwischen sich und die nördlichsten der tausend Inseln gebracht hatte, sei dieser hinter dem Horizont aufgetaucht.

Möwentöter, angeblich berühmt dafür ohne Furcht gelebt zu haben, habe an jenem Tage zum ersten und letzten Mal in seinem Leben Angst verspürt und sich nach seiner Rückkehr auf das Festland in Pirma in ein verfrühtes Grab gesoffen.

Di glaubte nicht an derlei Schauergeschichten. Vielmehr interessierte ihn, was wirklich da draußen, hinter Namun, hinter den tausend Inseln, auf die Seefahrer wartete. Egal bei wem man sich danach erkundigte, auch über die Frage nach dem, was westlich von Venua oder südlich des gefrorenen Kontinents läge, lautete die Antwort stets „das Ende der Welt". Ein riesiger, endloser Wasserfall, der in eine schwarze Dunkelheit hinabstürzt und alles und jeden mit sich reißt, der ihm zu nahe kommt. Schon wenn man ihn nur aus der Ferne vernehme, ein polterndes, kaum zu ertragenes Donnern, wäre es bereits zu spät. Dann nämlich befände man sich schon in seinem Sog, aus dem keine Umkehr mehr möglich sei. Das erschien ihm durchaus glaubhafter als ein Dämon, der Feuer spuckte. Doch wenn er es sich recht überlegte, musste er sich fragen, wie sich irgendjemand über das Ende der Welt sicher sein konnte, wenn niemand je von dessen Existenz berichten konnte?

Er bemerkte nicht, wie die Zeit verging und so kam es ihm vor, als wären nur wenige Augenblicke vergangen, als die Regentin auch schon wieder die Sitzung schloss und sich eilig, schnellen Schrittes, aus dem Saal zurückzog. Ihre beiden Wachen begleiteten sie hinaus. Di tat vom Sitzen immer ein wenig der Hintern weh. Dennoch nicht auszudenken, wenn er, wie die Palastwachen, den ganzen Tag im Stehen zubringen müsste. Diese Männer besaßen offensichtlich Beine aus Eisen, dachte er sich.

Er musste noch einige Augenblicke warten, bis sie endlich den Heimweg antreten konnten. Shrink hatte ihm mit erhobener Hand klargemacht, noch ein wenig zu warten, damit er sich noch einmal in Ruhe mit Gunnet Bohns unterhalten konnte.

Das letzte Gespräch, welches er zwischen Beiden mithören konnte, endete mit der Feststellung, dass der Tod des Regenten, angesichts des Königs von Namun, zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen sei. Man musste nur ein wenig weiterdenken, um dies als Zweifel an der Regentin und ihrer Eignung für ihre Position zu deuten.

Seit der Prozession war mittlerweile einige Zeit vergangen. Ob sich die Meinung der beiden Männer mittlerweile geändert hatte, konnte er nicht sagen. Die Erwachsenen teilten sich ihm schlichtweg nicht mit. Die einzigen echten Gesprächspartner, die er in dieser Stadt je hatte, waren Paky und Maus gewesen.

Über Ersteren musste er immer wieder nachdenken. Das Paky, nach seiner Tat, nicht einfach zurückkehren konnte, war für Di verständlich. Das er aber nicht einmal den Kontakt mit ihm suchte? Es gab so viele Gelegenheiten dazu. Wenn er nur an die Händlerstadt dachte, so gab es dort viele Möglichkeiten sich im Geheimen mit ihm zu treffen. Di wusste zwar, dass Paky in einem Dorf, ganz in der Nähe der Hauptstadt, zusammen mit sieben Geschwistern, bei seiner kranken Mutter lebte. Wo genau das allerdings sein sollte, schien damals für beide Jungen keine Information von Belang zu sein.

Ihm würde es ja schon reichen, wenn er nur wüsste, dass es Paky gut ginge.

Thumas Mittagessen, welches sie daheim erwartete, war überaus schmackhaft, was auch der alte Mann anerkennend erwähnte. Selbst auf Lob reagierte der Blondschopf jedoch nur mit versteinerter Miene, brachte aber immerhin ein leises, dahingenuscheltes „Danke" hervor.

Derartige Wertschätzung war Di nie entgegengebracht worden, was ihn ein wenig ärgerte.

Zumal Rekard und Mulwig ebenfalls begeistert schienen von dem, was der Neue ihnen aufgetischt hatte. Grunzend und schmatzend schoben sie sich Bissen um Bissen in ihre gefräßigen Mäuler. Anscheinend ihre Art zu sagen, dass es ihnen schmeckte.

Würde Di sich derart zu Tisch gebaren, wäre ihm eine Rüge seines Geldgebers sicher. Nicht so die beiden Söldner, denen viele Freiheiten gewährt wurden, was sie dem alten Mann mit Loyalität zurückzahlten.

„Ein wahrhaft köstliches Mahl. Überaus schade, dass nicht genügend Platz in mir vorhanden ist, um noch mehr davon unterzubringen", bemerkte Bohns, als er überaus zufrieden klingend sein Besteck Beiseite legte und sich über die kleine Wölbung unter seiner Robe strich, wo sich sein Bauch befand.

„Nach dieser Gaumenfreude verlangt es mir nach einem Schläfchen. Wer wäre so freundlich mich in meine Gemächer zu führen?"

Sofort war Thuma von seinem Stuhl hochgefahren und stand aufrecht wie ein Speer an ihrem Tisch. Sein Blick nach wie vor ausdruckslos.
Als ob der alte Mann es spüren oder gar riechen konnte, manchmal wunderte man sich darüber, wie seine anderen Sinne das Sehen ersetzten, sprach er den Jungen direkt an: „Sehr nett von dir, Thuma."

So langsam wurde der Neue ein wenig lästig. Nicht nur, dass er noch immer keinen Ton mit ihm gesprochen hatte, ihn praktisch wie Luft behandelte, so drängte er sich nun auch noch bei Gunnet Bohns in den Vordergrund. Sie würden wohl keine Freunde mehr werden.

Während auch Rekard und Mulwig vom Tisch aufstanden und nach draußen gingen, blieb Di zurück und durfte sich mit Aufräumen und Abwaschen beschäftigen.

Die Schlafenszeit zur Mittagsstunde würde er heute nicht auf den tausend Inseln zubringen.

Nein, er würde sich erneut auf die Suche nach Maus machen.

Nachdem er nun schon so einige Male vergeblich in der Händlerstadt nach ihm Ausschau gehalten hatte, war er nun entschlossen auch in die anderen Teile von Venuris vorzudringen.

Vielleicht würde es Tage, Wochen, schlimmstenfalls gar Monate dauern.

Sein Gefühl sagte ihm aber, dass er ihn um Hilfe bitten musste, auch wenn ein anderer Teil in ihm noch immer davor zurückschreckte.

So verließ er nach getaner Arbeit das Anwesen Bohns' um seine freie Zeit ausgiebig zu nutzen.
Mulwig, der sich vor der Eingangstüre aufgebaut hatte, um dort seinem Wachdienst nachzukommen, war mehr am Dösen, als das er wirklich wachte. Weder er noch Rekard störten sich daran, wenn er das Haus verließ. Ohnehin war es beiden egal, was er oder Thuma taten, solange sich für sie hieraus keine zusätzliche Arbeit ergab.

Um die Mittagszeit waren in der Händlerstadt die Besuchermassen des Vormittags größtenteils abgebbt und sollten erst mit dem beginnenden Nachmittag noch einmal einen letzten Schub erhalten. Trotz dessen herrschte hier wohl immer noch mehr Leben als in jedem anderen Teil der Stadt.

Jetzt hätte sich für Di auch endlich einmal die Gelegenheit ergeben, einem Schauspiel über ostländische Männer und Frauen in ihren Federkleidern, die gerade einen fröhlichen Gesang angestimmt hatten, beizuwohnen.

Ein Lied über einen verirrten Seemann, der einer ‚Truhe voller Liebe' hinterherjagte und dafür die ganze Welt bereiste. Eine Reise, die Di gerne als Zusehender mitgemacht hätte.

Stattdessen führte sein Weg ihn östlich des Markttrubels, durch mehrere, wenig belebte Seitenstraßen hindurch. Der Glanz der Marktstände und Läden sowie der Klang der Musik und des Gesangs gingen auf seinem Weg immer mehr verloren. Tristesse kehrte in die einfarbigen, grauen, braunen und schwarzen Fassaden ein, deren einzigen zusätzlichen Farbtupfer von Schmutz und Dreck und tiefgrünem Moos herrührten, welches viele Fassaden befallen hatte. Auch die lieblichen Düfte wichen mehr und mehr den weniger schönen Gerüchen dieser Welt. Das Stimmengewirr des Marktes war zu einem leisen Gemurmel verkommen, welches von zwielichtigen Gestalten ausging, die er auf seinen Wegen traf. Manche beobachteten ihn aus den Fenstern ihrer Häuser, andere standen oder saßen am Wegesrand, unterbrachen ihre Gespräche und sonstigen Beschäftigungen, als sie Di kommen sahen. Alle starrten sie ihn an, als handele es sich bei ihm um einen zweiköpfigen Hund, der gerade in ihre sonst so normale Welt eingedrungen war. Sehr darauf bedacht diese Menschen nicht durch unnötige Blicke zu erzürnen, hielt er seine Augen auf den Weg gerichtet, doch ab und an war er förmlich dazu gezwungen jemanden länger als von Nöten anzustarren.

So zum Beispiel bei einem baumlangen Mann, der auf einen dicken, knorrigen Stock gestützt durch die Straße humpelte. Unterhalb seines rechten Knies war nichts weiter als ein großer, schmutziger Verband aus Stofftüchern und sein lautes, fortwährendes Röcheln klang ebenfalls nicht sehr gesund.

Ein weiteres Mal sah er eine ältere Frau, die vor einer finsteren Seitengasse auf und ablief. Als sie Di von Weitem erblickte, zögerte sie kurz, riss sich anschließend ihr zerfleddertes Hemd auf und entblößte ihre wenig ansehnlichen Brüste: „Na, mein Kleiner? Für ein paar deiner Münzen mache ich dich zum Mann."


Di beschleunigte seine Schritte. Die Frage, ob es eine gute Idee gewesen war hierherzukommen, stellte sich ihm erst gar nicht, denn er kannte die Antwort.

Er machte einen weiteren Schwenk in eine enge Seitengasse. Unter seinen Füßen hörte er bei jedem seiner Schritte das plätschernde Geräusch von Wasser, doch dem Geruch nach zu urteilen, handelte es sich hierbei nicht um gesammelte Regengüsse.

Dieser Teil der Stadt war unheimlich dicht bebaut. Beinahe wie ein Labyrinth aus Häusern und Gassen, die wie Pilze aus dem Boden schossen jedoch im Gegensatz zum goldenen Ring oder dem schwarzen Hort eher wie zusammengeflickte Steinhaufen aussahen, denn wie fachmännisch errichtete Bauten.

Noch jedenfalls würde es ihm keine Probleme bereiten, den Weg zurück zu finden. Doch wie wäre das, wenn er noch tiefer in dieses verwirrende Netz aus Straßen eindringen würde?

Ratten kreuzten fiepend seinen Weg. Sie waren wohl die einzigen Geschöpfe, die sich hier ernsthaft wohlfühlen konnten. Die struppigen und teilweise abgemagerten Katzen, die Jagd auf sie machten, witterten wohl auch nur die fette Beute inzwischen dieser kalten, drögen Mauern und den Holzverschlägen.

Von Weitem vernahm er nun allmählich die laute Stimme eines Mannes. So, als würde dieser jemanden anschreien. Auch wenn er sich innerlich dagegen sträubte, folgte er der Stimme.

„Sei ein Mann und keine Maus", sagte er leise zu sich. Die einzige Maus, die hier keine Angst verspüren würde, wäre die aus den Gassen. Ein Junge, kleiner und jünger als er. Was für ein Bild gäbe Di ab, wenn er, größer, älter, stärker, hier Furcht zeigen würde? Er ballte beide Fäuste, um sich Mut zu machen und setzte seinen Weg fort. Je näher er dem vermeintlichen Gebrüll kam, desto klarer wurden die Worte.

Er schnappte etwas von „neue Zeit" und „der eine Gott" auf.

Endlich erschien ihm das Ende der überaus engen und dunklen Gasse, nachdem er eine weitere Biegung um eine mit Efeu bewachsene Ecke eines Hauses genommen hatte.

Dahinter bot sich ihm der Anblick eines kleinen Menschenhaufens von vielleicht dreißig oder vierzig Personen, welche dicht zusammen gedrängt vor einer weiteren kleinen Seitenstraße standen. Dort lauschten sie dem Mann, der zu der lauten Stimme gehörte und der auf einem Fass oder einer Kiste über den Köpfen seiner Zuhörer thronte.

„Was wird der eine Gott uns geben, wenn wir ihn nicht ehren?", rief der erhöht stehende Mann der Menschentraube zu. Ein hellhäutiger Jüngling in einer verblichenen, grauen Robe, kaum ein Haar im Gesicht, dafür allerdings mit einer schiefen Nase, die er sich irgendwann wohl einmal gebrochen haben musste. Unter seinen Arm klemmte eine Pergamentrolle.

„Wieso soll er für uns die Barmherzigkeit bereithalten, wenn wir uns seiner Huldigung verweigern?"

Verhaltene Zustimmung von einigen Männern und Frauen, vereinzelter, leiser Protest auf der anderen Seite. Der junge Mann zeigte mit dem Finger drohend Richtung Süden: „Dort sitzt sie hinter ihren prunkvollen Wänden. Die letzte Nachkommin des Mannes, der uns unseren Glauben genommen hat. Eine ebensolche Gottlose."

Di war ein wenig verwundert über die harschen Worte des Robenträgers. Wenn er von einer Nachkommin sprach, so konnte es sich dabei wohl nur um die Regentin handeln.

Mit bebender Stimme fuhr der Jüngling fort: „Mit Zorn wird er uns antworten, denn wir haben ihm Früchte voller Zweifel gesät und dennoch hoffen wir auf ein gerechtes Urteil vor seinem Gericht?"

Einige lachten laut auf, wovon sich der Redner jedoch unbeeindruckt zeigte.

„Der Glaube mag auch unter denen sein, die jetzt lachen und spotten. Doch auch denen die glauben, kann ein Platz in der Verdammnis zuteilwerden. Dort könnt ihr dann mit dem roten und dem schwarzen Palu faules Fleisch speisen und Pech trinken und ihnen anschließend die Ärsche dafür küssen. Die verlausten Kinder der Muttertöle haben mehr Ehre in ihren Leibern. Wir hingegen sind faul geworden und sonnen uns in der Verantwortungslosigkeit, die uns die roten Rebellen gebracht haben."

„Halts Maul" und „Scher dich weg" garniert mit entsprechenden weiteren, wüsten Flüchen schallte es nun aus der Menschenmenge. Ein Gegenstand verfehlte nur knapp den Kopf, des zusammengezuckten Jünglings.

„Gottlose Brut", schwappte es als Antwort aus dem mutmaßlichen zweiten Lager der Menge zurück.

Und ehe Di sich versehen konnte, gingen die Menschen untereinander auf den jeweils anderen los, der nicht der eigenen Meinung war. Ein wildgewordener, prügelnder Mob erwuchs in Windeseile aus der Ansammlung. Di wich ein wenig in die enge Gasse zurück, aus der er gekommen war, um nicht auch noch in das Handgemenge hineingezogen zu werden, da stieben die Ersten auch schon wieder auseinander.

Wildes Fußgetrappel näherte sich und bevor auch die restlichen Raufbolde merkten, was gerade geschah, erreichten Männer der Stadtwache den Schauplatz.

Eisenhelme schützten ihre Köpfe, Kettenhemde rasselten an ihren Leibern, die schweren Stiefel polterten über den Steinboden.

„Haltet den Hetzer", schrie einer der Soldaten und meinte damit wohl den Redner, der plötzlich vor Di auftauchte, ihn am Kragen packte und mit einer kräftigen Handbewegung aus der Gasse zog, sodass er um den Stoff seines Wamses fürchten musste.

Er hatte noch nicht wieder richtig sein Gleichgewicht gefunden, da spürte er auch schon wie im etwas Eisernes in die Seite stieß und ihn zu Fall brachte. Zwei Männer der Stadtwache quetschten sich in die enge Gasse, um dem Jüngling hinterherzujagen. Dabei hatte einer von ihnen Di kurzerhand wie einen dahergelaufenen Hund zur Seite gestoßen.

Den Aufprall federte dieser mit beiden Händen und Knien ab, was glücklicherweise nur ein wenig schmerzte.

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